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Glänzende Ode

Savvy Contemporary aus Berlin widmet dem Theoretiker Walter Rodney eine Ausstellung und zeigt die Relevanz seines Werkes heute

Von Paul Dziedzic

Bild einer Installation bestehend aus drei Bildschirmen. Rechts ein Tänzer mit Maske und rotem stoff. In der Mitte ein Schlagzeugspieler, rechts ein anderer Tänzer mit Maske
Ein Stück, das nie endet: Kaleta zeigt Verbindungen zwischen brasilianischem Karneval, amerikanischem Halloween und der Zangbeto-Tradition aus Benin: »Kaleta/Kaleta (an excerpt)« von Emo de Medeiros. Foto: Marvin Systermans/Savvy Contemporary

Die große Kraft der Geschichte rührt von der Tatsache her, dass wir sie in uns tragen, in vielerlei Hinsicht unbewusst von ihr gesteuert werden und die Geschichte buchstäblich in allem, was wir tun, präsent ist«, schrieb der Schriftsteller James Baldwin 1965. Dass es vor ihr kein Entkommen gibt, lernt die Bundesregierung, die einer Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Ovaherero und Nama aus dem Weg gehen möchte, gerade noch. Der Berliner Wedding feierte Anfang Dezember wiederum die Umbenennung zweier Straßen, die jetzt statt Namen von Vertretern des Kolonialismus jene von Widerstandskämpfer*innen tragen (Manga-Bell-Platz, Cornelius-Fredericks-Straße).

Die Vergangenheit zieht sich in die Gegenwart. Das wusste schon Walter Rodney, der vor 50 Jahren sein Hauptwerk »Wie Europa Afrika unterentwickelte« schrieb. Wie seine Zeitgenoss*innen und Mentor*innen, wie Frantz Fanon oder CLR James, ging er zurück in die Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen. Rodney tauchte tief in das präkoloniale Afrika, analysierte die Entwicklung der Nationen des Kontinents und auch deren Unterbrechung durch die europäische Expansion. Diesem Werk widmet jetzt der Kunstraum Savvy Contemporary, ebenfalls im Wedding beheimatet, eine Ausstellung.

Der Ausstellungsraum befindet sich in einem alten Supermarkt, umrahmt von großen Fensterfronten. Damit schmiegt sich der Ausstellungsraum in die urbane Landschaft, die ihn umgibt. Drinnen angekommen sind die vielen Eindrücke aufeinander abgestimmt; die Stimme Walter Rodneys, der leichte Geruch von Erde, das warme Licht. Hinter dem Eingang steht zunächst ein Stück kultivierter Erde, aus der ein paar Hirse-Sätzlinge herausragen. Auf dieser Erde verstreut sind rote Chéchia, die Kopfbedeckung der Tirailleurs Sénégalais, senegalesische Soldaten, die als Kolonialtruppen Frankreichs Kriege kämpften. Das Feld trägt nicht nur Leben, sondern repräsentiert auch die Schlachtfelder, auf denen die rekrutierten Bauern starben. Binta Diaws Stück »1.12.44« ist ein Mahnmal für die Ermordeten von Thiaroye, die im gleichnamigen Camp in Senegal vom Kolonialregime festgesetzt waren. Als sie sich gegen die Umstände ihrer Internierung wehrten und ihren ausstehenden Lohn forderten, wurden bis zu 300 von ihnen von der Kolonialmacht ermordet.

Rodney erklärte Unterentwicklung immer in Relation zur Entwicklung. Anders gesagt: Entwickelte Länder sind deshalb entwickelt, weil es Unterentwicklung gibt.

Um Landwirtschaft und Nahrungsmittelsouveränität geht es auch in Munem Wasifs Studie »Seeds Shall Set Us Free II«, bestehend aus Skizzen, Fotos und Archivmaterialien des bengalischen Reisanbaus. Den Akzent setzen blaue monochromatische Bilder von Reiskörnern, die an Indigo-Muster erinnern. Auch das ist ein Verweis auf die gewaltvolle koloniale Vergangenheit und spielt auf den Indigo-Aufstand von 1859 an, als sich Arbeiter*innen von Indigo-Fabriken gegen die Britische Kolonialmacht auflehnten.

