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Das schmutzige Erbe der Chemieindustrie

Die Umweltschäden von Bayer und BASF werden von der Öffentlichkeit als unvermeidbar hingenommen – dabei gäbe es ökologische Alternativen

Von Klaus Meier

Bild eines Sandstrandes mit Palmenfront und eine Menge Plastikmüll
Die Strände selbst abgelegener Inseln sind heute mit Kunststoffabfällen übersät. Schätzungen zufolge wird es im Jahr 2050 in den Meeren mehr Plastik als Fische geben. Foto: Dustan Woodhouse/Unsplash

Kaum eine andere Branche ist so eng mit unserem Alltag verbunden wie die Chemieindustrie. Ihre Produkte finden sich überall: Autoreifen und -sitze, Lebensmittel- und Getränkeverpackungen, Medikamente, Pestizide oder Smartphone-Gehäuse. Gleichzeitig ist sie eine ökologische Katastrophenbranche mit globalen Auswirkungen. Vorneweg steht die Freisetzung von Kunststoffen in die Umwelt. In der Öffentlichkeit wird seit langem die Vermüllung der Meere mit Plastik diskutiert. Die Strände selbst abgelegener Inseln sind heute mit Kunststoffabfällen übersät. Schätzungen zufolge wird es im Jahr 2050 in den Meeren mehr Plastik als Fische geben. 

Weit weniger im Bewusstsein sind die Mikroplastikfreisetzungen. Das Fraunhofer Institut »Umsicht« hat bereits vor mehreren Jahren in einer umfangreichen Untersuchung festgestellt, dass jedes Jahr allein in Deutschland die unglaubliche Menge von 330.000 Tonnen Kunststoffabrieb in die Umwelt gelangt. Die Hauptursache sind der millionenfache Reifenabrieb, die Emissionen bei der Abfall»entsorgung«, der Abrieb der Kunststoffverpackungen oder die Freisetzung von Plastikfasern beim Waschen von Kleidung. Mikroplastik wird in den Straßen der Städte eingeatmet oder befindet sich in Lebensmitteln und Getränken. Eine Studie im Auftrag der Naturschutzorganisation WWF kommt zu dem Ergebnis, dass jeder Mensch pro Woche fünf Gramm Mikroplastik aufnimmt. Das ist so viel wie eine geschredderte Bankkarte. 

Immer neue Toxine

Die chemische Industrie ist auch dafür verantwortlich, dass immer neue Chemikalien auf den Markt kommen. Dazu gehören beispielsweise Agrarpestizide, Zusatzstoffe in Lebensmitteln und Drogerieartikeln, giftige und langlebige Fluorchemikalien oder Additive in Kunststoffen. 2022 veröffentlichte ein Team von Wissenschaftler*innen eine Studie mit einer dramatischen Warnung: Die Freisetzung dieser Stoffe überschreite mittlerweile eine kritische Schwelle der planetarischen Biosphäre.

Insbesondere werden diese Stoffe mit einer Geschwindigkeit freigesetzt, die die menschliche Fähigkeit zur sicheren Überwachung und Beurteilung übersteigt. So sind Informationen über die potenzielle Toxizität nur für etwa die Hälfte der weit verbreiteten Chemikalien verfügbar. Ein Problem sind Stoffe, die die Wirkung körpereigener Hormone nachahmen, blockieren oder verändern, wie Östrogene, Testosteron, Wachstums- oder Schilddrüsenhormone. Sie werden als endokrine Disruptoren bezeichnet. Dazu gehören unter anderem Kunststoffadditive wie Phthalate, Bisphenole oder Flammschutzmittel, aber auch zahlreiche Pestizide. Diese Chemikalien werden zusammen mit anderen Toxinen in jährlichen Mengen von vielen Tausend Tonnen hergestellt und gelangen dann in die Umwelt. Es gibt zahlreiche ernst zu nehmende Studien, die negative Folgen ausmachten. So können etwa prenatale Schädigungen von Kinderhirnen oder Krebserkrankungen auftreten. Parallel dazu führt der Einsatz dieser Chemikalien zu einem massiven Artensterben bei Insekten und bei in Gewässern lebenden Amphibien.

