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Rechte Kipp­punkte in Ost­deutschland

Die Erfolge in Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz zeigen: Die AfD steuert auf reale politische Macht zu. Auf welche Szenarien muss sich die politische Linke vorbereiten?

Von Friederike C. Domrös und Marcel Hartwig

Ein Aufkleber mit der Aufschrift "FCK AfD" auf einem abgeblätterten Stromkasten im Grünen
Ein Jahr vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg strotzt die AfD vor Selbstbewusstsein. Die »Brandmauer« anderer Parteien gegen eine Kooperation mit der Rechten wird immer brüchiger. Foto: ak

Es läuft gut für die AfD. Umfragewerte im Osten von bis zu 34 Prozent, ein Bürgermeister- und einen Landratsamt errungen, weitere kommunale Ämter bei den Wahlen im Herbst in Aussicht und 2024 drei ostdeutsche Landtagswahlen, aus denen die AfD als stärkste Kraft hervorgehen könnte. Ist allen klar, worum es in den kommenden Monaten geht?

Raguhn (Sachsen-Anhalt), Sonnabend, 1. Juli. Vormittags schenkt Hannes Loth, Kandidat der AfD für das Amt des Bürgermeisters, Kaffee am Infostand aus. Milch? Zucker? Das hellgelbe Kurzarmhemd und die blauen Jeans kleiden AfD-Politiker Hannes Loth in das Gewand eines Gartennachbarn. Der Mann kommt an. Passant*innen winken, bleiben stehen, halten einen Plausch. Wer die Leute fragt, bekommt zur Antwort: »Der Hannes kümmert sich.« Die Anwesenheit von offen extrem rechts auftretenden Personen im Umfeld der Veranstaltungen der AfD in Ostdeutschland fällt vor Ort nur denen auf, die nicht von dort kommen. Ganz rechts, ganz normal.

Am Sonntag, dem Stichwahltag, ist die Parteiprominenz in die anhaltische Provinz gereist. AfD-Parteichef Tino Chrupalla doziert über die Politik, die die AfD für die Menschen mache. Wenig später gratulieren er und Loths AfD-Landtagskollege Daniel Roi dem rechten Lokalpolitiker unter den Augen der zahlreich vertretenen Medien. Die angereisten AfD-Politiker*innen sind regelrecht aufgekratzt: Beifall, laute Rufe, Schulterklopfen, Umarmungen. Alles für Hannes Loth, den ersten hauptamtlichen Bürgermeister mit AfD-Parteibuch.

Hannes Loth, seit 2013 AfD-Mitglied und seit 2016 im Magdeburger Landtag, gilt dort nicht als ideologischer Scharfmacher. Der studierte Landwirt war vor seinem Einstieg in die Politik Geschäftsführer eines Landwirtschaftsbetriebes. Er tritt vor Ort bewusst unideologisch und pragmatisch auf. In der Corona-Pandemie war Loth regionaler Organisator der rechten Querdenken-Proteste und betrieb zugleich ein Corona-Testzentrum, mit dem er dem Vernehmen nach gutes Geld neben seiner Diät als Abgeordneter verdiente. Was in den Medien als Doppelmoral gebrandmarkt wurde, wird Loth in Raguhn-Jeßnitz als bürgernahes Engagement ausgelegt. Er gehe, sagt Loth am Sonntagabend nach der für ihn erfolgreichen Stichwahl, auf alle offen zu. Die Parteizugehörigkeit spiele im kommunalen Kontext keine Rolle.

Diese gewollte Entpolitisierung der Kommunalpolitik ist kein Alleinstellungsmerkmal der AfD, sie wird von CDU und Freien Wählern seit Jahrzehnten genutzt. Nur ist es mit der AfD nun eine extrem rechte Partei, die von der Entpolitisierung und Selbstverharmlosung profitiert.

Mit den Wahlerfolgen in Sonneberg (Thüringen), wo der AfDler Robert Sesselmann Ende Juni zum Landrat gewählt wurde, und Raguhn-Jeßnitz hat die AfD zum ersten Mal Zugriff auf exekutive Macht. Die politischen Handlungsspielräume eines Bürgermeisters und eines Landrates sind auf den ersten Blick klein. Doch im kommunalpolitischen Kontext kann ein*e Amtsträger*in viel Schaden anrichten: bei der Jugendarbeit und der Gleichstellung streichen, die Gangart gegenüber Asylbewerber*innen verschärfen. Zudem ist die Kommunalpolitik ein wichtiges Lernfeld für AfD-Politiker*innen, die in den kommenden Jahren höhere politische Sphären anstreben: Netzwerke bilden, Machtarrangements treffen, Politstrategien ausprobieren, die eigene Person bekanntmachen und politisch profilieren; all das lässt sich in der Kommunalpolitik lernen. Wer es geschickt anstellt, kann sich dort einen Ruf erarbeiten. Kommunalpolitik ist viel mehr als bloßes Verwaltungshandeln samt Umsetzung von Richtlinien und Gebührenordnungen. Hier findet Hegemoniearbeit von unten statt.