Die Themen der Objekte sind vielfältig, ihre Verbindungslinien, über Zeit und Ort hinaus, sind die Erfahrung von Kolonialismus und Kapitalismus: Die künstliche Knappheit und Verschwendung des Kapitalismus (»Land of Coca-Cola and Colgate« von Moffat Takadiwa), die Klassengesellschaft (Rajyashri Goodys »Dalit Recipes« und »Deeksha«), Europas Grenzregime (»Corridor« von Guy Woueté), die enttäuschten Hoffnungen der Unabhängigkeit (»1964-2018« von Syowia Kyambi), das Patriarchat und häusliche Arbeit (»Beyond the Line II« von Kumari Ranjeeta) und die emanzipatorische Praxis des »Kartierens von unten«, wie Marie-Claire Messouma Manlanbiens Karten aus geflochtenem Raffia-Faser.

Bild einer Installation bestehend aus weggeworfenen Zahnpastatuben, Zahnbürsten, Cola-Verschlüssen
Firmen produzieren Überfluss, um den Müll sollen sich andere kümmern: »Land of Coca-Cola and Colgate« von Moffat Takadiwa. Foto: Marvin Systermans / Savvy Contemporary

In der großen Bandbreite an Formen und Themen kommt auch die Philosophie von Savvy Contemporary zum Ausdruck, das sich als Ort der Wissensvielfalt versteht. Die zentrale Frage der Ausstellung ist, wie diese Welt nach der (Unter)Entwicklung aussehen kann. Es ist der Versuch, die Dependenztheorie mit postmodernen Ideen wie der Post-Entwicklungstheorie oder Ansätzen der Degrowth-Bewegung zusammen zu denken. Damit ist die Ausstellung – in Deutschland eine relativ seltene Erfahrung – auf der Höhe der Zeit und reflektiert internationale, akademische Diskurse.

Eine der Qualitäten Rodneys war seine Suche nach gemeinsamem Handeln. Er hatte ein Talent für öffentliche Auftritte. Sein Buch »Groundings with my Brothers« entstand aus den Graswurzelbewegungen, in denen er aktiv war. Die Möglichkeit einer populären Bewegung, wie sie die Archivaufnahmen des Victor Jara Kollektivs zeigen, bleiben gänzlich in der Vergangenheit. Dabei ist die Zeit der Bewegungen, wie die Aufstände von 2019 zeigten, nicht vorbei. Zwar füllt die projizierte Rede Rodneys den Raum und kommentiert fast schon die vielen unterschiedlichen Stücke, auch die Archivaufnahmen aus den bewegten 1970er Jahren in seinem Heimatland Guyana geben Kontext. Doch die Balance kippt mehr in die Postmoderne, als in die radikale Ideenwelt der 1970er Jahre, auch wenn ihre Relevanz noch heute besteht.

Rodney erklärte die Unterentwicklung immer in Relation zur Entwicklung. Anders gesagt: Entwickelte Länder sind deshalb entwickelt, weil es Unterentwicklung gibt. Im Mainstream, selbst in der Entwicklungshilfe, heißt es jedoch, Unterentwicklung sei das Ergebnis von Mangel. Diese Vorstellungen von »Entwicklung« bestimmen im Westen immer noch den Diskurs; beispielsweise in den Spendenkampagnen mancher NGOs, die oftmals auch die rassistischen Erklärungsmuster dieser kolonialen, kapitalistischen Ideologie reproduzieren. Die Stärke Rodneys, die unterbrochenen Pfade aufzuzeigen, das zu zeigen, was gelöscht worden war, um die Unterwerfung der Welt zu ermöglichen, hat viele Menschen inspiriert. Wie, das zeigt die Ausstellung eindrücklich.

Diese Ode besteht aber nicht nur aus der Ausstellung, die noch bis Januar gezeigt wird. Vollständig wird sie erst durch die vielen Veranstaltungen, Diskussionen und Vorführungen, die das Team um den Kurator und Gründer von Savvy, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, zusammengestellt hat.

Die Ausstellung »Unravelling the (under-) development complex or towards a post-(under-) development interdependence. An Ode to Walter Rodney’s ›How Europe underdeveloped Africa‹ 50 years on (1972-2022)« ist noch bis Ende Januar zu sehen. Öffnungszeiten sind Donnerstag bis Sonntag, 14 bis 19 Uhr. Mehr Informationen unter www.savvy-contemporary.com.

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