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Die Einsamkeit der israelischen Linken

Ein Gespräch über die politische Entwicklung nach dem 7. Oktober und beklemmende Reaktionen auf Hamas-Terror und Krieg in Gaza

Moderation: Arielle Angel

Eine Mauer mit Plakaten, auf denen Porträts von Menschen und ein kurzer Text zu sehen sind, darüber steht "kidnapped".
Trauer um die Opfer des 7. Oktober und Trauer um die Opfer in Gaza – warum ist es für viele Menschen so schwer, beide Positionen zu halten? Foto: Yahel Gazit / Activestills

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober fühlen sich viele israelische Linke eingekeilt: zwischen einer globalen Linken, die den Tod israelischer Zivilist*innen herunterspielt oder sogar rechtfertigt, und der eigenen Gesellschaft, die dem Rachefeldzug des Staates in Gaza und der repressiven Härte gegen jede abweichende Meinung weitgehend zustimmt. Für den Podcast On the Nose des linken jüdischen US-Magazins Jewish Currents diskutierte Arielle Angel mit drei Gesprächspartner*innen über die Lage in Israel und die Situation der israelischen Linken nach dem 7. Oktober: Michael Sfard, Menschenrechtsanwalt in Israel; Sally Abed, aktiv in der arabisch-israelischen Basisbewegung Standing Together; und Yair Wallach, Historiker an der SOAS University of London.

Arielle Angel: Als erstes wollte ich euch fragen, wie es euch eigentlich geht.

Michael Sfard: Diese Tage haben mich mit neuen Gefühlen konfrontiert, denen ich als israelischer jüdischer Aschkenasim bisher nicht ausgesetzt war. Das eine ist einfach Angst. Angst vor dem, was wir in Gaza tun werden, Angst davor, was für eine Gesellschaft wir danach haben werden. Aber auch Angst vor der Krise in unserem eigenen politischen Lager. Und Angst vor der unglaublichen politischen Gewalt, die das Land heimsucht. Das zweite neue Gefühl ist, dass ich über jedes Wort, das ich sage und schreibe, tausendmal nachdenke. Ich will sehr präzise sein, und das fällt mir jetzt extrem schwer.

Sally Abed: Ich fühle mich wie betäubt. Vor Ort zu arbeiten, mit Aktivist*innen zu sprechen, war für mich in den letzten Wochen eine Überlebensstrategie. Wir müssen jetzt so viel wie möglich aufrechterhalten. Natürlich habe ich Angst. Natürlich empfinde ich tiefe Traurigkeit. Wir sind die dritte Nakba-Generation, wir fordern die Anerkennung unserer Geschichte, und jetzt fühle ich mich, wie sich meine Großmutter vor 75 Jahren gefühlt haben muss. Wir werden völlig zum Schweigen gebracht. Mir macht die Vorstellung Angst, dass wir es nicht schaffen, aus dieser Situation herauszukommen und hier als Palästinenser*innen als Teil eines gemeinsamen Kampfes weiterzukämpfen.

Yair Wallach: Ich habe fast keine Bilder oder Filme vom 7. Oktober gesehen, auch nicht aus Gaza. Ich kann diese Bilder nicht ertragen. Als jemand, der in London lebt, spreche ich aus der Distanz. Aber ich breche zusammen, wenn ich mich mit palästinensischen Freund*innen unterhalte. Viele von uns haben seit langem vor so etwas gewarnt, aber die Entwicklung zu sehen und das Gefühl der Hilflosigkeit zu erleben, ist schwer.

Ich würde »links« im israelischen Kontext als Milieu definieren, für das die Grundrechte aller Bewohner*innen des Landes zwischen Jordan und Meer ganz oben auf der Agenda stehen – unabhängig davon, welches Modell genau das ermöglichen soll.

Michael Sfard

Ich glaube, wir sollten noch einmal definieren: Wen meinen wir, wenn wir von der israelischen Linken sprechen?

