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|ak 699 | Geschichte

Eine Gegengeschichte

Walter Rodney schrieb 1972 die Geschichte Afrikas als die einer Ausplünderung, jetzt ist das Buch vollständig ins Deutsche übersetzt

Von Robert Heinze

Ein Mann mit Brille und Lederjacke spricht in ein Mikrofon, dahinter aufgefächert die panafrikanischen Farben, grün, rot, schwarz.
Er war nicht nur ein kritischer Historiker, sondern auch ein radikaler Aktivist: Walter Rodney. Illustration: Melanie Nehls

Von ungefähr 1966 bis 1975 schien Dar es Salaam, die damalige Hauptstadt Tansanias, eines der Zentren der Weltrevolution. Unter dem Präsidenten Julius Nyerere wurde eines der wichtigsten gesellschaftlichen und intellektuellen Experimente in den frisch unabhängigen Ländern durchgeführt. Nyerere hatte einen »afrikanischen Sozialismus« ausgerufen. Radikale Intellektuelle aus der ganzen Welt wurden an die Universität von Dar es Salaam eingeladen und nahmen an Debatten um diesen Versuch teil. Einer der eingeladenen Intellektuellen war der guyanische Historiker und Aktivist Walter Rodney. In seiner Zeit in Dar es Salaam schrieb er an seinem wichtigsten Werk, dem bis heute einflussreichen Klassiker der Geschichte Afrikas: »Wie Europa Afrika unterentwickelte«. Jetzt hat der Berliner Manifest Verlag das Buch in einer neuen, vollständigen Übersetzung auf Deutsch veröffentlicht.

Rodney hatte an der jamaikanischen University of the West Indies studiert und an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) mit einer Arbeit über die Geschichte Westafrikas während der Jahrhunderte des Sklav*innenhandels promoviert. Bereits in seiner Dissertation hatte er die etablierte (europäische) Geschichtswissenschaft herausgefordert, indem er Afrikaner*innen weder als Kollaborateure dieses Menschenhandels noch als einfache Opfer, sondern als eigenständige historische Akteure zeichnete. Dazu zeigte Rodney, welche sozialen Umwälzungen der Sklav*innenhandel in afrikanischen Gesellschaften verursachte.

Aufbruch in Tansania

Durch die gesellschaftliche Aufbruchstimmung wurde die Universität von Dar es Salaam  zu einem Zentrum radikaler Wissenschaft; C.L.R. James, Samir Amin oder Giovanni Arrighi dozierten dort. Rodneys Werk ist ohne diese Atmosphäre kaum zu verstehen. Er war bereits als Historiker wie als Marxist in der englischsprachigen Welt bekannt. »Wie Europa Afrika unterentwickelte« ist Zeugnis der großen intellektuellen Kraft Rodneys, aber auch einer Zeit, in der der Globale Süden eine genuin eigenständige, sich mit den europäischen (liberal-konservativen wie radikal-marxistischen) akademischen Methoden gegen deren eigene Tradition richtende Theorie- und Geschichtsschreibung entwickelte.

In »Wie Europa Afrika unterentwickelte« schreibt Rodney eine alternative Geschichte Afrikas. Nicht nur geht es ihm darum, überhaupt zu zeigen, dass Afrika eine eigene Geschichte hat. Vor allem zeigt Rodney, dass Afrika nie »unterentwickelt« war, sondern dass »Unterentwicklung« kein Zustand, sondern ein historischer Prozess der Plünderung und der Herstellung eines globalen Systems der Ungleichheit ist, ohne den die europäische Expansion und die Herausbildung des Kapitalismus nicht erklärt werden können.

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Das Buch ist eine politische Herausforderung nicht nur an die westliche Hegemonie, sondern auch an die herrschenden Klassen der frisch unabhängigen Nationen nach dem Kolonialismus. Es bleibt eine ideologische Herausforderung an afrikanische Nationalist*innen, aber auch an viele Marxist*innen, deren Idee von Entwicklung ebenso linear war wie die kapitalistischer Entwicklungspolitiker*innen. Das Buch ist auch ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung. Rodney deckt 500 Jahre und einen ganzen Kontinent ab und wechselt dabei mühelos von der Analyse der großen, kontinentalen Entwicklungen zur dichten Beschreibung lokaler Fallbeispiele. Er beschreibt die afrikanische Geschichte aus der Perspektive der Afrikaner*innen, ohne dabei zu unterschlagen, welche sozialen Konflikte sich innerhalb afrikanischer Gesellschaften abspielten.

Auch die vorkoloniale bzw. vorkapitalistische Geschichte analysiert er in marxistischer Methode – damit setzte er sich auch von der Geschichtsschreibung im postkolonialen Afrika selbst ab, die entweder zum Nationalismus oder zu einem eher identitären Panafrikanismus tendierte. Das Buch richtet sich explizit an ein nicht-akademisches Publikum, ist entsprechend flüssig geschrieben und hat keine Fußnoten. Trotzdem achtet Rodney auf sorgfältige Recherche – er wusste nur zu gut, dass eine radikale Geschichtswissenschaft noch gründlicher und genauer in ihrer empirischen Methode und den Nachweisen sein musste als die hegemoniale (weiße, bürgerliche), mit der er an der SOAS konfrontiert gewesen war.