Hohe Treibhausgasemissionen

Schließlich steht die Chemiebranche auch noch für einen sehr hohen Treibhausgasausstoß. Da sind einmal die Emissionen, die in der Chemieindustrie durch die Produktionsprozesse selbst entstehen. Sie werden auf etwa zwei Prozent der globalen CO2-Freisetzungen geschätzt. Das ist aber bei weitem nicht alles. Hinzu kommen die vorgelagerten Prozesse der Öl- und Gasförderung, die mit erheblichen CO2-Emissionen verbunden sind, und nachgelagert die sogenannten End-of-Life-Verbrennungen von Kunststoffen.

Und schließlich ist noch die Ausgasung von Stickoxiden der auf den Feldern übermäßig ausgebrachten chemischen Düngemittel zu nennen. Studien, die dies miteinrechnen, kommen auf weltweite Treibhausgasemissionen von sieben Prozent, die die Chemieindustrie mit ihren Produkten verantwortet. Das ist etwa die Größenordnung, für die der heutige Flugverkehr steht. 

Die ganzen Fehlentwicklungen der Chemieindustrie werden umso dramatischer, wenn man die Prognosen über ihr weiteres Wachstum berücksichtigt. Laut der Internationalen Energieagentur IEA wird die Produktion der acht wichtigsten Grundstoffchemikalien allein in der Zeit von 2020 bis 2050 um das 1,5-fache steigen, von 693 auf 972 Millionen Tonnen. 

Jeder Mensch nimmt pro Woche fünf Gramm Mikroplastik auf – so viel wie eine geschredderte Bankkarte.

Die bürgerliche Öffentlichkeit begegnet den Auswirkungen der Chemiebranche mit einer bemerkenswerten Ignoranz. Vom bürgerlichen Politikbetrieb werden diese Schäden offenbar als unvermeidbar hingenommen. Sie lassen Bayer, BASF und Co. auch deshalb ungehindert weitermachen, weil sie jeden tieferen Eingriff in die Kapitalinteressen und Eigentumsrechte der Konzerne ablehnen. Dabei wird jede einzelne der angeführten Chemieleckagen in die Umwelt mittelfristig ein Katastrophenszenario zur Folge haben.

Leider beklagen linke und ökologische Kräfte bisher nur einzelne Zustände. Umfassende und systematische Lösungsvorschläge für einen Umbau der Chemiebranche existieren nicht. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass die Chemieindustrie Vorprodukte für fast alle anderen Branchen liefert und daher einen hohen Komplexitätsgrad besitzt.

Propaganda für CO2-freie Produktion

Es ist erstaunlicherweise gerade die Chemiewirtschaft selbst, die Vorschläge für einen Umbau vorgelegt hat. 2019 gab der Verband der Chemischen Industrie (VCI) eine Studie unter dem Titel »Roadmap Chemie 2050« heraus. Einer der darin angegebenen Pfade beschrieb detailliert, wie die chemischen Produktionsprozesse so umgestellt werden könnten, dass die Branche bis zum Jahr 2050 treibhausgasneutral würde. Trotz dieses Fortschritts löste die Roadmap-Studie Irritationen aus. Denn die Treibhausgasneutralität würde danach einen Ökostrombedarf von weit über 600 Terawattstunden (TWh) erfordern. Das übersteigt die heute jährlich in Deutschland hergestellte Strommenge bei weitem. Diese grünen Strommengen allein für die Chemiebranche sind in Deutschland schlicht nicht vorstellbar. Ein echtes K.-o.-Kriterium für den VCI-Umbauplan.

Es stellt sich die Frage, warum eine treibhausgasneutrale Chemieproduktion einen so hohen Stromeinsatz erfordert. Zunächst ist es die hohe Prozessenergie für die mengenmäßig wichtigsten Produkte der chemischen Industrie, nämlich Kunststoffe und Stickstoffdünger. Doch es gibt noch einen anderen Grund: Der größte Teil der Chemie, nämlich die Organische Chemie, braucht zum Aufbau ihrer Produkte Kohlenstoffatome. Allein sie sind aufgrund ihrer Stellung im Periodensystem der Elemente dazu in der Lage, so vielfältige Verbindungen einzugehen, dass eine große, flexible Zahl von Kunststoffen, Farben oder auch Medikamenten entstehen kann. Und dafür setzt die Chemiebranche bisher sehr große Mengen Erdöl, Erdgas und sogar Kohle ein.

