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»Es wurde aktiv verhindert, dass Menschen evakuiert werden«

Ein offener Brief kritisiert die Untätigkeit der deutschen Politik bei der Evakuierung Kabuls und die Absichten dahinter

Interview: Bilke Schnibbe

Aktivist*innen und Mitglieder der afghanischen Community protestierten vor einem Jahr dafür, dass wesentlich mehr Afghan*innen die Ausreise aus Afghanistan ermöglicht werden muss, wie hier am 21. August 2021 in London. Foto: Steve Eason/Flickr , CC BY-NC 2.0

Ende August zogen die US-Truppen aus Afghanistan ab, die Taliban übernahmen in rasantem Tempo die Regierung. Am Flughafen in Kabul spielten sich Ende August dramatische Szenen ab, Tausende Menschen wollten ausreisen, auch nach Deutschland. Die Politik, allen voran Außenminister Heiko Maas (SPD) und das Auswärtige Amt, gruben die Hacken ein und taten vor allem: nichts. Wie kam es zu dem Desaster? Was ist mit den Menschen passiert, die nicht evakuiert werden konnten? Und wie geht es jetzt weiter? Darüber haben wir mit Hila und Atal gesprochen, die sich an Hilfsaktionen und Protesten rund um die Evakuierung beteiligen sowie den offenen Brief »Luftbrücke nach Kabul jetzt!« unterzeichnet haben.

Wie kam es zu dem offenen Brief?

Hila: Wir haben damit angefangen, für die Evakuierung aus Afghanistan Listen zu führen, haben angefangen, Kontakte zu sammeln, und gleichzeitig haben wir gesagt: Eigentlich ist das gar nicht unsere Aufgabe als Zivilgesellschaft. Es kann nicht sein, dass wir das machen müssen, weil die Bundesregierung und das Auswärtige Amt sich zurückgezogen haben. Deshalb haben wir diesen offenen Brief geschrieben mit ganz konkreten Forderungen.

Atal: Schon zu Beginn, als es darum ging, dass Kabul gefallen ist, wurde schnell klar, wie schlecht die Kommunikation des Auswärtigen Amtes und wie widersprüchlich die Richtlinien bezüglich der Evakuierungslisten waren. Es waren einzelne Personen, Aktivist*innen, kleinere Netzwerke, die in ihrer Freizeit versucht haben, die Informationen so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Für mich ist der offene Brief deshalb auch ein Brandbrief gewesen.

Atal (links) und Hila (rechts). Fotos: privat

Atal und Hila

Atal lebt seit über 10 Jahren in Hamburg. Als Bildungsreferent setzt er den Fokus auch in seinem privaten Umfeld auf den antirassistischen Kampf. Hila ist Bildungsreferentin, Empowerment-Trainerin und Community-Builderin. Gemeinsam hosten sie den Opium-Podcast, in dem sie Kultur und Tradition, aber auch Tabus und Konflikte in der afghanischen Community thematisieren.

Woran lag es, dass die eigentlich vorhandenen Ressourcen, um viel mehr Leute zu evakuieren, nicht genutzt wurden und sich die Politik dann Ende August ganz erschrocken gegeben hat?

Hila: Ich weiß nicht, wie das für die Menschen vor Ort war. Aber ich glaube, hier aus unserer Perspektive war es vorhersehbar. Wir in der afghanischen Community haben das so befürchtet. Deshalb verstehe ich den Diskurs nicht, dass es ja so »plötzlich« war und wir so »überfordert« waren. Wir haben fast leere Flugzeuge zurückfliegen sehen. Es standen genug Menschen am Flughafen, auch viele, die auf den Listen standen. Eine NGO hat versucht, ein eigenes Flugzeug zu organisieren. Die wurden ganz aktiv daran gehindert, dass sie Menschen mitnehmen können. Es kam auch heraus, dass die US-Truppen das Auswärtige Amt aufgefordert haben zu bestätigen, welche Personen sie noch ausfliegen können. Da kam keine Antwort vom Auswärtigen Amt. Es sind so viele Sachen, bei denen für mich mittlerweile klar ist: Das war pure Absicht. Es wurde aktiv verhindert, dass Menschen evakuiert werden. Vor allem um zu verhindern, dass die Leute in Deutschland Asylanträge stellen können, wenn sie direkt nach Deutschland fliegen.

