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Das Sterben und Leiden beenden – jetzt!

Die Bevölkerung Gazas lebt schon lange unter schwierigsten Bedingungen, nach dem 7. Oktober hat sich ihre Lage katastrophal verschlechtert

Von Riad Othman

Drei Männer graben in einem Schutthaufen, überall liegen Holzbalken
Laut UN sind bereits mehr als 45 Prozent der Wohnungen im Gazastreifen beschädigt oder zerstört. Trümmer in Jabaliya am 9. Oktober 2023. Foto: Mohammed Zaanoun / Activestills

Schon vor dem verheerenden Überfall der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppierungen auf Israel, bei dem sie schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübten, stand Gaza nicht gut da. Rund 80 Prozent der Menschen waren bereits 2022 auf humanitäre Hilfe angewiesen. 65 Prozent der Bevölkerung Gazas litten unter Ernährungsunsicherheit, die hohe Arbeitslosigkeit hatte zwei Drittel unter die Armutsgrenze gedrückt. Die Schäden an der zivilen Infrastruktur infolge früherer Kriege und Bombenangriffe konnten wegen der seit 16 Jahren andauernden Abriegelung nie vollständig behoben werden. Die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung UNCTAD kommt in ihrem jüngsten Bericht zu dem Schluss: »Grenzschließungen und wiederholte Militäroperationen haben einen Teufelskreis des wirtschaftlichen und institutionellen Zusammenbruchs in Gang gesetzt, der den Gazastreifen zu einem Fall von Rück-Entwicklung gemacht hat.«

Das war der Zustand Gazas vor dem Beginn der israelischen Bombardierungen in Reaktion auf den Terror des 7. Oktober. Seitdem finden flächendeckende Angriffe auf alle Teile Gazas statt, die bis zur Niederschrift dieses Textes etwa die Hälfte aller Wohnhäuser beschädigt, zerstört oder bis auf weiteres unbewohnbar gemacht haben. 1,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht, so viele wie noch nie in Palästina. Sichere Zufluchtsorte gibt es nicht, bombardiert wird überall.

Die Bevölkerung, von der etwa die Hälfte Kinder und Jugendliche sind, hatte schon keine Perspektive, bevor aus der jahrelangen Abriegelung mit stark reduziertem Waren- und fast gänzlich eingestelltem Personenverkehr eine vollständige Belagerung wurde: Am 9. Oktober ordnete Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant die Abschaltung der Strom- und Wasserversorgung sowie die Einstellung aller Warenlieferungen einschließlich Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff an. Davor kamen täglich im Schnitt 500 Lastwagen nach Gaza. Das war der Bedarf, um eine künstlich klein gehaltene Wirtschaft zu versorgen. Als »humanitäre Geste« der israelischen Regierung wurden bis zum 7. November insgesamt 650 Lkw nach Gaza gelassen. Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das ausgegebene Ziel, die Hamas zu vernichten, ist mit rein militärischen Mitteln kaum erreichbar. Allenfalls erscheint ihre militärische Schwächung realisierbar – aber um welchen Preis?

Die Folgen für die Versorgung der Menschen sind katastrophal. Laut WHO mussten 14 Kliniken ihren Betrieb einstellen. Das Personal der verbliebenen Krankenhäuser muss um das Leben seiner Patient*innen bangen. Ohne Strom funktionieren Inkubatoren, Dialysen und andere lebenswichtige Geräte nicht. Die Lieferung von Treibstoff für die Notstromgeneratoren der Kliniken ist überlebensnotwendig und wird von Israel weiterhin blockiert. Medikamente, Schmerz- und Betäubungsmittel, Antibiotika, Wundauflagen und Desinfektionsmittel sind nicht mehr in ausreichendem Maß vorhanden. Der menschengemachte, akute Wassermangel hat eine hygienisch unhaltbare Situation herbeigeführt, die Patient*innen schon jetzt das Leben kostet.

Das ausgegebene Ziel, die Hamas zu vernichten, ist mit rein militärischen Mitteln kaum erreichbar, denn es wird sie auch nach diesem Krieg weiterhin geben, nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland und Libanon sowie politische Führungsfiguren andernorts. Die mit ihr verbundene Ideologie lässt sich nicht töten. Allenfalls erscheint ihre militärische Schwächung realisierbar – aber um welchen Preis? Um das zivile Leiden und Sterben zu beenden, muss stattdessen eine Waffenruhe verhandelt werden. Alle Geiseln müssen frei gelassen und der uneingeschränkte humanitäre Zugang gewährt werden. Deren Rechte auf Freiheit und Beistand bleiben von Verbrechen der einen oder anderen Seite unberührt. 

Riad Othman

arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

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