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|ak 704 | Geschichte

Deutschland entwaffnen

Eine andere Welt war möglich: zur Vorgeschichte der Nato und der Bundeswehr

Von Jens Renner

Flugzeuge in der Luft, umgeben von Wolken
Waffen und Wirtschaftswachstum: Damit wurde die Bundesrepublik in den Westen nach 1945 integriert. Foto: gemeinfrei

Nach dem Geburtstag ist vor dem Gipfel. Auf die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Nato-Gründung (4. April 1949) folgt im Juli in Washington DC das Treffen der Staats- und Regierungschefs von mittlerweile 32 Mitgliedsländern. Das Medienecho dürfte ähnlich ausfallen wie im April. Vom »Pakt der Freiheit« war da zu hören und zu lesen, von einem »Bollwerk der Stabilität und Sicherheit« – eine Erfolgsgeschichte: »Gäbe es die Nato nicht, man müsste sie erfinden.« (Süddeutsche Zeitung, 2.4.2024)

Unerwähnt blieb in den Lobreden, dass namentlich die US-Regierung in den Jahren vor der Nato-Gründung ganz anders über die europäische Nachkriegsordnung nachgedacht hatte. Ein wesentlicher Anstoß kam von Finanzminister Henry Morgenthau junior. Die Kurzfassung seiner Denkschrift trug den Titel »Programm, um Deutschland davon abzuhalten, einen Dritten Weltkrieg zu beginnen«. Anfang September 1944 wurde das geheime Dokument Präsident Franklin D. Roosevelt übergeben, gleichzeitig aber von rechten Gegenspielern Morgenthaus der Presse zugespielt. Was den von ihnen gewollten Skandal auslöste: Die Washington Post ereiferte sich über einen angeblichen Plan, der »für etliche Millionen Deutsche den Tod oder Hungersnot bedeuten würde«.

Die Morgenthau-Legende

In Nazi-Deutschland nahmen Propagandaminister Goebbels und die von ihm gelenkte Presse das Thema dankbar auf und aktualisierten damit die Lüge von der »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung«: »Der Jude Morgenthau« wolle Deutschland in einen »riesigen Kartoffelacker« verwandeln, hetzte Goebbels; er singe »die gleiche Melodie wie die Juden im Kreml«; gemeinsam würden sie den mit 40 Millionen Opfern »größten Massenmord aller Zeiten« vorbereiten. Nichts davon entsprach der Wahrheit, weder der Massenmord noch der Kartoffelacker. Geglaubt wurde an das Horrorszenario dennoch, und das weit über das Ende des Nazireichs hinaus, nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in der DDR. Dort galt Morgenthaus Plan als »imperialistische Machtpolitik in Reinkultur«, der die »Vernichtung Deutschlands als Nation« beabsichtigt hätte.

In der bundesdeutschen Bevölkerung war die Remilitarisierung höchst umstritten.

Was wirklich Morgenthaus Motive und Ziele waren, rekonstruierte Bernd Greiner, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, in seinem Buch über die »Morgenthau-Legende«. Veröffentlicht wurde es im Gedenkjahr 1995, 50 Jahre nach der deutschen Kapitulation. Im Vorwort schreibt Greiner: »Wir haben in Henry Morgenthau jr. einen Politiker vor uns, der von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts umgetrieben wurde. Aggressoren wollte er durch die Stilllegung ihrer Rüstungsindustrien zähmen … Morgenthau wusste 1941 über die Verquickung von Industrie und Nazi-Staat Bescheid, er erfuhr bereits im November 1942, dass SS, Einsatzgruppen und Wehrmacht mit der Vernichtung der europäischen Juden begonnen hatten, und er setzte vielfältigen Widerständen zum Trotz ein Hilfsprogramm für jüdische Einwanderer durch. Je länger er sich diesen Fragen widmete, desto deutlicher wurde ihm, wie stark die Lobby der amerikanischen Freunde Deutschlands war, die nur darauf warteten, am Ende des Krieges ein business as usual einfädeln zu können. Mit seiner Denkschrift vom September 1944 wollte er die politische Notbremse ziehen.«

