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»Fressen oder gefressen werden«

Drei neue Romane fordern zur Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Vergangenheit auf 

Von Sebastian Bähr

Foto: Hanser-Verlag, Kiwi-Verlag und Kanon-Verlag

Wenn es nach Jahren der Sprachlosigkeit erste Menschen schaffen, die richtigen Worte zu finden, um erlebtes Leid oder krasse Erlebnisse zu beschreiben – dann kann es passieren, dass andere auch anfangen zu sprechen. In diesem Moment bricht etwas auf. Immer mehr Beteiligte erinnern sich, wollen auch ihre Berichte zum Mosaik hinzufügen, die eigene Biografie bewältigen. Und wenn die gesellschaftlichen Bedingungen stimmen, bekommt das Ganze sogar etwas öffentliche Aufmerksamkeit. Aktuell lässt sich dieses Phänomen im Bereich der Ostdeutschland-Romane erleben.

Nachdem zuletzt das Buch »Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror« von Grit Lemke über das Hoyerswerda der DDR und der Nachwendezeit berechtigt für Furore sorgte, sind dieses Frühjahr nun gleich drei weitere interessante Ost-Romane erschienen. Auch wenn in den Büchern »Nullerjahre« von Hendrik Bolz, »Wir waren wie Brüder« von Daniel Schulz sowie »Aus unseren Feuern« von Domenico Müllensiefen gleichsam die Themen Perspektivlosigkeit, Männlichkeit, Gewalt, Rausch, Liebe und Freundschaft in rauer Sprache verhandelt werden, so gibt es doch auch wesentliche Unterschiede. Die Autoren haben jeweils einen eigenen Beat und Stil, ihre Geschichten spielen in unterschiedlichen Milieus und zu unterschiedlichen Zeiten, die Protagonisten und ihre Cliquen sind doch verschieden. Noch ist das Ost-Romangenre kein Einheitsbrei voller Klischees, eine genaue Auseinandersetzung lohnt sich.

Assoziationen im Stakkato

Zum einen ist da der Roman »Wir waren wie Brüder« des taz-Redakteurs Daniel Schulz, Jahrgang 1979. Einige Monate nach den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz im Sommer 2018 hatte der Journalist einen gleichnamigen autobiografischen Essay in seiner Zeitung veröffentlicht, das Buch baut nun darauf auf. Der namenlose Protagonist wächst in den 1990er Jahren in der tristen brandenburgischen Provinz auf, er ist an der Christenlehre interessiert, nicht besonders cool und ein bisschen dicklich, sein Spitzname lautet »Entenarsch«. Die Mutter verliert durch die Wende im Volkseigenen Gut Pflanzenproduktion ihren Job, der Vater wechselt vom NVA-Offizier zum Versicherungsverkäufer. Viele andere Männer der Gegend haben sich da schon längst zum Trinken an die Garagen zurückgezogen, von der rechten Straßengewalt wollen sie nichts mitbekommen.

Angst und Trauer sind nicht erlaubt, permanente Demütigungen und Schikanen finden selbst unter Freund*innen statt, jede potenzielle Peinlichkeit wird erbarmungslos attackiert.

Der Protagonist selbst ist kein Neonazi, aber etwas opportunistisch. Um halbwegs die Jugendjahre durchzustehen, hält er an Freundschaften mit Faschos fest. Mit ihnen nimmt er mal am aufgeilenden Machtrausch teil, versucht sich andere Male aber auch im kleinen Widerspruch, etwa durch das Tragen von langen Haaren in einer Welt der Glatzen. Verliebt ist er bei alledem in Mariam. Sie verspricht einen Ausweg aus der harten Umgebung, doch die kaputten Männlichkeitsbilder haben auch beim Protagonisten ihre Spuren hinterlassen – eine schwere Bürde für die junge Beziehung. Die Geschichte ist passend zur vorherrschenden Tristesse eher ruhig erzählt.

Bei »Nullerjahre« von Hendrik Bolz ist es das genaue Gegenteil. Wie ein Stakkato prasseln Assoziationen, Gedanken und Wahrnehmungsfetzen von Beginn an auf die Leser*innen ein, die Herkunft des Autors aus dem Rap wird deutlich. Bolz, Jahrgang 1988, ist unter dem Namen »Testo« Teil der Combo Zugezogen Maskulin. In Tracks wie »Plattenbau O.S.T.« und »Tanz auf dem Vulkan« hatte er sich bereits hier mit ostdeutschen Erfahrungen auseinandergesetzt, 2019 veröffentlichte er dazu im Freitag den Essay »Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf«. Später folgte mit seinem Rap-Kollegen Moritz Wilken alias »Grim 104« der prächtige Podcast »Zum Dorfkrug«, in dem beide mit Künstler*innen und Politiker*innen über das Aufwachsen in West, Ost, Nord und Süd sprechen.