Sally Abed: Es ist tragisch. Noch vor zwei Wochen habe ich über all die Prozesse gesprochen, die im Rahmen der Massenproteste stattfanden. Die Proteste haben die Besatzung als Thema auf den Tisch gebracht, es wurde wieder darüber diskutiert. Das hat es seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Nun stimmen die, die man als liberale Mitte bezeichnen könnte, plötzlich völlig mit der Politik der Regierung überein, als ob die Mobilisierung hunderttausender Menschen gegen diese Regierung nie stattgefunden hätte. Mein unmittelbarer Bezug ist natürlich das politische Lager, das seit Jahren gegen die Besatzung kämpft, aber sehr geschrumpft ist, vor allem, weil Frieden aus dem öffentlichen Diskurs fast verschwunden ist. Daneben gibt es eine israelisch-palästinensische Zivilgesellschaft, die nicht unbedingt politisch ist, die aber sehr dafür eintritt, Solidarität und die gemeinsame Gesellschaft in Israel, in den jüdisch-arabischen Städten und den Gebieten mit gemischter Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Michael Sfard: Ich würde »links« im israelischen Kontext als Milieu von Einzelpersonen und Gruppen definieren, für die die Grundrechte aller Bewohner*innen des Landes zwischen Jordan und Meer ganz oben auf der Agenda stehen – unabhängig davon, welches Modell genau das ermöglichen soll. Aktuell befinden wir uns im Auge des Sturms. Die endlosen Fernsehsendungen, in denen jeder zur Vernichtung des Gazastreifens aufruft, und wer am grausamsten oder gleichgültigsten gegenüber dem Schicksal von Millionen Palästinenser*innen ist, erhält die meiste Sendezeit. Manche haben die aktuelle Situation mit dem Jom-Kippur-Krieg verglichen. Der Jom-Kippur-Krieg hat Israel von einem Einparteienstaat in ein Mehrparteiensystem verwandelt. Ich erwarte eine ähnlich tiefgreifende Veränderung. Aber in welche Richtung? Ich habe keine Ahnung.

Die Gesprächspartner*innen

Sally Abed ist palästinensische Israeli und Mitglied der arabisch-israelischen Basisbewegung Standing Together. Michael Sfard ist Anwalt mit Schwerpunkt auf Menschenrechtsnormen und Kriegsrecht und Autor von »The Wall and the Gate: Israel, Palestine, and the Legal Battle for Human Rights«. Yair Wallach ist Sozial- und Kulturhistoriker. Er ist aus Israel, lebt aber in London und forscht dort zu jüdisch-palästinensischer Geschichte an der SOAS University of London. Arielle Angel ist Chefredakteurin des linken jüdischen Magazins Jewish Currents, das viermal im Jahr erscheint und unter anderem alle zwei Wochen den Podcast On the Nose herausgibt.

Wie würdet ihr die Reaktion der Linken auf die Anschläge beschreiben, nicht nur der israelischen, sondern der Linken insgesamt?

Yair Wallach: Wenn wir zum Morgen des 7. Oktobers zurückgehen, gab es Menschen, die den Angriff als emanzipatorisches Ereignis gefeiert haben. Auch wenn man bei einigen der anfänglichen Bilder, etwa vom Niederreißen des Zaunes, verstehen kann, woher diese Reaktion kam, hätte jeder vernünftige Mensch zu diesem Zeitpunkt zumindest vorsichtig sein müssen. Und es dauerte nicht lange, bis klar war, dass wir es hier mit einem Ausmaß an Gewalt zu tun haben, das wir gegenüber jüdischen israelischen Zivilist*innen seit langem nicht gesehen haben. Ich halte diesen Jubel für eine Offenbarung, denn er zeigt, was diese Leute glauben und welches Modell der Dekolonisierung sie für akzeptabel halten. Er ist auch skrupellos, angesichts der israelischen Regierung und ihrer gewaltigen militärischen Übermacht. Selbst wenn einem israelische Juden oder irgendjemand auf dieser Seite des Zauns egal sind, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass damit der Weg für furchtbare Dinge geebnet wurde.