Sklaverei und Expansion

Wie aber hat Europa Afrika nun unterentwickelt? Rodney betont, wie zeitgenössische Autor*innen der Dependenz- und Weltsystemtheorie, die frühe Entwicklung des Kapitalismus in Europa. Als Europäer*innen an der Westküste Afrikas landeten, waren sie militärisch und in vielen Gebieten auch technologisch unterlegen – zum Beispiel waren afrikanische Kanus wesentlich geeigneter, die Flüsse in der Region zu befahren. »Die Macht Europas« lag aber »in seiner Produktionsweise«, die bereits weiter auf dem Weg zum Kapitalismus fortgeschritten war als die gerade in eine dem Feudalismus vergleichbare Produktionsweise eintretenden afrikanischen Gesellschaften. Dennoch betont Rodney, dass dieser Prozess langsam vonstattenging und mit Widerstand oder einfach Desinteresse vonseiten afrikanischer Gesellschaften einherging. Gegen einen Teil der damaligen bürgerlichen Geschichtsschreibung betont Rodney die grundsätzliche Profitabilität des Handels mit Versklavten. Die Frage der Profitabilität wird immer noch theoretisch diskutiert – Rodney bleibt also weiter aktuell. Er betont, dass in diesem Prozess Afrika ebenso zur »Entwicklung« Europas beitrug wie dieses zur »Unterentwicklung« Afrikas, denn dem Profit und der grundlegenden Rolle, die die Ökonomie der Sklaverei in der Herausbildung des Kapitalismus in Europa spielte, steht eine Stagnation – ökonomisch, aber vor allem demografisch – Afrikas gegenüber. Trotzdem betont Rodney, dass Afrika seine Geschichte auch nach dem Kontakt und auch während der brutalen Ausbeutung der Ware Arbeitskraft durch europäische Gesellschaften behielt.

Als Europäer*innen an der Westküste Afrikas landeten, waren sie militärisch und in vielen Gebieten auch technologisch unterlegen

Auch in seiner Beschreibung des Kolonialismus besteht Rodney auf der Handlungsmacht von Afrikaner*innen – die auch jeweils historisch nachvollziehbare Gründe haben konnten, mit den europäischen Kolonisator*innen zusammenzuarbeiten – während er die unterliegenden ausbeuterischen ökonomischen und sozialen Prozesse beschreibt. Er erklärt die Expansion Europas aus einer inneren kapitalistischen Dynamik, die im Imperialismus mündet – die Jagd nach Rohstoffen einerseits, neuen Absatzmärkten andererseits führt europäische Monopolunternehmen dazu, auch außerhalb der nationalen Grenzen nach diesen zu suchen. Palmöl, Erdnüsse, Baumwolle und Kautschuk wurden mit der technologischen Entwicklung zu zentralen Rohstoffen, und Afrika produzierte sie in einem damals schon ungleichen Handel. Rodney betont zudem, dass den Waren Wert durch Arbeit hinzugefügt wird und daher die kolonial erzwungene Arbeitsteilung zwischen europäischen Facharbeiter*innen und afrikanischen »ungelernten« Arbeiter*innen auch in der Ware Arbeitskraft Ungleichheiten erzeugte. Wie sein Mentor C.L.R. James und viele andere marxistische Autor*innen aus dem Globalen Süden besteht er darauf, dass »Rasse« nicht ohne Klasse zu denken ist, aber auch als eigenständiger Faktor nicht unterschätzt werden sollte.

Aktivismus und Theorie

Mit einem Wort des (ebenfalls in der Karibik geborenen) Schwarzen britischen Soziologen Stuart Hall kann man »Wie Europa Afrika unterentwickelte« als »aktiven Text« verstehen, einen Text, der nicht allein in einem akademischen Kontext gelesen werden sollte, sondern eine aktive politische Rolle in ganz unterschiedlichen Kontexten einnahm und immer wieder neue Bedeutungen erhielt. Rodney war selbst nicht nur Akademiker. Als er nach Guyana zurückkehrte, schloss er sich der einzigen linken Oppositionspartei an, die dem zunehmend autoritären und identitär »afrozentrischen« Regime eine klassenbasierte, revolutionäre Solidarität entgegensetzte.

Bafta Sarbo beschreibt in ihrem Vorwort, wie wichtig das Buch für sie selbst wie für viele Afrikaner*innen auf dem Kontinent und in der Diaspora war. Umso wichtiger, dass das Buch jetzt endlich in einer vollständigen Übersetzung vorliegt. Die erste deutsche Ausgabe von 1975 hatte vor allem Rodneys marxistische Analysen der Produktionsweisen und Kritik der europäischen Geschichtsschreibung über Afrika stark gekürzt – eine, wie der Manifest Verlag richtig zeigt, katastrophale Verstümmelung. Drei Vorworte ordnen Rodney in die marxistische Theoriegeschichte und die Geschichte des antirassistischen Aktivismus ein, sie zeigen seine Relevanz für die aktuelle Situation und aktuelle politische Kämpfe in Afrika. Wissenschaftlich haben inzwischen viele Arbeiten grundlegende Thesen Rodneys aufgegriffen, in Details verkompliziert, aber auch heute noch gehen die Debatten, in die Rodney damals intervenierte, weiter. Politisch hat sich an der Kraft und Dringlichkeit seines Werks nichts geändert.

Sein eigenes politisches Engagement bezahlte Rodney mit dem Leben. 1980 starb er durch die Explosion einer Bombe in der guyanischen Hauptstadt Georgetown.

Robert Heinze

ist Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Paris und forscht zur Zeitgeschichte Afrikas.

Walter Rodney: Wie Europa Afrika unterentwickelte. Mit Beiträgen von Bafta Sarbo, Peluola Adewale und René Arnsburg. Manifest, Berlin 2023. 418 Seiten, 20 EUR.

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