analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 682 | Kultur

»Die Gesellschaft darf sich nicht in Sicherheit wiegen«

Der Regisseur Nuran David Calis über sein dokumentarisches Theaterstück »Mölln 92/22« und welche Rolle Theater in der Erinnerungspolitik spielen kann

Interview: Carina Book

Das dokumentarische Stück Mölln 92/22 widmet sich mittels Gesprächen und Interviews der Geschichte der Familie Arslan und Yılmaz. Foto: David Baltzer

Am 23. November 1992 setzten Neonazis das Wohnhaus der Familien Arslan und Yılmaz in Mölln mit Molotowcocktails in Flammen. Die 10-jährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yılmaz und die 51-jährige Bahide Arslan starben, andere Familienangehörige wurden schwer verletzt. Die fehlende Anteilnahme und der rassistische Umgang mit den Opfern seitens der Politik und der Gesellschaft wurde schon kurz nach den Morden offensichtlich:  Als die Särge mit den drei Getöteten zur Überführung in die Türkei am Hamburger Flughafen eintrafen, versammelte sich dort eine Trauergemeinde, um Abschied zu nehmen. Die Polizei riegelte daraufhin die Flughafenhalle ab und ging mit Schlagstöcken auf die Trauernden los. Zudem stellte die Stadt Mölln die Familien nach dem tödlichen Anschlag vor die Wahl, entweder in eine Flüchtlingsunterkunft zu ziehen oder in das Brandhaus zurückzukehren.

Das Gedenken, das die Stadt Mölln später organisierte und bei dem die Angehörigen die Redner*innen der »Möllner Rede« auswählen durften, wird mittlerweile von den Angehörigen selbst organisiert: Die gedenkpolitische Zusammenarbeit mit der Stadt endete, als die Familie Arslan mit Beate Klarsfeld eine Rednerin wählte, die dem politischen Mölln nicht in den Kram passte. Der Regisseur des dokumentarischen Theaterstücks »Mölln 92/22«, Nuran David Calis, spricht mit ak über seine Beweggründe für das Stück und welche Rolle Theater in der Erinnerungspolitik spielen kann und sollte.

2014 hast du mit »Die Lücke« einen Weg gefunden, das Nagelbombenattenat in der Keupstraße auf der Theaterbühne zu bearbeiten. Nun folgt »Mölln 92/22«. Worum geht es dabei?

Nuran David Calis: »Mölln 92/22« ist ein dokumentarisches Stück. Es geht darum, gemeinsam mit den Angehörigen die Geschehnisse rund um den Anschlag, der auf die Familien Yılmaz und Arslan verübt wurde, zu rekonstruieren und den Anliegen der Familien Raum zu geben. Das ist auch deshalb so wichtig, weil die öffentliche Auseinandersetzung mit diesen Angehörigen völlig gescheitert ist.

Warum ist ein Theaterstück dafür ein gutes Medium?

Das Theater ist ein zutiefst politischer und öffentlicher Raum. Mir geht es auch darum, dass sich migrantische Kräfte, Stimmen und Narrative in diesem Raum ausdehnen können. Das ist ein komplizierter Prozess, denn offenkundig kommt die Mehrheitsgesellschaft mit dieser Raumnahme und dem Erzählen unserer Geschichten noch nicht klar.

Regisseur Nuran David Calis, Foto: Costa Belibasakis

Nuran David Calis

ist Autor und Regisseur. Er arbeitet hauptsächlich im Theater und hat 2014 gemeinsam mit Überlebenden ein dokumentarisches Theaterstück über den Nagelbombenanschlag von 2004 in der Keupstraße auf die Beine gestellt. Sein neues Stück »Mölln 92/22« ist im Juni als Gastspiel auf Kampnagel in Hamburg zu sehen und danach im festen Repertoire des Schauspielhauses in Köln.

Gilt das nicht auch für den Theaterbetrieb?

Ich habe den Verdacht, dass viele Leitungsfiguren aus der Theater- und Filmproduktion rein marktwirtschaftlich an ihre Kunst herangehen und der Meinung sind, dass es vor allem von den Zahlen her stimmen muss. Schätzungsweise sitzen achtzig bis neunzig Prozent diesem Irrtum auf. Die Kunst wird dann am Reißbrett wirtschaftstauglich angepasst und heraus kommen dann zum Beispiel Filme zum NSU, die sich nur um die Täter*innen drehen. Das ist Opferverhöhnung und hat weder etwas mit der Wirklichkeit der Gesellschaft noch mit Kunst zu tun.