Für mich hat das auch gezeigt, wie schwach und zerbrechlich das Konzept des Anti-Apartheid-Kampfes bei vielen war, die den Begriff verwendet haben. Es ist nicht nur ein Regime, für dessen Abschaffung sie eintreten, sondern sie sind einverstanden oder nehmen zumindest in Kauf, dass, wenn dies Massenmord an Israelis beinhaltet, es eben so ist. Ein Anti-Apartheid-Kampf kann so nicht stattfinden, denn so wird man die israelische Gesellschaft nicht überzeugen, auch nur ein bisschen Hegemonie aufzugeben. Das ist aber die Voraussetzung, außer man besiegt Israel vollständig. Man muss die Israelis überzeugen, ein Risiko einzugehen und Macht aufzugeben. Wenn die Botschaft lautet: entweder ihr oder wir, werden sie das natürlich nicht tun.

Es gibt immer mehr Erklärungen, in denen die Ereignisse in Gaza zu Recht verurteilt werden und ein Waffenstillstand gefordert, aber kein Wort über den 7. Oktober verloren wird. Man kann aber nicht so tun, als ob nichts passiert wäre. Das ist intellektuell unaufrichtig und unseriös.

Yair Wallach

Eine andere linke Reaktion bestand darin, das Geschehen zu ignorieren. Es gibt immer mehr Erklärungen, in denen die Ereignisse in Gaza zu Recht verurteilt werden und ein Waffenstillstand gefordert, aber kein Wort über den 7. Oktober verloren wird. Immer noch befinden sich 220 Geiseln in Gaza. Es mangelt diesen Reaktionen an grundlegender Integrität und intellektueller Aufrichtigkeit: Die Aktion war richtig? Dann sag es. Sie war falsch? Dann sag es. Aber man kann nicht so tun, als ob nichts passiert wäre. Ich sehe keinen Sinn darin, mich mit Leuten auseinanderzusetzen, die sich so verhalten. Sie sind unseriös.

Ich möchte an einigen Punkten widersprechen. Hinter deiner Beschreibung steht die Annahme, dass Leute, die Bilder vom Niederreißen des Zaunes geteilt haben, a) sofort verstanden haben, was vor sich geht, und b) dass sie darin eine Art Widerstandsmodell sehen, das zum Beispiel zu einer Algerien-Lösung führt, bei der die Kolonisatoren in die Metropole zurückkehren. Mir ist in vielen Gesprächen viel eher ein Mangel an Bewusstsein begegnet. Viele haben keine israelischen Freund*innen und Familienangehörigen, die ihnen schreiben: »Das und das passiert hier gerade.«

Sally Abed: Das verweist auch auf Beschränkungen der pro-palästinensischen Bewegung weltweit, die meiner Meinung nach extrem akademisch und theoretisch ist und sehr weit entfernt von unserem tatsächlichen Leben. Pro-palästinensische Bewegungen in den USA zum Beispiel fragen uns: Warum benutzt ihr nicht konsequent das Wort Apartheid? Warum identifiziert ihr euch nicht als antizionistische Bewegung? Ich denke dann, diese Leute müssen verstehen, dass unsere Mission vor Ort in Israel darin besteht, einen gesellschaftlichen Diskurs aufzubauen, der Menschen überzeugt, die aktuell kein Problem darin sehen, den Gazastreifen platt zu machen, Tausende zu töten und Hunderttausende zu vertreiben. Das ist es, was wir zu ändern versuchen, und das ist so weit entfernt von theoretischen Zugängen zu Dekolonisierung. Das ist auch meine Erfahrung als Palästinenserin hier. In den letzten zwei Wochen war ich auf Beerdigungen, liebe Freund*innen haben Familienmitglieder verloren. Das ist unser Leben. Die Linke hier hat seit Jahren keine wirklichen Versuche unternommen, in der israelischen Gesellschaft den politischen Willen zur Beendigung der Besatzung aufzubauen. Für mich ist sehr verwirrend, wieder Teil dieses Kollektivs zu sein, das aktuell leidet, und zugleich an den palästinensischen Partner*innen festzuhalten. Das ist im Grunde eine unmögliche Position. Ich mache mir große Sorgen, in welche Richtung uns das als Linke führt. Es könnte der komplette Untergang der Linken sein, wenn sie es nicht schafft, relevant und Teil der Gesellschaft zu sein, ohne uns, die israelischen Palästinenser*innen, fallenzulassen.

