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Der Sieg der Taliban und die neuen Prioritäten des Westens

US- und Nato-Truppen verlassen Afghanistan – die Bilanz ihres Krieges ist verheerend

Von Matin Baraki

Die islamistischen Taliban (hier Kämpfer im Jahr 2012 im Rahmen eines Reintegrationsprogrammes) konnten schlussendlich auch in 20 Jahren und unter Einsatz von 150.000 Soldat*innen nicht besiegt werden. Foto: isafmedia / Wikimedia Commons, CC BY 2.0

Die Niederlage des Westens ist so umfassend, dass sich die Taliban nicht einmal zum Schein an Friedensgesprächen beteiligen müssen. Die ausländischen Streitkräfte ziehen nun nahezu Hals über Kopf ab«, schrieb Peter Carstens am 24. April in der FAZ. Die USA hatten die Taliban für diesen Tag zu einer Friedenskonferenz nach Istanbul eingeladen. Die Islamisten sahen darin keinen Sinn und lehnten eine Beteiligung ab.

Die aktuelle Lage hat sich dramatisch zu ihren Gunsten geändert.* Bereits am 1. Juli 2021 gaben die Taliban bekannt, 80 Prozent des afghanischen Territoriums und 218 von 421 Bezirken unter ihrer Kontrolle zu haben. Sie sind weiter auf dem Vormarsch, haben die Provinz Maidan-Wardak eingenommen und stehen damit buchstäblich vor den Toren Kabuls. Am 6. August 2021 haben sie Saranj, die Provinzhauptstadt von Nimruz im Südwesten Afghanistans, am 7. August die Provinzen Scheberghan und Sarepul sowie am 8. August die Provinz Kunduz (ehemaliger deutscher Sektor) erobert. Ihr neuer taktischer Ansatz funktioniert wie erwartet: Die Soldaten der Afghanischen Nationalen Armee (ANA) wurden aufgefordert, sich zu ergeben. Tausende von Soldaten haben sich bereits den Taliban angeschlossen, ohne dass ein einziger Schuss gefallen ist. Die Kabuler Administration scheint auf verlorenem Posten. Ob sich die Warlords vor der Einnahme Kabuls zusammenschließen werden, um die Taliban zu stoppen, damit es zu innerafghanischen Verhandlungen kommen könnte, steht in den Sternen.

Afghanistans Elite hat längst ihre Dollars auf Banken in Dubai transferiert und sitzt auf gepackten Koffern. Wer kann, verlässt das Land.

Den USA und ihren Nato-Verbündeten ist es nicht gelungen, selbst unter Einsatz von bis zu 150.000 Soldaten, die Taliban zu besiegen. Der Krieg hat in seinen Hochzeiten, in den Jahren zwischen 2001 und 2014, jede Woche 1,5 Milliarden US-Dollar gekostet. Er war auf Dauer nicht mehr finanzierbar. Zwanzig Jahre Krieg haben zudem unvorstellbare Verheerungen angerichtet. Nach einem Bericht des Nachrichtensenders TOLO-TV vom 18. April sollen nach Zählungen der afghanischen und der US-Regierung sowie der UNO 160.000 Menschen seit 2001 ums Leben gekommen sein. Darüber hinaus wurden laut FAZ »66.000 afghanische Sicherheitskräfte, 4.000 internationale Soldaten und 80.000 Islamisten« getötet. Hinzu kommt noch, dass durch die Zusammenarbeit und direkte Unterstützung der Warlords durch die Nato-Länder, Korruption, Vetternwirtschaft, ethnische Fragmentierung und so weiter besonders gut gedeihen konnten. Der gesamte Staatsapparat, sowohl die Judikative als auch die Exekutive, die Legislative wie auch die Sicherheitsorgane, sind durch und durch mit dem Virus der Korruption verseucht. Die Elite hat längst ihre Dollars auf die Banken in Dubai transferiert und sitzt nun auf gepackten Koffern. Wer kann, verlässt das Land.

Joe Bidens Manöver

Die Vorgeschichte dieses Desasters beginnt Anfang der 1990er Jahre: Der oberste Repräsentant der USA, George Bush Senior, verkündete nach Beendigung des US-geführten Krieges gegen Irak Anfang 1991 die »Neue Weltordnung«. Im Rahmen der Greater-Middle-East-Strategie (GME) der Neokonservativen um Bush Junior – Dick Cheney, Paul Wolfowitz und Donald Rumsfeld – sollte die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens, vom Kaukasus bis Nordafrika und von dort bis Bangladesch und zum Hindukusch unter die Kontrolle der Vereinigten Staaten gebracht werden. Die Anschläge des 11. September 2001 in New York boten den geeigneten Anlass, die GME-Strategie umzusetzen. Am 7. Oktober 2001 begannen US-Kampfjets Afghanistan zu bombardieren. Nachdem das Taliban-Regime nach vier Wochen hinweggefegt worden war, zogen die US-Einheiten schon Anfang 2003 weiter nach Irak. Dort war der Krieg noch in vollem Gange, als die Taliban – wieder erstarkt – zurückkamen.

Die USA mussten schließlich ihre Niederlage akzeptieren. Sie haben jahrelang geheim und zwei Jahre offiziös mit den Taliban im Emirat Katar verhandelt und im Februar 2020 – noch unter Donald Trump – ein Abkommen unterzeichnet. Darin haben sie sich verpflichtet, ihre Soldat*innen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Damit zogen die Taliban die USA diplomatisch buchstäblich über den Tisch, und ihre Kapitulation wurde vertraglich besiegelt.