Atal: Mir ist es tatsächlich wichtig, wenn ich die Möglichkeit habe, darüber zu sprechen, diesem Narrativ von Überforderung zu widersprechen. Spätestens im Mai, als die ersten Anträge beim Bundestag eingereicht wurden, dass die Menschen evakuiert werden müssen, spätestens ab da darf sich ein Heiko Maas und eine Bundesregierung nicht mehr rausreden.

Mir ist es wichtig, dem Narrativ der Überforderung zu widersprechen. Spätestens ab Mai kann sich die Bundesregierung nicht mehr rausreden.

Atal

Was ist seit dem Brief passiert?

Hila: Wir haben es nicht bei dem Brief belassen, wir haben auch Petitionen gestartet in verschiedenen Bundesländern, Proteste organisiert. Die Liste ist lang. Was ich nicht weiß ist, was das Auswärtige Amt und die Bundesregierung seitdem gemacht haben. Darüber gibt es keine Informationen.

Atal: Ich kenne Menschen, die Urlaub eingereicht haben, damit sie sich ausschließlich mit diesem Thema auseinandersetzen können. Nicht weil sie gerade die Kapazitäten oder finanzielle Möglichkeiten dafür haben, sondern weil sie gesehen haben, dass sonst einfach nichts passiert.

Hila: Eine Sache würde ich noch ergänzen. Die afghanische Community ist nicht gut organisiert, und das hat viele Gründe. Wir hatten noch nie eine Ruhephase, in der man Dinge hätte aufarbeiten können, die bei uns in Afghanistan und in der Community passiert sind. Es gibt keinen Dachverband, der auf die Politik Druck machen kann. Aber was ich mir gewünscht hätte, ist, dass sich die großen Organisationen, die sich für antirassistische, feministische Arbeit einsetzen, mehr beteiligen. Da hatte ich schon den Eindruck, dass nicht so richtig angekommen ist, wie wichtig das gerade ist.

Im Brief kritisiert ihr unter anderem, dass die Bundesregierung Islamismus verharmlost. Innerhalb der deutschen Linken gibt es ja auch die Kritik, dass Islamismus nicht deutlich genug kritisiert wird, weil man keine rechten Positionen stärken will. Spielt das auch eine Rolle?

Atal: Ich denke schon, dass Islamismus in der linken Bewegung wenig kritisiert wird aus dem Grund, den du genannt hast. Ich glaube aber auch, dass das Thema Afghanistan in linken Bewegungen schon immer unsichtbar war. Das Ergebnis davon sehen wir jetzt. In dem Moment, wo Unterstützung gebraucht wurde, kam sie nicht, weil sich die Leute nicht mit den Forderungen und dem Widerstand in Afghanistan auseinandergesetzt haben. Ich kann mich an ein Gespräch erinnern, in dem jemand meinte, es sei gerade schwer, sich zu Afghanistan zu äußern, weil die Lösung ja nicht sein kann, dass die USA weitere 20 Jahre bleiben und Zivilist*innen töten. Da wurde mir klar, dass die Leute nicht wissen, was die Menschen in Afghanistan eigentlich wollen. Ich kenne keine Afghanin, die sagt: »Ach, die Amis mit ihren Soldat*innen sollen jetzt noch weiter bleiben!« Es gibt zahlreiche dokumentierte Fälle von Menschen, die misshandelt wurden, deren Zuhause zerstört wurde, deren Kinder getötet wurden, Hochzeiten mit Drohnenangriffen zerstört wurden. Keine Gesellschaft will so jemanden bei sich in der Nähe haben. Da dachte ich mir »Okay, wenn wir dort erst anfangen müssen, Aufklärungsarbeit zu leisten« – die Zeit ist gerade nicht da.

Hila: Ich kann die Angst von muslimisch gelesenen Personen verstehen, das Wort Islamismus in den Mund zu nehmen. 9/11 war ein krasser Tag für viele Afghan*innen. Ich glaube, insbesondere Afghan*innen haben da sehr krassen Rassismus abbekommen. Ich sehe das. Trotzdem finde ich es wichtig, dass gerade wir als Afghaninnen, als Musliminnen, in der Lage sind, Islamismus kritisch zu sehen. Die Taliban rufen das islamische Emirat an. Was ist das, wenn es nicht Islamismus ist?