An welchem Punkt könnte die israelische Linke die palästinensische Linke innerhalb Israels verlieren, und wo könnte sie in der öffentlichen Diskussion verlieren? Wo siehst du die Bruchstellen?

Sally Abed: Ich denke, sie wird die Palästinenser*innen verlieren, wenn sie nicht mit ihnen spricht, wenn sie uns nicht auch den Raum gibt, in dem wir als Palästinenser*innen Teil der israelischen Gesellschaft sind und als politische Partner*innen teilhaben können. Es ist eine extrem schwierige Aufgabe klarzumachen: Ja, sie sind auch Palästinenser*innen. Ja, sie leiden auch, aber ja, sie sind auch Teil der israelischen Gesellschaft, und sie trauern mit uns. Diese Dualität der Erfahrung, daran festzuhalten, darum geht es. Was die israelische Öffentlichkeit betrifft, müssen wir herausfinden, wie wir über Waffenstillstand, über Frieden, über die Besatzung und den Kontext sprechen können in einem Klima, das jede Art von menschlichem Ausdruck, von Trauer über die Menschen in Gaza kriminalisiert.

Michael Sfard: Ihr habt die, gelinde gesagt, problematischen Reaktionen einiger Teile der internationalen Linken angesprochen. Ich bin mir nicht sicher, ob man sie als Linke bezeichnen sollte. Und Sally sprach über jene, die es schwierig finden, in dieser Zeit Solidarität mit Palästinenser*innen zu zeigen. Ich denke, beide Positionen haben etwas gemeinsam. Die Grundfrage ist doch: Sind wir Teil desselben Kampfes? Es geht nicht nur um Memes und schnelle Posts. Es geht um Äußerungen, die gemacht wurden, nachdem alles klar war, und die entweder außer Acht lassen, was mit den israelischen Gemeinden an der Grenze zu Gaza passiert ist, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das sich dort abgespielt hat. Oder die es sogar verharmlosen. Mir ist klar geworden, dass es in dem Lager, das für die palästinensische Unabhängigkeit kämpft, zu dem ich mich selbst zähle, Leute gibt, für die die Idee der Menschenrechte, der Unantastbarkeit des Lebens, der Freiheit und Gleichheit nur Werkzeuge für das Streben nach palästinensischer Unabhängigkeit sind. Für mich ist es genau umgekehrt. Die palästinensische Freiheit ist ein Mittel, um eine Realität zu schaffen, in der alle Menschen zwischen Jordan und Meer gleiche Rechte genießen und ihr Leben frei gestalten können. Wenn wir hier nicht denselben Kampf führen, sind wir nicht im selben politischen Lager. Das Gleiche gilt für die, die sich dem jüdisch-israelischen Friedenslager zugehörig fühlen und plötzlich nicht mehr in der Lage sind zu sagen: Nein, ihr könnt euren Krieg nicht führen, indem ihr Tausende unschuldige Menschen tötet.

Yair Wallach: Einen Teil davon sehe ich als Symptom. Das größere Problem ist der Zusammenbruch der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung, der ein Vakuum hinterlassen hat. Eine Solidaritätsbewegung für Menschen zu bilden, die keine lebensfähige Befreiungsbewegung haben, führt zu den zutiefst falschen Reaktionen, die wir gesehen haben. In diesem Vakuum scheint die Hamas der Hauptakteur zu sein, sie hat das Heft des Handelns in der Hand. Da ist es nicht verwunderlich, dass sogar Leute aus der Linken ihr applaudieren. Dass aktuell ein Vehikel für Transformation fehlt, hat viel mit der israelischen Politik der letzten 30 Jahre zu tun. Aber ohne einen solchen Akteur ist es schwer, sich positiven Wandel vorzustellen.

