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|ak 682 | Geschichte

Fit für das Kapital

Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin deutet das Jahr 1977 als Beginn eines Jahrzehnts der Verunsicherung

Von Jens Renner

US-Präsident Jimmy Carters Menschenrechtsrhetorik nimmt der Autor für bare Münze. (Hier zwar eine Aufnahme aus dem Jahr 1978, aber mit dem späteren Präsidenten Bill Clinton). Foto: Public Domain

Vor 45 Jahren, am 7. April 1977, begann mit der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Staatsbeamten durch das Kommando Ulrike Meinhof die Offensive 77 der RAF. Damit war, so das heute dominierende Narrativ, der Kampf »RAF gegen Bundesrepublik« eröffnet; ein halbes Jahr später dann endete das auf beiden Seiten opferreiche »Terrorjahr« mit dem Sieg des Staates über seine Herausforderer, die in ihrer Verblendung die Machtfrage gestellt hatten. Dieser staatsfrommen Darstellung mit einer differenzierten Untersuchung entgegenzutreten, wäre verdienstvoll. Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin, geboren 1956, hat Größeres vor. Zwar folgt in seinem Buch mit dem schlichten Titel »1977« auf die Einleitung ein Kapitel über die RAF und den »Herbst der Revolution«. Insgesamt aber, so der Untertitel, verspricht der Autor nicht weniger als »eine kurze Geschichte der Gegenwart«: einen großen Wurf also.

Parlamentarismus statt Revolution?

Wer das Buch mit der gebotenen Skepsis aufschlägt, begegnet unversehens einem Autor, der seine Leser*innen schon im allerersten, verblüffend ehrlichen Satz für sich einzunehmen versucht: »Im April 1977 war ich ein paar Tage in London und brachte das Kunststück fertig, nichts von der Punk-Explosion mitzubekommen.« Es folgen weitere Klarstellungen: Er schreibe nicht als Zeitzeuge, sondern als Historiker. Auch seine »Obsession« für das Jahr 1977, folgenschwerer Beginn eines »Jahrzehnts der Verunsicherung«, räumt er freimütig ein. Denn für etliche seiner Themen erscheint die Wahl dieses Jahres ziemlich beliebig. So haben die technischen Innovationen, deren bahnbrechende Wirkung er darstellt, ihre jahrelangen Vorgeschichten. Das gilt für den Personal Computer Apple II ebenso wie für das Internet oder den Videorekorder. Und die fünf Personen, die er an den Kapitelanfängen vorstellt, mögen zwar exemplarisch für diverse »Modernitätsmerkmale« stehen. Dass alle fünf – der Philosoph Ernst Bloch, die Schwarze Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hamer, die Schriftstellerin Anais Nin, der Dichter Jacques Prévert und der Politiker Ludwig Erhard – 1977 gestorben sind, ist aber reiner Zufall. Auch verkörpert Margaret Thatcher den von Sarasin eindrucksvoll geschilderten Siegeszug des Neoliberalismus zweifellos eher als der 80-jährige Kanzlerrentner Erhard.

Dass Sarasins Erzählung sich auf Westeuropa und die USA beschränkt, ist ihm kaum vorzuwerfen. Schwerer wiegt, dass er die Veränderungen der Arbeitswelt weitgehend ausklammert, von summarischen Aussagen über die Folgen der Computerisierung mal abgesehen. Stattdessen widmet er sich ausführlich diversen »Aussageereignissen«: wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Kontroversen, etwa über das von Soziobiolog*innen behauptete »Diktat der Gene«: Wenn menschliches Verhalten vor allem genetisch determiniert ist, sind soziales Lernen und kulturelle Überlieferung zu vernachlässigen – ein vermeintlich schlüssiges naturwissenschaftliches Argument für das neoliberale Ideal individueller Selbstoptimierung und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen.

Im April 1977 war ich ein paar Tage in London und brachte das Kunststück fertig, nichts von der Punk-Explosion mitzubekommen.

Philipp Sarasin

Die Behauptung von der 1977 nicht begonnenen, aber zum Durchbruch gelangten Individualisierung der Gesellschaft zieht sich durch große Teile des Buches. Eng damit verbunden ist die These vom Ende der revolutionären Hoffnungen. Wie an vielen anderen Stellen beruft Sarasin sich hier auf Michel Foucault, seinen mit Abstand meist zitierten Lehrmeister. Dieser hilft ihm auch, die bundesrepublikanischen Ereignisse des Jahres 1977 zu sortieren. An dessen Ende, schreibt Sarasin, sei auch der »linksradikalen Szene« klar geworden, »dass es mit der Hoffnung auf die Revolution vorbei war«. Darauf gefolgt sei das Bekenntnis zum bürgerlichen Staat und der parlamentarischen Demokratie.

Das trifft auf Teile der »Szene« zweifellos zu. Vorzugsweise zitiert Sarasin in diesem Zusammenhang das von Daniel Cohn-Bendit herausgegebene Frankfurter Sponti-Magazin Pflasterstrand, eine zwar wichtige Quelle, aber keineswegs das linke bundesrepublikanische Leitmedium. Hier ließ sich die Anpassung ehemaliger Streetfighter an den Zeitgeist exemplarisch nachvollziehen: Die politischen Karrieren Cohn-Bendits und seines Pflasterstrand-Genossen Joschka Fischer verliefen sichtbar nach rechts. Repräsentativ für die westdeutsche Linke waren sie aber ebenso wenig wie die Organisationsversuche derjenigen, die der RAF auch nach deren militärischer und politischer Niederlage im Deutschen Herbst die Treue hielten.

Mit Jimmy Carter für die Menschenrechte?

Zu diesem Teil der Linken geht Sarasin demonstrativ auf Distanz, setzt gern Anführungszeichen, wenn es um politische Gefangene und Isolationshaft geht. Dem Abgesang auf die Revolution folgt das Kapitel »Menschenrechte, Minderheiten und die Politik der Differenz«. Es beginnt mit einer Würdigung der US-amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Fannie Lou Hamer und springt dann zu Jimmy Carter, der am 20. Januar 1977 seinen Amtseid als US-Präsident ablegte. Wie beides zusammenhängt? Hamers Kampf habe geholfen, Carters Wahlsieg möglich zu machen, schrieb damals die New York Times. Das mag stimmen. Weniger überzeugend ist Sarasins Begeisterung für den neugewählten »liberalen Südstaatenpräsidenten«, dessen Menschenrechtsrhetorik er für bare Münze nimmt.

Offensichtlich hat auch der Schweizer Universalgelehrte seine bewunderten Held*innen. Sein Buch mag – je nach Sichtweise – an manchen Stellen Zustimmung oder Widerspruch provozieren, auch Kopfschütteln auslösen. Es ist gut geschrieben, fast nie langweilig und in vielerlei Hinsicht anregend. Das allerdings – Warnung! – kann die Lektüre verlängern: Mit den eigenen Wissenslücken konfrontiert oder an fast schon Vergessenes erinnert, dürfte sich vielen Leser*innen der Griff nach Sekundärquellen aufdrängen, vor allem YouTube. Wie performte Donna Summer ihren Hit »I Feel Love«? Was war das Besondere am Punk der Ramones? In welchem Verhältnis stand die elitäre Botschaft der »Körper-Ikonen« Farrah Fawcett-Majors und Arnold Schwarzenegger zu der massenwirksamen Fitness-Bewegung? Bei aller Kritik: Philipp Sarasin ist ein Buch gelungen, das neugierig macht auf mehr.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 505 Seiten, 32 EUR.