Eine stoffliche Alternative gibt es dazu bisher nicht. Die Roadmap des VCI schlägt nun einen Ausstieg aus der Nutzung der fossilen Rohstoffe vor. Ersetzt werden sollen sie durch künstliche Kohlenwasserstoffe. Der Kohlenstoff dafür soll aus Altplastik und der Luft entnommen und in chemischen Prozessen mit Wasserstoff zu synthetischen Ölen (E-Fluids) verarbeitet werden. Daraus würden dann Kunststoffe hergestellt. Die Freisetzung von Kohlendioxid wäre dann am Lebensende der Chemieprodukte nicht größer als die vorher aus der Umwelt entnommenen Mengen. 

Das Problem: Die Herstellung von synthetischen Ölen ist ein unglaublicher Energiefresser und so nicht umsetzbar. Der Verband der Chemischen Industrie hat daher Anfang des Jahres eine überarbeitete Version der Studie mit dem Titel »Chemistry 4 Climate« vorgelegt. Das Neue daran: Für eine CO2-neutrale Chemie sollen »nur« noch rund 300 TWh Strom erforderlich sein, also etwa die Hälfte der noch in der Roadmap genannten Menge. Stattdessen will die Chemiebranche jetzt rund 27 Millionen Tonnen Biomasse zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe verwenden. Zusätzlich sollen 21 Millionen Tonnen CO2 aus der Luft gewonnen und rund sechs Millionen Tonnen Kunststoffabfälle über ein chemisches Recycling wiederverwendet werden. Das sei im Bereich des Machbaren, behauptet der VCI. 

Doch das ist es nicht. Die benötigten Strommengen sind immer noch unglaublich hoch. Kritiker*innen weisen zudem darauf hin, dass ungenutzte Biomasse wie Stroh oder Holzreste in dieser Menge exklusiv für die Chemiebranche in Deutschland gar nicht zur Verfügung steht. Zusätzlich gibt es Begehrlichkeiten anderer Branchen. Die Luft- und Schifffahrt zum Beispiel will damit synthetische Treibstoffe herstellen.

Und auch die Gewinnung von großen CO2-Mengen aus der Luft ist heute ein reines Fantasieprodukt, das extrem viel Energie frisst. (ak 690) Das Hauptproblem der neuen VCI-Studie liegt also darin, dass die irrwitzig hohen Produktionsmengen und die Produkte der Chemiebranche selbst nicht infrage gestellt werden. Der Grund ist klar: Die Shareholder der drittgrößten deutschen Industriebranche möchten nicht auf ihre Profite verzichten. An dieser Stelle steht dann ein großes Stoppschild für den Klimaschutz und die Ökologie. 

Einfache Maßnahmen gegen zu viel Plastik

Allerdings könnte eine Chemistry 4 Climate möglich sein, wenn deutlich weniger Kunststoffe und Stickstoffdünger hergestellt würden. Insbesondere die Verpackungsbranche ist ein Anachronismus. So sind die Geschäfte übervoll mit kurzlebigen Wegwerfbehältern aus Plastik. Es ließe sich sofort eine Reduktion der umlaufenden Plastikmenge erreichen, wenn man eine Pfandpflicht für alle Plastikflaschen einführen würde, also nicht nur für Getränke, sondern auch für Shampoos, Waschmittel oder Reiniger. Dann könnten Kunststoffflaschen in einem solchen Kreislauf mehrere Dutzend Male wiederverwendet werden.

Das wäre aber nur eine mögliche Kreislaufebene. Wenn Flaschen und Verpackungen verschlissen sind, könnte das Material eingeschmolzen und danach neu produziert werden. Das wird als werkstoffliches Recycling bezeichnet. Das geht heute aber nicht, weil die Plastikhersteller die Polymermaterialien, die Additive und die Farben nach Lust und Laune kunterbunt vermischen oder die Kunststoffe verschweißen und beschichten. So landet der größte Teil der Plastikverpackungen zwangsläufig in der Umwelt oder wird verbrannt. 

Es ist eine aberwitzige Illusion zu glauben, dass die zunehmende Plastikverschmutzung durch eine angebliche Konsumentenmacht gestoppt werden kann. Gegen den Widersinn der Plastikverschmutzer hilft nur noch ein scharfes Ordnungsrecht: Verbote, Regeln und Vorschriften. Die Klimabewegung ist gefordert, sich einzumischen und eine Umbau- und Rückbaudiskussion zu entfachen.

Klaus Meier

ist Ingenieur und Hochschuldozent.

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