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Ich bin froh, dass ihr das ansprecht. Was die globale Linke als palästinensische Nationalbewegung sieht, ist in Wahrheit nur ein kleiner Teil des palästinensischen Denkens dazu, was Befreiung bedeutet und wie sie erreicht werden soll. Es gibt eine Menge Palästinenser*innen, die dieses Ereignis als Widerstandsakt oder als Schritt auf dem Weg zur Entkolonisierung sehen. Das ändert aber nichts daran, dass ihr Recht auf Freiheit nicht davon abhängen sollte, wie sie sich die Befreiung vorstellen. Ihr Recht auf Freiheit ist ihr Recht auf Freiheit, Punkt. Wie verhaltet ihr euch dazu, dass diese Ideen in Teilen der palästinensischen Nationalbewegung populär zu sein scheinen? Und wie geht ihr damit um, dass es Menschen in der Linken gibt, die diese Standpunkte stärken?

Sally Abed: Ich hatte noch nie das Gefühl, dass ich so wenig Raum habe, mich zu äußern, dass meine Meinung so sehr erstickt wird. Einerseits bin ich wirklich vorsichtig mit dem, was ich sage, weil wir Massenverhaftungen erleben. Und ich habe ernsthaft Angst, verhaftet zu werden. Andererseits habe ich im Moment das Gefühl, dass es nichts gibt, was ich den Palästinenser*innen im Ausland sagen kann. Ich verbringe meine ganze Zeit damit, Leute zu überzeugen, mit denen ich hier lebe und die mich nicht einmal als Palästinenserin anerkennen. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass die Palästinenser*innen im Ausland, die den 7. Oktober gutheißen und als legitimen Akt der Dekolonisierung und des Widerstands rechtfertigen, sich noch weiter von mir entfernen. Und das ist das Herzzerreißendste.

In dem, was du sagtest, Michael, klingt an, dass nun manche Leute ihr wahres Gesicht gezeigt haben und dass wir nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten können. Aber was ist mit den Koalitionen, die jetzt nötig sind? Viele bezeichnen das, was sich in Gaza abspielt, als Genozid. Wir brauchen eine möglichst breite Koalition gegen diesen Krieg. Wir brauchen alle 300.000 Menschen, die in London auf der Straße sind, und wir können es nicht davon abhängig machen, ob sie immer das Richtige sagen. Wie können wir als globale Linke gegen die Ereignisse ankämpfen, wenn zugleich Spaltungen zunehmen und die meisten Menschen nicht in der Lage zu sein scheinen, beide Positionen zu halten?

Yair Wallach: Ich war nicht auf der großen Demo. Ich war bei der Mahnwache der Frauen in Schwarz, die ganz bewusst nicht Teil der Demo war und die die grundlegend humanistische linke Botschaft hatte, dass Kriegsverbrechen keine anderen Kriegsverbrechen rechtfertigen. Ich kann mich nicht in einem Raum bewegen, in dem das Recht meiner Familie und Freund*innen auf Leben nicht selbstverständlich ist, niemand sollte das tun müssen. Ich kann nicht erkennen, wie gemeinsame Organisierung oder wie Bündnisse möglich sein sollen, wenn es kein grundlegendes Bekenntnis zu gegenseitiger Anerkennung und der Unantastbarkeit menschlichen Lebens gibt.

Michael Sfard: Ich glaube, dass wir nicht den Luxus haben, innezuhalten und erstmal alles intern zu besprechen. Alle nicht-linken Ansätze sind am 7. Oktober komplett in sich zusammengebrochen. Und auch wenn das, was passiert ist, eine schreckliche Katastrophe ist, schaffen solche historischen Ereignisse Risse, und wir als politisches Lager, das nach Wegen sucht, einen Wandel herbeizuführen, der unsere Vision, wie diese Region aussehen sollte, näher bringt, müssen uns sehr schnell neu organisieren, anfangen zu arbeiten und uns auf genau die Werte konzentrieren, an die wir glauben.

Yair Wallach: Ja. Es gibt viele Menschen, mit denen man zusammenarbeiten kann. Menschen aus Gaza zum Beispiel, die im Ausland leben, deren Familien getötet werden, und die absolut moralisch konsequent bleiben, wenn es um Zivilist*innen geht oder wenn es um Antisemitismus geht. Das ist, was mir Hoffnung gibt.

Meine Mutter ist eine starke Frau, eigensinnig, politisch und engagiert. Ich habe noch nie erlebt, dass sie sich derart unterwirft wie nach dem 7. Oktober.