Wovon die AfD profitiert

Aus Sicht der AfD stellt der Erfolg bei den beiden regionalen Wahlen den ersten Stein in einem blauen Domino dar, welches in den Regionen, in denen dieses Jahr noch Stichwahlen mit AfD-Beteiligung anstehen, in Gang kommen soll. Zwar ist man sich im extrem rechten Vorfeld der AfD sicher, dass der Sonneberger AfD-Landrat Robert Sesselmann seine politische Agenda nicht eins zu eins wird umsetzen können. Was für die extreme Rechte jedoch zählt, ist das Signal des Erfolgs im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Brandenburg und Thüringen.

Die reine Rhetorik der Brandmauer, mit der Vertreter*innen aller Parteien betonen, eine politische Kooperation mit der AfD sei ausgeschlossen, straft die Realität auf kommunaler Ebene Lügen.

Was lange als Schwäche der AfD galt, nämlich dass ihr die Verankerung in den Strukturen des vorpolitischen Raumes in den Kommunen fehlt, kann sie nun unter Umständen als Stärke einer Nicht-Zugehörigkeit zum Establishment ausspielen. Dabei kommt der Partei zugute, dass die Fähigkeit der Zivilgesellschaft, einen Cordon Sanitaire gegen die Hegemonialbestrebungen der extremen Rechten aufzubauen – so richtig diese Forderung ist –, in Ostdeutschland mit dem Aufstieg der AfD seit 2016 deutlich geschwächt wurde.

Die reine Rhetorik der Brandmauer, mit der Vertreter*innen aller Parteien, vor allem aber der CDU betonen, eine politische Kooperation mit der AfD sei ausgeschlossen, straft die Realität auf kommunaler Ebene Lügen. Vielfältig sind die Beispiele, bei denen in Gemeinden, Städten und Kreisräten immer dann gemeinsam mit der AfD abgestimmt wird, wenn es anderen Parteien darum geht, kleine Vorteile zu erzielen oder Machtverhältnisse zu zementieren. Hinzu kommt, dass die Mandatsträger*innen der CDU der AfD vor Ort lebensweltlich und habituell oftmals näherstehen als der SPD, den Linken oder gar den Grünen. Der AfD kann im kommunalen Kontext kaum noch ausgewichen werden. Umso wichtiger ist es, alles zu vermeiden, was die politische Agenda der AfD stärkt. Dies vor Ort gegen den Druck der Normalisierung der AfD durchzuhalten, ist eine Herkulesaufgabe.

Der Rausch des Aufstiegs

Die innerparteiliche Euphorie ist in der AfD angesichts der derzeitigen politischen Ausgangslage kaum noch zu bremsen. Statements von Funktions- und Mandatsträger*innen der Partei in Ostdeutschland erwecken den Eindruck, von Sonneberg aus sei es nur noch ein Katzensprung zur Machtbeteiligung in den ostdeutschen Bundesländern. Das kann man als Propagandafutter für die Anhänger*innenschaft abtun. Zugleich muss man jedoch konstatieren, dass der AfD im Moment politisch nichts zu schaden vermag. Um ihre Umfragewerte zu steigern, muss die Partei derzeit scheinbar nur die Daten und Überschriften ihrer Social Media Posts gegen die Ampelregierung regelmäßig aktualisieren. Es ist die dauerhafte, auch regional kleinteilige Bewirtschaftung von Wut und Ressentiments, die Teil des Erfolgsgeheimnisses der AfD ist. In diesen Formen politischer Vergemeinschaftung kommt ein heterogenes rechtes Milieu zu sich selbst und entfaltet lokale Wirksamkeit, die wiederum Resonanz schafft.

Doch an einen Automatismus des Erfolgs glauben die extrem rechten Ideologieproduzent*innen im Umfeld der AfD nicht. Björn Höcke selbst warnte in den vergangenen Jahren davor, die AfD könne zu schnell zu stark in die Institutionen des Staates eingebunden werden und so ihr oppositionelles Potenzial verlieren, bevor sie wirkliche Zugänge zu Machtressourcen hat. Höcke fürchtet, ein allzu rasches Wachstum der AfD in den Parlamenten werde zu Opportunismus und Karrierismus statt zum angestrebten Systemwechsel führen.

Der ehemalige Kader der Identitären Bewegung, Daniel Fiß, der sich mit Wahlsoziologie befasst, weiß, dass die Partei im Osten zwar eine ansehnliche Kernwähler*innenschaft von gut und gerne 25 Prozent hat. Doch auch diese muss für jede Wahl erneut mobilisiert werden. Dass die Partei bei den Wahlen im Landkreis Sonneberg und in Raguhn-Jeßnitz unter den Bedingungen einer leicht steigenden Wahlbeteiligung bisherige Nicht-Wähler*innen mobilisieren konnte, zeigt das Potenzial, welches es für die AfD zu heben gilt.