Konkret schlug Morgenthau vor, das Ruhrgebiet, die deutsche Rüstungsschmiede, für einige Jahrzehnte zu entindustrialisieren und die Kohlegruben zu schließen. Die »Errichtung oder Expansion von Schlüsselindustrien, die die Grundlage für das deutsche Militärpotenzial bilden,« sollten durch internationale Kontrolle verhindert, das Saarland an Frankreich abgetreten werden. Präsident Roosevelt war mit den Vorschlägen seines Finanzministers zunächst einverstanden. Auf dem US-amerikanisch-britischen Gipfeltreffen von Quebec am 15. September 1944 stimmte auch der konservative britische Premier Winston Churchill der »Entwaffnung der deutschen Industrie« grundsätzlich zu.

Die republikanische Opposition in den USA aber tobte und machte die Deutschlandpolitik zum Thema im Präsidentschaftswahlkampf. Unter massivem Druck auch aus den eigenen demokratischen Reihen machte Roosevelt einen Rückzieher. Am 12. April 1945, ein halbes Jahr nach seiner Wiederwahl, starb er. Sein Nachfolger Harry S. Truman drängte Morgenthau aus dem Amt. Nach seinem Rücktritt kurz vor der Potsdamer Konferenz veröffentlichte Morgenthau sein politisches Vermächtnis: ein Buch mit dem Titel »Germany Is Our Problem«.

Trumans Eindämmungspolitik

Truman und die von den USA dominierten westlichen Bündnispartner aber hatten seit Kriegsende einen neuen Hauptfeind ausgemacht: die Sowjetunion, die im Krieg gegen Nazi-Deutschland die Hauptlast getragen hatte. 25 Millionen Sowjetbürger*innen waren umgekommen, ganze Landstriche von der deutschen Wehrmacht verwüstet, Industrieanlagen zerstört. Die sowjetische Außenpolitik richtete sich daher vorrangig darauf, die mit dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition geschaffenen Einflusszonen zu erhalten, um vor einem erneuten Angriff aus dem Westen abgesichert zu sein.

Der britische Historiker Eric Hobsbawm stellt denn auch infrage, ob die westlichen Strategen an  ihre eigene alarmistische Rhetorik glaubten. Denn »jede rationale Analyse hätte festgestellt, dass die Sowjetunion keine unmittelbare Bedrohung für irgend jemanden darstellte, der sich außerhalb der Reichweite der Roten Besatzungsarmee befand«. Die Sowjetunion, so Hobsbawm weiter, »wurde von einem Diktator beherrscht, der bewiesen hatte, dass er außerhalb der Gebiete unter seiner unmittelbaren Kontrolle ebenso risikofeindlich war wie rücksichtslos innerhalb seines Territoriums.« Dennoch beharrten die USA »zumindest in ihren Verlautbarungen auf einem Alptraumszenario (…), das eine Moskauer Supermacht zeigte, die sich auf die unmittelbare Eroberung der Welt vorbereitete und eine gottlose kommunistische Weltverschwörung anführte, die jederzeit bereit sein würde, die Horte der Freiheit zu überrennen…«

Dabei hatte sich durch das das atomare Monopol der USA seit Sommer 1945 die militärische Lage grundlegend verändert. Nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki war mit der Kapitulation Japans am 14. August 1945 der Zweite Weltkrieg beendet. Erst im Oktober 1949 konnte die sowjetische Seite durch die Zündung einer eigenen Bombe ein atomares Patt erreichen.

Gleichwohl wurde seit Anfang 1946 die »Eindämmungspolitik« (containment) gegen den sowjetischen »Expansionismus« zur Linie der US-Außen- und Militärpolitik. Churchill trug das Seine zur scharfen Abgrenzung von der Sowjetunion bei, als er bei einer USA-Reise im März 1946 seine berühmte Rede über den »Eisernen Vorhang« in Europa hielt – eine rhetorische Anleihe bei Goebbels, der die Metapher schon im Februar 1945 erstmals öffentlich verwendet hatte.

