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Die Falle schnappte zu

Die seit 2011 gültige Schuldenbremse entzieht der Ampelkoalition ihre Geschäftsgrundlage

Von Ingo Schmidt

Ein großer ovaler Tisch, an dem die Minister*innen der Ampelkoalition freundlich in die Kamera lächelnd sitzen.
Ein Foto aus besseren Tagen der Ampel: Nach dem Haushaltsurteil aus Karlsruhe müssen die Minister*innen erneut zum Rotstift greifen. Foto: Bundesregierung/Guido Bergmann

Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen«, heißt es im Grundgesetz, Art. 109, Abs. 3. Ausnahmen von dieser Regel, sprich: schuldenfinanzierte Ausgaben, sind im Falle von »Naturkatastrophen oder außergewöhnliche(n) Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen« möglich.

Am 15. November erklärte das Bundesverfassungsgericht die Übertragung nicht genutzter Corona-Hilfen in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) für rechtswidrig – ein Urteil, das die Ampelkoalition auf dem völlig falschen Fuß erwischt und Schockwellen auslöste. Wenige Tage später, am 21. November, verhängte Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine Haushaltssperre. 

Rechtlich stellt der KTF ein sogenanntes Sondervermögen des Bundes dar, existiert also außerhalb von Haushalt und Schuldenbremse. Die Namen »Fonds« und »Sondervermögen« klingen nicht nach Kredit und Schulden, aber genau darum ging es bei den per Nachtragshaushalt 2021 übertragenen Corona-Hilfen – der Ermächtigung, Kredite im Umfang von 60 Milliarden Euro aufzunehmen. Nach dem Karlsruher Urteil steht die Bundesregierung vor der Aufgabe, die Ausgaben, die mit diesen Krediten in den nächsten Jahren bezahlt werden sollten, entweder zu streichen oder aus Mitteln des Bundeshaushalts zu finanzieren.

Um etwas Spielraum für die Verhandlungen über den Haushalt 2024 zu schaffen, brachte die Regierung am 27. November einen Nachtragshaushalt für 2023 in den Bundestag ein und erklärte, die Schuldenbremse – wie in den drei Jahren zuvor – aussetzen zu wollen. Wie in den Vorjahren machte die Regierung eine durch Krieg in der Ukraine und Energiekrise verursachte »Notsituation« geltend. Diesmal aber erst gegen Ende des Jahres, kaum zwei Wochen nach dem Urteil zum Nachtragshaushalt 2021. Nicht Krieg und Krise haben die Regierung in eine Notsituation gebracht, sondern die CDU-Fraktion, die gegen den Nachtragshaushalt 2021 geklagt hatte, und das Verfassungsgericht, dass der Klage stattgab.

Die mit der Aufnahme der Schuldenbremse ins Grundgesetz 2009 gestellte Falle hat zugeschnappt. Aufgestellt wurde diese Falle, weil Deutschland von 2002 bis 2005 die im Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU vereinbarte Defizitobergrenze von drei Prozent überschritten hatte. Nach Überwindung der Weltwirtschaftskrise, die 2009 ihren Tiefpunkt erreichte, wurde Finanzminister Wolfgang Schäuble zum Helden von Haushaltsausgleich und Budgetüberschüssen. Diese waren allerdings nicht Folge juristischer Vorgaben, sondern der Nullzinspolitik, die Zentralbanken zur Eindämmung der Krise verfolgten und auch danach beibehielten. 

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Damit war die Refinanzierung bestehender und Aufnahme neuer Schulden zum Nulltarif möglich. Zudem trug die Agenda 2010 Früchte. Gegenüber anderen Ländern sinkende Lohnstückkosten trieben die deutschen Exporte in nie gesehene Höhen. Im Klartext: Die Sanierung der öffentlichen Haushalte in Deutschland trieb andere Länder in höhere Auslandsschulden. Mit Corona und Zeitenwende endeten Nullzinspolitik und Exportkonjunktur. Budgetdefizite und Rufe nach dem Tritt auf die Schuldenbremse kehrten zurück.