Der neue US-Präsident Joe Biden hatte zunächst den Rückzug bis Ende April 2021 in Frage gestellt. Man wollte mit den Taliban über eine Terminverschiebung sprechen, um »noch ein wenig länger« am Hindukusch bleiben zu dürfen. »Man kann nicht in sechs Wochen mehr als 10.000 Soldaten irgendwie abziehen«, konstatierte am 24. März der Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheitskräfte des US-Repräsentantenhauses, Adam Smith. Wir werden »gemeinsam entscheiden« Afghanistan zu verlassen, »wenn die Zeit reif ist«, sagte ein Vertreter des US-Nato-Botschafters in Brüssel. Am 29. März hob Biden hervor, dass er sich wegen der vereinbarten Frist nicht unter Druck setzen lassen wolle. »Wir werden gehen. Die Frage ist, wann wir gehen«, war seine Haltung.

Doch die Taliban bestanden darauf, dass die USA das Abkommen vom Februar 2020 umsetzen, sonst würden »diejenigen, die sich nicht an das Abkommen gehalten haben, dafür zur Verantwortung gezogen«, wie ein Sprecher der Islamisten per Twitter meldete. Sie kündigten ihre Frühjahrsoffensive an, um damit in diesem Jahr die USA und die Nato zum Rückzug zu zwingen. Es drohte »mehr nach Flucht auszusehen«, wie die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagte. Genau dieses Szenario – ein zweites Saigon – wollen die USA auf jeden Fall vermeiden.

US-Präsident Biden musste nolens volens einsehen, dass die USA in Afghanistan keine Perspektive mehr haben. Am 13. April ordnete er den Rückzug seiner Soldat*innen für September dieses Jahres an. Bis zum 11. September müssen alle US-Einheiten bedingungslos und ohne eine Gegenleistung seitens der Taliban vom Hindukusch abgezogen sein.

Am 1. Mai hat der Rückzug der Nato-Einheiten aus Afghanistan offiziell begonnen. Offen ist, was mit den ausländischen Söldnern, die im Auftrage des US-Geheimdienstes Central Intelligence Agency (CIA) und anderer Geheimdienste der Nato-Länder in Afghanistan im Einsatz sind, passiert. Assadullah Walwalgi, Experte für Militärfragen in Kabul, geht von rund 40.000 Mann aus, die bei etwa 50 verschiedenen überwiegend US-Militärfirmen unter Vertrag stehen und die »Drecksarbeiten erledigen«. Von deren Ab- und Rückzug ist bislang nirgends die Rede.

Neuer Fokus China

In Afghanistan ging es der US-Imperialmacht, ebensowenig wie ihren Verbündeten, darunter Deutschland, von Anfang an weder um Frauen- noch um Menschenrechte. Auch Afghanistan selbst scherte sie nicht. Ihnen waren ihre strategischen Interessen in der Region, die Umzingelung der Russischen Föderation und ein Regimechange in Iran wichtig. Nun haben sich aber die Rahmenbedingungen geändert und damit die Prioritäten der US-Strategie. In absehbarer Zeit wird die VR China die USA ökonomisch, aber auch militärisch, wenn nicht überholen, so doch mit ihr gleichziehen können. Ende 2017 wurde in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA China als »strategischer Rivale« eingestuft.

Afghanistan ist abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig für sie wichtigere geostrategische Region konzentrieren.

Die USA werden versuchen, nun auch unter Präsident Biden China militärisch zu umzingeln und den Aufstieg des Landes zur künftigen Weltmacht mindestens zu verzögern. Schon US-Präsident Barack Obama hatte zum »Pazifischen Jahrhundert« unter der Führung der Vereinigten Staaten aufgerufen – eine Strategie, die eindeutig gegen China gerichtet ist. Dafür haben die USA bereits regionale Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, den Philippinen, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia, Indonesien und der Atommacht Indien geschmiedet.

Der regionale Konflikt um das Südchinesische Meer, von dem China 80 Prozent für sich beansprucht und teilweise schon besetzt hat, könnte von den USA als Hebel für einen größeren Konflikt gegen China instrumentalisiert werden. China beruft sich bei seinem Anspruch auf »bis zweitausend Jahre zurückreichende historische Argumente«. Afghanistan ist vorläufig abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig wichtige geostrategische Region konzentrieren. Der Ort, an dem um die Vormachtstellung gekämpft wird, ist die Region des Pazifischen Ozeans. Die Kräfte in und um Afghanistan werden gerade deswegen abgezogen, um am Pazifik ein Bollwerk gegen China zu errichten.

Und was wird aus Afghanistan? Wir wissen vieles, aber nicht alles über die US-Strategie in und um Afghanistan. Man kann von folgenden Optionen ausgehen:

Erstens: Unmittelbar nach dem Abzug der Nato-Einheiten könnten die politischen und militärischen Eliten das Land verlassen, um sich nicht auf einen möglichen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen. Dann wären, wie schon 1996, die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes.

Zweitens: Würde es der US-Administration gelingen, mit großzügigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Administration zu gewinnen, könnte eine für afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.

Drittens: Gelingt dies nicht, könnte es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg, ähnlich dem von 1992, kommen, in dem Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50.000 Menschen ums Leben kamen.

Matin Baraki

lehrte Internationale Politik an den Universitäten Marburg, Gießen, Kassel und Münster sowie an der FHS-Fulda. Er ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg.

* Der Artikel wurde am 9. August verfasst und berücksichtigt daher nicht die jüngsten Entwicklungen.