Dieser Tage haben solche Inszenierungen ja wieder Konjunktur …

Ja, absolut. Nehmen wir mal »Die Wannseekonferenz«, ein Film der enorm hochgejubelt wurde, in dem es letztlich darum geht, dass da viele Nazis in einem Raum sitzen. Und als Zuschauer kann ich dann erstklassigen Schauspielern dabei zugucken, wer den besseren Nazi spielen kann. Man gibt dieser ästhetischen Form einen Raum, was aus meiner Sicht eine Grenzüberschreitung und ein Verbrechen ist. Einige Schauspieler bekommen sogar tolle Jupiter-Preise in Österreich für die beste Nazi-Darstellung. Das zeigt eine Perspektive, die von außen drauf schaut und überhaupt keinen Kompass hat, wie Dinge auch anders erzählt werden können.

Wie gelingt es dir als Regisseur, nicht dieselben Fehler zu machen?

Unser Anliegen als künstlerisches Team ist, aus dem inneren Kern heraus zu agieren. Wir reden nicht über Opfer, sondern wir reden mit ihnen und stellen die Arbeiten gemeinsam mit ihnen auf die Beine. Sich so einem Vorhaben gemeinsam zu nähern, heißt auch, das Spannungsverhältnis, das zwischen uns als Künstler*innen und den Betroffenen entsteht, auszuhalten. Die Gespräche mit den Familien haben mir sehr viel gegeben und ich bin sehr glücklich, dass Ibrahim und Namik Arslan sowie ihre Eltern bei der Premiere da waren. Es geht darum, die Anliegen der Betroffenen zu verbreiten, solidarisch zu sein und Allianzen zu bilden. So kann es gelingen, dass man sich gegenseitig aus der Isolation in der Gesellschaft heraushilft. Durch das Stück wird auch deutlich, dass wir nicht allein sind mit dem, was wir erlebt haben. Das brauchen wir, damit wir diese schmerzhaften Geschichten in die Welt getragen bekommen und damit eine echte und intensive Auseinandersetzung mit den dunkelsten Kapiteln der Nachkriegsgeschichte in Gang kommen kann.

Das ist eine schwierige Aufgabe …

Kunst ist in meinem Verständnis immer ein Hingehen dorthin, wo es weh tut. Mir ist wichtig, dass der Theater-Raum nicht einfach nur als Fun-Raum verstanden wird nach dem Motto: Da gehe ich hin und dann ist da alles toll. Erst die katharsischen Momente und das gemeinsame Durchleiden schaffen echte Verbindungen und führen zu Zusammenhalt in der Gesellschaft – das ist etwas, was Theater schaffen kann. Auch wenn die Projekte und Stücke, die ich angehe, oft sehr, sehr schmerzhaft und schwierig sind, gehe ich immer reicher und stärker daraus, und ich denke, das ist auch das Angebot an das Publikum.

An wen richtet sich das Stück in erster Linie?

Es richtet sich an Menschen, die für einen Moment mit uns herausbekommen sollen, was die Opfer nach so einem Anschlag eigentlich bewegt. Sehr oft bleiben diese Geschichten unerzählt, denn die meisten Betroffenen und Hinterbliebenen ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Zu groß ist die Scham darüber, dass man so einer Gewalttat ausgesetzt war, und die Angst vor der Re-Traumatisierung. Viele versuchen damit abzuschließen. Das ist nachvollziehbar. Aber die Öffentlichkeit darf nicht damit abschließen.

Was heißt das für dich?

Wir müssen uns die rassistischen Morde genau anschauen und sie analysieren, damit wir wach bleiben, und wir müssen in der Gegenwart genau beobachten, was geschieht. Erst am 2. Mai ist in Mannheim ein 47-jähriger Mann von Polizisten verprügelt worden und aufgrund dieser Polizeigewalt kurze Zeit später im Krankenhaus gestorben. Die Community ist hellwach, und es muss jetzt darum gehen, dass die Polizei nicht einfach davonkommt. Sie kann solche Taten nicht mehr unter den Teppich kehren. Ich werde auch am 21. Mai bei der Demo dort in Mannheim sein und mithelfen, das Thema ganz weit oben auf die Agenda zu setzen. Die Gesellschaft darf sich nicht in Sicherheit wiegen. Sie muss wach bleiben und erkennen, wo antisemitische und rassistische Strukturen sind, die auch ganz schnell in Gewalt umschlagen können.

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.