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Große weiße Tränen

»Yellowface« von Rebecca F. Kuang ist eine unterhaltsame Satire auf identitätspolitische Debatten und die Medienbranche

Von Marie Serah Ebcinoglu

Man sieht auf dem schwarzweiß Bild mehrere Arbeiter, die Säcke heben.
Wer darf über das chinesische Arbeiterkorps im Ersten Weltkrieg schreiben? Eine der Fragen, die in »Yellowface« verhandelt werden. Foto: Ernest Brooks, Public domain, via Wikimedia Commons

Weiße Menschen haben es momentan einfach schwer. Zumindest, wenn man June Hayward Glauben schenkt. Die junge Protagonistin aus Rebecca F. Kuangs Roman-Satire »Yellowface« lebt für das Schreiben. Doch trotz ihrer Begabung, trotz ihres Yale-Abschlusses in kreativem Schreiben floppt ihr Romandebüt, und sie bekommt keinen Fuß in die Tür. Ganz anders als ihr Frenemy Athena Liu, die schon während der gemeinsamen Zeit an der Uni Preise für ihre Kurzgeschichten gewinnt und mit ihrem ersten Roman in den Himmel der gefeierten und reichen Star-Autor*innen aufsteigt. Und das liegt an ihrer Identität, meint June. Als Teil der asiatischen Diaspora werde Athena von der Medienbranche bevorteilt, die nur noch daran interessiert sei, marginalisierte Perspektiven zu fördern, um diese dann als Token zu instrumentalisieren. An dieser Beobachtung ist etwas Wahres dran und etwas sehr Rassistisches, aber dazu gleich mehr. Zunächst einmal trinken die beiden bei einem ihrer seltenen Treffen (so eng sind sie nicht) Cocktails und stoßen auf Athenas jüngsten Erfolg an. Bei einem anschließenden Absacker in ihrer Luxuswohnung verschluckt sie sich an einem Pfannkuchen und erstickt vor Junes Augen. Die lässt kurzerhand Athenas (fast) fertiges neues Buchmanuskript mitgehen. 

Schon in den Tagen nach Athenas Tod beginnt Junes Verwandlung zu deren angeblich engster Vertrauter. Andere Freund*innen hat June nicht, und es wird auch recht schnell klar wieso. Denn einerseits sind die Figuren in dem Plot-getriebenen Roman recht oberflächlich gezeichnet, andererseits gehört June zu der kleinen Gruppe Protagonist*innen und Erzähler*innen einer Geschichte, die man als Leserin beginnt zu hassen. Äußerlich freundlich, innerlich missgünstig und verachtend. 

Schön ambigue

In den folgenden Wochen fängt June damit an, das gestohlene Manuskript zu beenden, zu überarbeiten, und verkauft es schließlich an einen großen Verlag. Es wird ein Bestseller – unter ihrem Namen. Nun ja, fast. Denn da es in dem Roman um das chinesische Arbeiterkorps im Ersten Weltkrieg geht, mit dem Anspruch, das vom Westen ungesehene Leid der 140.000 Arbeiter sichtbarer zu machen, empfiehlt der Verlag eine Änderung. June soll künftig unter ihrem ganzen Vornamen und ihrem Mittelnamen veröffentlichen: Juniper Song – schön ambigue. Damit beginnt das Drama und auch das eigentlich Interessante an diesem Roman, der einen schnellen Sog entwickelt, auch weil er, wie ja viele moderne Werke, in denen Identität verhandelt wird, populär-realistisch erzählt ist (also einfache Form für »schweren« Inhalt). Kuangs Thriller ist eine kluge kleine Satire auf den Literaturbetrieb und die stets nach den gleichen Mustern verlaufenden Debatten um Rassismus und Identitätspolitik, die auf Social Media geführt werden (und auch gern in Feuilletons). 

Kuang führt sowohl die Irrationalität derer vor, die sich konsequent weigern, rassistische Strukturen anzuerkennen, genau wie die jener Social-Justice-Warrior, die auf Schlagwortbasis Meinungen als politische Analyse verkaufen.