Kontrolle und Koalitionsgezänk

Dass die Regierung, um den Nachtragshaushalt 2023 verfassungskonform zu gestalten, nun behauptet, ihre aktuelle Notsituation »entziehe sich der Kontrolle des Staates« zeugt von Hilflosigkeit. Immerhin gehören Bundestag einschließlich der darin vertretenen Fraktionen und Verfassungsgericht zu den Verfassungsorganen des deutschen Staates. Auch wenn man auf solch politisch-juristischen Haarspalterei verzichtet und den Verweis auf Krieg und Krise ernst nimmt, ist die Behauptung, diese seien vom Staat nicht kontrollierbar, fragwürdig. Über die Rolle der deutschen Politik im Vorfeld des Ukraine-Krieges mag man streiten. 

Aber die durch den Krieg ausgelöste Energiekrise geht voll auf das Konto der Bundesregierung, die mit ihrer Entscheidung, vergleichsweise billiges Gas aus Russland durch teure Importe aus den USA und Katar zu ersetzen, eine Explosion der Gaspreise ausgelöst hat. Diese hat sie zwar durch die Energiepreisbremse mit Mitteln aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) – ein weiterer Fonds, der nach dem Karlsruher Urteil in Frage steht – etwas abgefedert, aber damit auch zu ihren aktuellen Haushaltskamalitäten beigetragen. Gleiches gilt für die Wirkungskette steigende Gaspreise – allgemeine Inflation – Zinserhöhungen der EZB – Stagnation von Produktion, Beschäftigung und Steuereinnahmen. Die gestiegenen Zinsen verteuern auch die Aufnahme neuer und die Refinanzierung bestehender Kredite. Für private Haushalte, Unternehmen, aber eben auch für den Staat.

Die Sanierung der öffentlichen Haushalte in Deutschland trieb andere Länder in höhere Auslandsschulden. 

Die Parteien der Regierungskoalition ignorieren ihre Rolle bei der Produktion der Kriege und Krisen, die sie zur Begründung eines abermaligen Aussetzens der Schuldenbremse nutzen. Sie betonen aber ihre jeweiligen, der Sache nach unvereinbaren Prinzipien. Unter dem Beifall des Oppositionsführers Friedrich Merz (CDU) erklärt FDP-Chef Lindner, 2024 werde die Schuldenbremse nicht wieder ausgesetzt. SPD und Grüne, die, als sie unter dem Führungsduo Schröder-Fischer (1998-2005) regierten, noch ganz auf Lindners heutiger Linie lagen, orientieren sich mittlerweile stärker am US-Präsidenten Joe Biden. Ohne staatliche, auch kreditfinanzierte Investitionen sei die ökologische Wende nicht zu machen. Deshalb solle auch über eine Reform der Schuldenbremse geredet werden. Die fortdauernde Subventionierung fossiler Energien ist weitgehend tabu.

Nur an einem Punkt gibt es den ganz großen Konsens: 590 Abgeordnete haben im Sommer 2022 für das Sondervermögen Bundeswehr gestimmt und es ins Grundgesetz aufgenommen. Deshalb wird es in Sachen Aufrüstung kein Sperrfeuer vom Verfassungsgericht geben.

Kriege und Klassenkampf

Damit sind die Prioritäten klar: Die Militarisierung der Außenpolitik wird nicht am Geld scheitern. Welche außenpolitischen Ziele damit erreicht werden sollen, ist weniger klar. Russland und China, die erklärten Gegner, waren bereit, zu den von den USA und ihren Verbündeten geschriebenen Regeln am Weltmarktspiel teilzunehmen. Chinesische Staats- und Parteichefs waren mehr als froh, als ihr Land 2001 in die WTO aufgenommen wurde. Die Präsidenten Jelzin und Putin schlugen eine Mitgliedschaft Russlands in der Nato vor. Keine Frage, für die Herrschenden aller Länder mit Ausnahme jener, die von den USA zu Schurkenstaaten erklärt wurden, war die neoliberale Globalisierung ein profitables Geschäftsmodell. Dass es schließlich auch in seinen Kernländern zu schweren Wirtschaftskrisen geführt hat, heißt nicht, dass die seither erfolgte Militarisierung der Außenpolitik ein besseres Geschäftsmodell für das Kapital als Ganzes darstellt – die Rüstungsindustrie ausgenommen. 

