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Unsere eigene Antifa Gençlik

In Hengameh Yaghoobifarahs Debütroman »Ministerium der Träume« trägt eine Mittvierzigerin, die nie Kinder wollte, plötzlich Verantwortung für einen Teenager

Von Nelli Tügel

Eine ebenso eigensinnig wie eingängige Sprache, originelle Vergleiche und Metaphern tragen durch Hengameh Yaghoobifarahs ersten Roman. Foto: Tarek Mohamed Mawad

Cool, ich hab mein Leben für eine Jugendliche aufgegeben, die 24/7 Fresse zieht.« Das denkt Nasrin, Mitte Vierzig, Türsteherin, die sich eigentlich ganz gut in ihrem Leben eingerichtet hatte, bis sie sich plötzlich als Vormund der 14-jährigen Parvin wiederfindet. Parvin ist Nasrins Nichte, die Tochter ihrer kleinen Schwester Nushin, mit deren Tod die Geschichte beginnt.

Nasrin und Nushin hatten eine besondere Beziehung: Gemeinsam mit ihrer Mutter fliehen sie Anfang der 1980er Jahre aus dem Iran; die vielleicht berührendste Figur der Geschichte, der Vaterfreund Manoucher, unterstützt die Mutter und die beiden Töchter nach ihrer Ankunft in Lübeck Hudekamp, er selbst findet keinen Frieden, er wurde im Iran mit Schlafentzug gefoltert. Nachdem der in Teheran zurückgelassene Vater vom Regime hingerichtet wird, schuftet sich die Mutter als Schneiderin durch die Jahre und kapselt sich emotional von ihren Töchtern ab, die umso mehr zusammenrücken und füreinander sorgen.

Und nun – in der Gegenwart des Romans, die immer wieder durch Rückblenden unterbrochen wird – soll Nasrin für Parvin sorgen. Weil Nushin nicht mehr da ist. Die Umstände ihres Todes beschäftigen die Hinterbliebenen: Nasrin glaubt an einen Suizid, Parvin hegt die leise Hoffnung, ihre Mutter könne noch am Leben sein, Nasrins und Nushins Mutter wiederum gibt sich sofort mit der von der Polizei gelieferten, ihre eigenen Ressentiments bestätigenden Erklärung zufrieden, dass arabische Clan-Autohandwerker absichtlich die Reifenschrauben an Nushins Auto gelockert hätten: Ehrenmord halt, wie zwei Polizist*innen Nasrin erläutern.

Das ist natürlich Quatsch, und Nasrin traut der Polizei nicht eine Sekunde über den Weg. Wie auch – sie hat gelernt, dass auf die »Ordnungshüter« kein Verlass ist. Sie schauten weg, als sie und ihre Freund*innen in den 1990ern am Lübecker Rummelplatz von Nazis bedroht und gejagt wurden; und als Anfang der Nullerjahre immer wieder Ausländer sterben – in Nürnberg, Hamburg, Dortmund und Kassel – beunruhigt das Nasrin und die anderen, auch weil sie ahnen, dass die Polizei in die völlig falsche Richtung ermittelt. »Lass mich raten. Wird schon wieder behauptet, es sei irgendeine Mafia gewesen«, fragt Nushin in einer der Rückblenden.

Trotz aller Tragik ist die Geschichte oft auch saulustig – dafür sorgen vor allem Nasrins lakonischer und selbstironischer Ton sowie warmherzige Figuren.

Es werden in diesem Roman also neben Flucht, migrantischer Einsamkeit, Verlust und Trauer auch noch Nazigewalt und Behördenversagen verhandelt (und einiges mehr wird gestreift). Erstaunlicherweise ist die Geschichte trotz so vieler Themen kein bisschen überladen – es gelingt Hengameh Yaghoobifarah, sie aus der Handlung und den einfühlsam beschriebenen Figuren heraus zu entwickeln. Zudem tragen eine ebenso eigensinnige wie eingängige Sprache, originelle Vergleiche und Metaphern durch das Buch. Und trotz aller Tragik ist die Geschichte oft auch saulustig – dafür sorgen vor allem Nasrins lakonischer und selbstironischer Ton, in dem sie etwa die plötzlichen Herausforderungen (Klauen, Kiffen, Klassenfahrt) im Umgang mit Parvin reflektiert, sowie warmherzige Figuren wie Sakine, die Nasrin bei deren erstem Elternabend in Parvins Schule rettet, und die schräge, aber saucoole Filiz, eine Freundin von Nasrin und Nushin.

Filiz war in den 1990ern Anführerin der Gruppe in Lübeck, in der die Schwestern und ihre Freund*innen Selbstverteidigung lernen und politische Texte lesen. »Na gut. Wir machen unsere eigene Antifa Gençlik«, sagt die junge Filiz in einer der Rückblenden zu dem Vorschlag der Freund*innen, sich zum Selbstschutz zusammenzuschließen; es sind die Jahre von Hoyerswerda und Mölln. Filiz weiß mehr als die anderen (»Abgesehen von Filiz wusste an diesem Abend noch keine:r von uns, dass das Café Morgenland nichts mit Gastronomie zu tun hatte, sondern mit linkem migrantischen Widerstand«), hat Straßenkampferfahrung – und ist außerdem Nasrins wenn auch nicht erste, so doch erste große Liebe. Die Filiz der Gegenwart ist ein bisschen wie ein Echo aus den 1990ern (Filiz: »Was ist denn eine Kwierebar?«, Nasrin: »Lesbenbar sozusagen«). Sie erweist sich, ebenso wie die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, schließlich als entscheidend, um das Geheimnis um Nushins Tod zu entschlüsseln.

Bis es soweit ist, kann man kaum aufhören zu lesen. Und man vermisst die Figuren, sobald das Buch zugeschlagen ist. Die besten Romane sind ja die, bei deren Lektüre es sich laut lachen lässt und vier Seiten später die Tränen hochkommen. Hengameh Yaghoobifarahs Roman ist so einer. Er beginnt mit dem Tod – und endet mit dem, was das Leben vielleicht nicht immer ausmacht, es aber erhält: Zusammenhalt, Fürsorge. Schon lange habe ich nichts gelesen, was mich so gut unterhalten, gefesselt und zugleich getröstet hat.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.