Ich hätte mir gewünscht, dass sich die großen Organisationen, die sich für antirassistische, feministische Arbeit einsetzen, mehr beteiligen. Ich glaube, dort ist nicht richtig angekommen, wie wichtig das ist.

Hila

Die Taliban haben erklärt, dass sie mit der deutschen Regierung kooperieren wollen, und erste deutsche Politikerinnen haben signalisiert, dass sie dafür offen sind. Wie seht ihr das?

Atal: Das Thema hat mehrere Ebenen. Anfang September hat Heiko Maas sich mit dem amerikanischen Außenminister Blinken in Ramstein getroffen. Da kamen schon diese ersten Äußerungen, dass die Taliban sich erst mal beweisen müssen, damit wir mit ihnen kooperieren können. Das sind für mich schon kleine Türöffner. Was gerade auch passiert, ist, dass die Menschen in Afghanistan nicht nur eine Terrorherrschaft durch die Taliban erleben, sondern auch eine humanitäre Krise, weil große Organisationen ihre Gelder einfrieren. Auf dieser Ebene muss es Gespräche geben. Meine Befürchtung ist aber, dass es nicht darum gehen wird, den Afghan*innen zu helfen. Es geht eher darum, dass Afghan*innen dann wieder nach Afghanistan abgeschoben werden können. Sie wissen ganz genau, dass sie jetzt, in dieser politischen Lage keinem*r Afghan*in den Asylantrag ablehnen können. Gerade ist auch Wahlkampf, und die Parteien übertrumpfen sich gerne mit rechten Aussagen. Genau deshalb glaube ich all dem, was da gesagt wird, nicht. Ich weiß nicht, Hila, vielleicht siehst du das anders?

Hila: Nein, nein, gar nicht. Gab es nicht mal so einen Deal: Wir verhandeln nicht mit Terroristen? Und ich denke so: Bin ich die Einzige, die gerade Fernsehen guckt und sieht, mit was für einer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Afghanistan vorgegangen wird? Ich finde das völlig absurd. Und ich bin neugierig darauf, wie die das öffentlich begründen. Wie argumentieren sie jetzt, dass das noch logisch klingt?

Atal: Es wird auch gesagt, dass wir Afghanistan nicht der Türkei oder China überlassen dürfen. Da sind also definitiv auch wirtschaftliche und geopolitische Absichten dahinter. Afghanistan hat eine zentrale Lage in Asien und verfügt über sehr viele Rohstoffe. Jetzt überlegen sie, was sie den Taliban anbieten können, damit es interessanter wird, mit ihnen statt mit der chinesischen Regierung zu kooperieren.

Bundesweiter Aufruf für eine Demo am Auswärtigen Amt.

Wie geht es jetzt weiter?

Hila: Mir ist das absolut wichtig, dass jemand zurücktritt, und ich fordere, dass es Konsequenzen für die Entscheidungen gibt, die getroffen wurden. Das ist nicht nur für die Menschen in Afghanistan wichtig, sondern auch für meine Community hier. Was in Afghanistan passiert ist, ist das Trauma unserer Community auf der gesamten Welt, und dass die Entscheidungsträger*innen zur Verantwortung gezogen werden, ist Teil der Aufarbeitung dieses Traumas.

Atal: Es sind tausende Namen auf den Listen, bei denen niemand weiß, was mit den Menschen passiert ist. Das Auswärtige Amt hat diese Namen und weiß ganz genau, wen sie nicht evakuiert haben. Das können wir nicht einfach in einen Aktenordner schieben, und dann war es das. Es muss aktiv dafür gesorgt werden, sichere Landrouten und Luftbrücken zu schaffen. Und was mir auch sehr wichtig ist: Seit Tagen gehen Frauen in Afghanistan auf die Straßen und kämpfen für ihre Rechte. Ich glaube, Hila, das hast du auch an anderer Stelle geschrieben, und ich finde es sehr treffend: Solange diese Leute den Mut und die Energie haben, auf die Straßen zu gehen und die Stimme zu erheben, können wir hier nicht leise sein und nichts tun.

Bilke Schnibbe

war bis Oktober 2023 Redakteur*in bei ak.