Sicher ist dagegen, dass Aufrüstung, internationale Konfrontation und Krieg sich auf die Klassenkämpfe innerhalb einzelner Länder auswirken. Dabei spielt die direkte Konkurrenz um öffentliche Mittel noch die kleinste Rolle. Verglichen mit den Kalten, und an den Peripherien auch heißen, Kriegen der 1950er, 60er und 1980er Jahre ist der Anteil der Rüstungsausgaben am Sozialprodukt erheblich gesunken. Von weltweit um die sechs Prozent in den 1950er und 60er Jahren auf vier Prozent in den 1980er und schließlich um die zweieinhalb Prozent seit Mitte der 1990er Jahre. An diesem langfristigen Rückgang wird auch die aktuell betriebene Aufrüstung nicht viel ändern. Aber es gibt wieder äußere Feinde. Nicht kleine Schurken wie Osama Bin-Laden, Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi, sondern russische Bären und chinesische Drachen. Gegen sie müssen die Reihen der westlichen Wertegemeinschaft geschlossen werden und Opfer gebracht werden.

Schuldenabbau und internationale Wettbewerbsfähigkeit waren die Schlagworte der ideologischen Mobilmachung im Zeitalter der neoliberalen Globalisierung. Nach den keynesianischen Zwischenspielen zur Eindämmung der Weltwirtschaftskrise 2008/09 und der Corona-Rezession 2020 ist jetzt wieder vom Sparen die Rede. Bei den Sozialausgaben natürlich. Schließlich braucht der Staat Gelder zur Bedienung teurer gewordener Altschulden und für Rüstung und Subventionierung des ökologischen Umbaus. Aber auch, so viel Besitzstandswahrung muss sein, für Subventionen der fossilen Energiewirtschaft. Dazu kommen, nachdem China vom kostengünstigsten aller Standorte zum Sicherheitsrisiko umdefiniert wurde, Subventionen für die Verlagerung von Produktionskapazitäten ins befreundete, wenngleich nicht ganz so kostengünstige Ausland oder, wie im Falle geplanter Chip- und Batteriefabriken, ins Heimatland.

Staatskrise?

Während sich Regierung und Opposition in Sachen Aufrüstung einig und in allen anderen Dingen uneinig sind, macht sich Michael Hüther Gedanken über eine Staatskrise. Hüther ist nicht irgendwer, sondern Direktor des von den Bundesvereinigungen der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Deutschen Industrie getragenen Instituts der Deutschen Wirtschaft. Der organische Intellektuelle des Kapitals par excellence. Er plädiert dafür, den Klima- und Transformationsfonds, dessen Teilfinanzierung aus nicht-genutzten Corona-Hilfen die aktuelle Haushaltskrise ausgelöst hat, nach dem Vorbild des Sondervermögens Bundeswehr in das Grundgesetz aufzunehmen. 

Zudem soll dem grundgesetzlichen Gebot des Haushaltsausgleichs, siehe den eingangs zitierten Art. 109, eine Investitionsklausel hinzugefügt werden. Er hält staatliche Investitionen zur Überwindung der anhaltenden Stagnation und Förderung des ökologischen Umbaus für unverzichtbar. Das ist die programmatische Linie, auf die sich SPD und Grüne vor der Bundestagswahl geeinigt hatten. Nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen wurde sie durch »Schuldenabbau ja, Steuererhöhungen nein«-Lindner in Frage gestellt und nach der von Kanzler Scholz verkündeten Zeitenwende verlassen. Aufrüstung plus Sondervermögen Klima und Transformation und Investitionsklausel im Grundgesetz wären mit SPD und Grünen politisch zu machen – auch wenn eine militarisierte Außenpolitik und ökologischer Umbau der Sache nach unvereinbar sind.

Ob FDP-Chef Lindner sich vom einfachen FDP-Mitglied Hüther auf diese Linie einschwören lässt, ist unsicher. Wenn der organische Intellektuelle des Kapitals in der selbst ernannten Avantgardepartei des Unternehmertums kein Gehör mehr findet und diese Partei um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen muss, ist das eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Das Gezänk in den politischen Überbauten nur ein Ausdruck dieser Krise.

Ingo Schmidt

ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.

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