June muss natürlich alles tun, damit nicht auffliegt, dass sie von Athena geklaut hat. Es dauert nicht lang, bis einige Leser*innen ihr plötzliches Interesse an ausgebeuteten chinesischen Arbeitern des 20. Jahrhundert befremdlich finden, ebenso wie die von ihr reproduzierten Stereotype. Von ihr, oder von Athena? Und sind die Beschreibungen im Roman tatsächlich rassistisch? June erlebt ihren ersten Shitstorm: »Und sie nennen mich rassistisch, weil ich von Arbeitern erzähle, die aus dem Norden rekrutiert wurden, da die Briten glaubten, Menschen aus dem wärmeren Süden wären nicht für körperliche Arbeit geeignet. Das ist doch nicht meine Sichtweise, es ist die Sichtweise von britischen Armeeoffizieren«, klagt sie, »wo sind die Fähigkeiten der kritischen Lektüre geblieben?« Eine an sich lohnende Frage. Doch je tiefer June in ihrer selbst gestellten Falle versinkt, desto weniger differenziert kann sie mit berechtigter Kritik umgehen. Immer sind die anderen an ihrer Misere schuld, zum Schluss vor allem die bösen marginalisierten Menschen. In ihrer fortschreitenden kognitiven Dissonanz, mithilfe derer sie mit der Scham, eine Tote ausgenützt und auch sonst ungute Entscheidungen getroffen zu haben, umzugehen versucht, betreibt June fleißig Täter-Opfer-Umkehr. 

Das Diversity-Game

Eine der großen Qualitäten dieses kurzweiligen Stücks sind Kuangs feine Beobachtungen von Diskursdynamiken. Sie führt sowohl die Irrationalität jener vor, die sich konsequent weigern, rassistische Strukturen anzuerkennen, und die von reverse racism (also umgekehrtem Rassismus) fabulieren, genau wie die jener Social-Justice-Warrior, die auf Schlagwortbasis Meinungen als politische Analyse verkaufen. Neben den Fragen zu Autor*innenschaft (denn auch Athena scheint in der Hinsicht keine ganz weiße Weste zu haben) führt das Buch geschickt einen Branchenmechanismus vor, den die Literaturagentin Marie Dutton Brown im Interview mit der New York Times bemängelte: »Schwarze Leben und Schwarze Kultur werden alle 10 bis 15 Jahre neu entdeckt. Das Verlagswesen spiegelt das wider.« Junes Beobachtung, dass Medienhäuser momentan großes Interesse an marginalisierten Stimmen haben, stimmt ja. Aber nicht, um ihnen alle Türen offen zu halten, wie June eifersüchtelt, sondern leider noch immer, um nach außen hin einen möglichst diversen Eindruck zu vermitteln. 

Kuangs Thriller ist eine kluge kleine Satire auf den Literaturbetrieb und die stets nach den gleichen Mustern verlaufenden Debatten um Rassismus und Identitätspolitik

Hinter den Kulissen sieht es nach wie vor anders aus. 85 Prozent der Menschen, die 2019 für große Verlage in den USA Bücher anwarben und lektorierten, waren weiß, fand die NYT heraus. Das erklärt auch, wieso die meisten Bücher, die diese Verlage herausgeben, von weißen Autor*innen sind. Wie auch jüngst im oscarnominierten Spielfilm »Amerikanische Fiktion« von Cord Jefferson thematisiert wurde, sind Autor*innen of Colour oft dazu angehalten, ihre jeweilige Diskriminierung zum Thema ihres Schreibens zu machen. Das geschieht sowohl Athena im Buch, als auch der Überflieger-Autorin Kuang selbst (27 Jahre alt, fünf Bestseller, zwei Masterabschlüsse von Eliteunis und eine Promotion), deren neuer Roman aus eigenen Erfahrungen schöpft. Wer den großen Zugriff auf die komplexen Fragen nach Moral, struktureller Diskriminierung oder Mechanismen der Medienbranche erwartet, wird ihn in »Yellowface« nicht finden – es ist immer noch ein Krimi, da wird Diskursanalyse zurecht den Effekten geopfert. Einen erfrischend anderen Kommentar zu identitätspolitischen Debatten schon, denn durch die Täterinnen-Perspektive entsteht ein differenzierteres Bild besagter Komplexe als auf Social Media, das oft durch binäre Fronten und wenig Nuancen hervorsticht. Dies führt der Roman vor, ohne sich zu ernst zu nehmen. Und ein echter Page-Turner ist diese Mischung aus »Identitti« von Mithu Sanyal und »Ruhm für eine Nacht« von Calla Henkel allemal.

Marie Serah Ebcinoglu

ist Co-Chefredakteurin des feministischen Missy Magazine.

Rebecca F. Kuang: Yellowface. Eichborn Verlag, Köln 2024. 383 Seiten, 24 EUR.

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