Die gut belegten Hinweise auf die Einbindung der AfD in extrem rechte Ideologie und deren personelle Netzwerke scheinen ihre Wirkung im Osten zu verfehlen. Die AfD hat erreicht, was der NPD selbst als Fraktion im sächsischen Landtag verwehrt blieb. Sie ist eine weithin als normal angesehene Partei. Dies ist kein Argument dafür, die extrem rechte Agenda der AfD nicht zu thematisieren. Doch von Kampagnen wie »Höcke ist ein Nazi« zu erwarten, sie könnten Menschen davon abhalten, sich mit der AfD zu identifizieren, übersieht die alltagskulturelle Normalisierung des Rechtsextremismus im Osten.

Veränderungen im politischen Klima

Viel spricht im gegenwärtigen Szenario für ein Sommermärchen für die AfD. Der Druck, den allein Umfragewerte um 30 Prozent auf die im kommenden Jahr zur Wahl stehenden Landesregierungen in Ostdeutschland ausübt, ist immens. Gegen die AfD Regierungsmehrheiten zu bilden, wird selbst dann schwer, wenn die Partei bei den Wahlen »nur« zwischen 26 und 28 Prozent einfahren sollte.

Jenen, die sich gegen die AfD positionieren, fehlt es an regionaler Öffentlichkeit und Reichweite. Die aggressive Kommunikationsstrategie der AfD hat ein Silencing jener zur Folge, die den Kulturkampfparolen der Partei widersprechen und zugleich von ihr als Feinde markiert werden. Sie werden in einer Situation rechter diskursiver Dominanz, die von der Indifferenz einer Mehrheit profitiert, schlicht unsichtbar gemacht.

Eine rechtskonservative Mehrheit in der Kommunalpolitik, die buchstäblich jede Graffiti-Aktion unter Extremismusverdacht stellt, trägt zu einem repressiven Klima gegenüber linken und emanzipatorischen Akteur*innen bei. Beispiele dafür lassen sich zwischen Grimma und Altenburg mühelos finden.

Statt hektisch Kampagnen zu stricken, sollte sich die politische Linke fragen, wie sie sich darauf vorbereitet, dass die AfD in Ostdeutschland alsbald reale politische Macht ausüben wird.

Rechte Dominanzräume bestehen im Osten seit Jahrzehnten. Ihre gewaltvolle Durchsetzung liegt zwei Jahrzehnte zurück. Die neue Qualität besteht darin, dass die AfD in absehbarer Zeit Zugriff auf kommunale Ämter haben wird, in denen sie rechte Hegemoniekonzepte in Macht zu übersetzen vermag. Beides, regionale Diskurshoheit in kommunalen Räumen und die Aussicht auf Macht, führen das politische Klima in einem Landkreis oder einer Kleinstadt unter Umständen an einen Kipppunkt, an dem dann offene Feinderklärungen an eine kritische Zivilgesellschaft und verbliebene linke Akteur*innen zur Existenzbedrohung werden. Die Normalisierung der AfD in Ostdeutschland ist unumkehrbar. Umso wichtiger ist es, die davon ausgehenden Gefahren klar zu benennen.

Was ist das Worst-Case-Szenario?

Niemand sollte sich damit beruhigen, die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg seien noch mehr als ein Jahr entfernt. Die AfD und ihr politisches Vorfeld haben diese Wahlen fest im Blick. Die Weichen werden jetzt gestellt. Neben der Suche nach Möglichkeiten, die AfD in den Regionen einzudämmen und die vor Ort Engagierten zu stärken, muss auch das Worst-Case-Szenario gedacht werden: Wie lässt sich emanzipatorische Arbeit in Ostdeutschland gegen eine AfD in Machtpositionen verteidigen? Statt hektisch Kampagnen zu stricken, sollte sich die politische Linke die Frage vorlegen, wie sie sich darauf vorbereitet, dass die AfD in Ostdeutschland alsbald reale politische Macht ausüben wird. Dies wird ganz konkrete Folgen für aktive Menschen in den Regionen haben, die von der Zerschlagung von Strukturen bis zu direkten Angriffen reichen können.

Es wäre ein wichtiger Schritt, sich jetzt mit Szenarien und Konsequenzen zu befassen und sich dabei keinerlei Illusionen hinzugeben, was geschieht, wenn die AfD Erfolg hat. Je konkreter und realitätsnäher die Szenarien durchdacht werden, desto eher besteht die Möglichkeit, noch vorhandene Spielräume zu nutzen. Was in den ländlichen und mittelstädtischen Orten in Ostdeutschland auf dem Spiel steht, kommt mit Zeitverzug auch in den Metropolen an: Es ist an der Zeit, gut durchdacht, strategisch und langfristig verbindlich zu handeln.

Friederike C. Domrös

war vor und nach der Wende Sozialarbeiterin in einer Mittelstadt in Sachsen-Anhalt. Sie lebt heute im Ruhestand in Schwerin.

Marcel Hartwig

lebt in Leipzig und Halle. Er ist in der Jugendarbeit tätig.

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