Offiziell wurde die antisowjetische Feindmarkierung mit der Verkündung der »Truman-Doktrin« im März 1947. Nach dem Sieg über Deutschland und Japan müsse die Politik der USA darin bestehen, »die freien Völker zu unterstützen«. Konkret forderte Truman vom Kongress die Entsendung von »zivilen und militärischen Fachkräften« nach Griechenland und in die Türkei sowie die Bereitstellung von 400 Millionen US-Dollar »Notstandshilfe«. Dass weitere Investitionen dieser Art nicht ohne Risiko seien, räumte der Präsident offen ein: »Wir lassen uns hier auf eine ernste Sache ein, und ich würde nicht dazu raten, wenn nicht die Alternative noch viel ernster wäre.«

Der Gedanke, dass zivile und militärische Unterstützung der von der Sowjetunion angeblich bedrohten Staaten Hand in Hand gehen müssten, lag auch der Politik zugrunde, die im Juni 1947 von US-Außenminister George Marshall verkündet wurde. Ihr Zweck, so Marshall in seiner Rede an der Harvard-Universität, sei die »Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft« bzw. die »Wiederherstellung gesunder wirtschaftlicher Verhältnisse in der Welt«. Marshalls Nachfolger Dean Acheson präzisierte, dass »freie Völker«, die sich dem »totalitären Druck« des Kommunismus von innen wie von außen widersetzten, »mit Vorrang in den Genuss amerikanischer Hilfe kommen« sollten.

Deutsche Remilitarisierung

Dazu gehörte nicht zuletzt die im Mai 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland. Teil der Nato wurde sie erst im Mai 1955, ein halbes Jahr vor dem offiziellen Geburtstag der Bundeswehr. Im Juli 1956 trat dann die allgemeine Wehrpflicht in Kraft.

In der bundesdeutschen Bevölkerung war die Remilitarisierung (im amtlichen Sprachgebrauch »Wiederbewaffnung« genannt) höchst umstritten. Gewerkschaften, Kirchen, SPD und KPD waren dagegen; der SPD-Politiker Carlo Schmid, 1948/49 Mitglied des Parlamentarischen Rates, nannte den Antimilitarismus »die eigentliche Weltanschauung der deutschen Jugend nach dem Kriege«. Derweil spielte Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) ein doppeltes Spiel. Noch Ende 1949 behauptete er öffentlich, er habe zur Aufstellung einer bundesdeutschen Armee »keine Auffassung«. Insgeheim aber trieb er die Aufrüstungspläne voran und sorgte dafür, dass sie mit aller Macht durchgesetzt wurden.

Am 11. Mai 1952 setzte die Polizei in Essen gegen eine antimilitaristische Demonstration mit 30.000 Teilnehmer*innen Schusswaffen ein. Der 21-jährige Eisenbahnarbeiter Philipp Müller, Mitglied von FDJ und KPD, wurde aus 50 Metern Entfernung in den Rücken getroffen und starb. Festgenommene berichteten von Misshandlungen durch eine »Polizei im Blutrausch« und Morddrohungen wie »Euch Schweinehunde schlagen wir noch alle tot!« Mit der Schlagzeile »Getarnte FDJ schießt auf Polizei in Essen« stellte Springers Tageszeitung Die Welt die Ereignisse auf den Kopf.

Das Landgericht Dortmund wertete die Schüsse auf Philipp Müller als Notwehr. Kein einziger Polizist wurde juristisch belangt, elf Demonstrant*innen erhielten Haftstrafen. Dem Gericht war es nach eigener Aussage ein Anliegen, »fühlbare Strafen zu verhängen, um in genügendem Maße abschreckend zu wirken«. 1954 wurde die FDJ verboten, zwei Jahre später die KPD, während SPD und DGB mit Bundeswehr und Nato ihren Frieden machten. Der Kampf gegen die Remilitarisierung war verloren.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Zum Weiterlesen:

Bernd Greiner: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans. Hamburg 1995

Georg Fülberth: Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945. Köln 2007

Hans-Litten-Archiv (Hg.): Der Essener Blutsonntag. Die tödlichen Polizeischüsse auf Philipp Müller. Göttingen 2022

Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München und Wien 1995

David Horowitz: Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam. Westberlin 1969