In seinem Roman berichtet Bolz nun selbst von seiner Jugend in den 2000er Jahren in Knieper West, einer Plattenbausiedlung am Rande Stralsunds, auch wenn die Erfahrungen anderer Menschen mit einfließen. In gewisser Weise sind die Geschichten dabei eine zeitliche Fortsetzung von Schulzes Roman. Neben den Böhsen Onkelz gibt es für die Freundesgruppe des Protagonisten Hendrik zwar jetzt auch Aggro Berlin, viele der rechten Brüder lassen sich die Haare wieder länger wachsen, und US-Serien bestimmen die vorherrschende Kultur. Gleich geblieben sind jedoch die stumpfen, diskriminierenden Witze, die gegenseitige Härte unter den Jugendlichen, die generelle Abgefucktheit.

Wer im Osten jener Tage aufwuchs, fühlt sich möglicherweise in sein altes Leben zurück katapultiert: Angst und Trauer sind nicht erlaubt, permanente Demütigungen und Schikanen finden selbst unter Freund*innen statt, jede potenzielle Peinlichkeit wird erbarmungslos attackiert. Alles Weiche gilt als Schwäche, jede Schwäche macht einem zur Zielscheibe. »Fressen oder Gefressenwerden.« Die permanente Anspannung sucht sich Ventile. Hendriks Welt wechselt zwischen Vandalismus, Prügeleien und Drogen ballern, mal ist er Opfer, mal Täter, er bekommt Panikattacken. »Nichts Nettes, nichts Schönes darf es hier geben«, sagt er.

Zur Einordnung hat Bolz eigene Reflexionen, Zeitungsartikel, Werbeslogans oder Textfetzen mit politischen Informationen zwischen die Erzählungen gestellt, immer wieder baut er eine Verbindung zur ebenso diskriminierenden Ideologie und Politik dieser Jahre. Die Eltern und ihre Probleme kommen dagegen kaum vor. Als er nach langer Zeit alte Weggefährt*innen wieder trifft, zeigt er sich ein wenig ratlos. »Hab ich mich mit denen überhaupt irgendwann mal ernsthaft unterhalten?«

Dageblieben, weggegangen

Domenico Müllensiefen, Jahrgang 1987, richtet in seinem Buch »Aus unseren Feuern« wiederum einen größeren Fokus auf Klassenfragen. Die Hauptfiguren Heiko, Thomas und Karsten wachsen in den 2000er Jahren im Leipziger Plattenbau auf. Der eine arbeitet als Elektroniker und Bestatter, der andere soll den elterlichen Schlachthof übernehmen, der dritte will nach Amerika ausreisen. Ob bei Beziehungen oder im Job, generell hat man wenig Glück. »Es gibt diese vielen Menschen, die in ganz normalen Berufen arbeiten und sich wirklich engagieren und Alles geben und trotzdem dann am unteren Ende der Nahrungskette landen«, beschrieb Müllensiefen jüngst auf einer Lesung in Berlin seine Figuren. Selbst wenn Heiko noch mehr gegeben hätte, er wäre immer am »Rand des Scheiterns« gewesen. Müllensiefen kennt dabei die Welt, aus der er berichtet. Eigentlich lernte er Techniker in Leipzig, schaffte es aber doch, am Deutschen Literaturinstitut in der Messestadt zu studieren. Nebenbei arbeitete er als Bestatter, heute ist er Bauleiter.

Die diffuse Wut vieler Ostler*innen wird an zahlreichen Stellen im Buch greifbar, etwa bei der Geschichte um den Fleischereibetrieb von Thomas Vater. In der DDR konnte sich der private Betrieb trotz Hürden einigermaßen durchschlagen, in den 1990er Jahren auch noch gegen die westdeutsche Konkurrenz behaupten. Der Weg in die 2000er Jahre droht jedoch nun an der Macht des neuen Großkonzerns im nahe gelegenen Halle zu scheitern. Nach vier Generationen scheint der Familienbetrieb am Ende zu sein. Heiko wiederum wundert sich über seinen im Handel arbeitenden Vater: »Seit fast 20 Jahren schleppt der sich jeden Tag in den Baumarkt und am Abend wieder nach Hause. Das konnte doch nicht alles sein.« Gelegentlich sucht sich der Frust seine Bahnen und trifft dann etwa den wohlmeinenden Schuldirektor, der aus der Region Siegerland in Nordrhein-Westfalen kommt. Für die (weißen) Figuren selbst spielen Fragen von rechts und links dabei keine große Rolle.

Heiko bleibt letztlich in Müllensiefens Roman im Leipziger Plattenbauviertel Grünau hängen. Die Protagonisten von Schulz und Bolz ziehen am Schluss der anderen beiden Bücher nach Berlin. Hier wollten sie vergessen und verdrängen. Über unterschiedliche Wege holt die Vergangenheit letztlich alle drei ein. Die Leser*innen kann‘s freuen. Weitere Einladungen zum diskutieren und erinnern liegen vor.

Sebastian Bähr

ist Journalist. Bis Ende 2021 war er Redakteur der Tageszeitung neues deutschland.

Hendrik Bolz: Nullerjahre. Kiepenheuer & Witsch, Berlin 2022. 336 Seiten, 20 EUR.

Daniel Schulz: Wir waren wie Brüder. Hanser Berlin, Berlin 2022. 288 Seiten, 23 EUR.

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Kanon Verlag, Berlin 2022. 336 Seiten, 24 EUR.