Sally Abed

Sally, zwei Aktivist*innen von Standing Together wurden festgenommen, weil sie Schilder mit der Aufschrift »Juden und Araber stehen das gemeinsam durch« aufgehängt haben. Es gibt willkürliche Verhaftungen und Einschüchterungsversuche. Michael, als Anwalt hast du sicher viele dieser Fälle auf dem Schreibtisch. Könnt ihr darüber erzählen?

Sally Abed: Es passiert so viel. Im Westjordanland werden ganze Dörfer entvölkert, die Siedler jubeln. Oder die israelischen Geiseln in Gaza, die die Regierung nicht zu retten gedenkt. Oder die zehntausenden jungen israelischen Soldat*innen, die nun dort hineingehen, ihre Mütter, die sich Sorgen machen. Wir haben eine Hotline eingerichtet, in der wir rechtliche und emotionale Unterstützung anbieten. Jede menschliche Äußerung, insbesondere von Palästinenser*innen, wird aktuell kriminalisiert. Hunderte Student*innen werden von Universitäten verwiesen, der Leiter einer Krankenhausabteilung wurde entlassen, weil er im Jahr 2021 die islamische Flagge, buchstäblich die Flagge dieser Religion, bei sich hängen hatte und darunter eine Friedenstaube. Vor zwei Jahren hat er das gepostet. Meine Mutter hat etwas gesagt, das mich wirklich zum Weinen gebracht hat. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin, sie hat mit vielen Familien zu tun, die vom 7. Oktober betroffen sind. Sie sagte: »Sally, der Herr leidet, sei still.« Meine Mutter ist eine starke Frau, eigensinnig, politisch und engagiert. Ich habe noch nie erlebt, dass sie sich derart unterwirft.

Michael Sfard: Wir haben ein Maß an politischer Gewalt erreicht, das wir noch nie erlebt haben. Der Journalist Israel Friey wäre fast gelyncht worden, nicht weil er Terrorismus unterstützt oder die Hamas gerechtfertigt hätte, sondern weil er Mitgefühl ausgedrückt und das Kaddisch für die Kinder und unschuldigen Menschen gesprochen hat, die in Israel getötet wurden, aber auch für die Kinder in Gaza. Die israelische Regierung hat in den letzten zehn Jahren Friedensaktivist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen delegitimiert und gegen sie gehetzt. Wir waren schon vor Beginn dieses Krieges in einer sehr schlechten Lage. Jetzt steuern wir auf die schlimmsten Formen von Enteignung, Abschreckung und Ruhigstellung zu. Hier kommen die internationale Gemeinschaft und die jüdischen Gemeinden in aller Welt ins Spiel. Diplomat*innen, Journalist*innen und jüdische Gemeinden können diesen Prozess abdämpfen, indem sie sich zu Wort melden und uns davor schützen, zur Zielscheibe zu werden.

Ein*e Freund*in sagte kürzlich, dies sei das Ende der Beziehungen zwischen der israelischen und der globalen Linken. Gibt es Möglichkeiten, die israelische Linke in diesem Moment zu unterstützen? Gibt es Möglichkeiten, die Gräben zu überbrücken?

Yair Wallach: Ich würde sagen, unterstützt Standing Together, einer der wenigen Lichtblicke in dieser dunklen Zeit, unterstützt B’Tselem, Breaking the Silence, Combatants for Peace.

Sally Abed: Oder juristische Hilfssorganisationen wie Adalah, die sich für palästinensische Bürger*innenrechte hier in Israel einsetzt.

Michael Sfard: Und den Human Rights Defenders Fund, für den ich arbeite.

Yair Wallach: Ich würde außerdem sagen, es ist wichtig, Empathie zu zeigen und konsistent zu bleiben. Linke in Israel müssen darauf bestehen, dass es eine Art von Hoffnung gibt. Das Gefühl der totalen Verlassenheit macht es viel schwerer, das zu tun.

Die Folge »The Loneliness of the Israeli Left« des Jewish-Currents-Podcasts On the Nose, erschien am 26. Oktober auf jewishcurrents.org. Für ak wurde das Gespräch etwas gekürzt und redaktionell leicht überarbeitet. Übersetzung: Jan Ole Arps

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