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Beispiellose Organisierung

Die Akteur*innen der Berliner Krankenhausstreiks haben ihre Erfahrungen in einem Buch zusammengetragen

Von Daniel Behruzi

Rund ein Dutzend Demonstrierender, überwiegend in Ärztekitteln, die Protestschilder hochhalten.
Soliaktion der Linksfraktion mit den Streikenden der Berliner Charité für mehr Personal in den Pflegediensten, September 2017. Foto: Fraktion Die Linke im Bundestag/Flickr

Geschichte wird gemacht«. Dieser Untertitel des VSA-Buchs zur Berliner Krankenhausbewegung klingt etwas abgedroschen, trifft es aber: Mit ihren Tarifkämpfen haben die Beschäftigten von Charité und Vivantes 2021 in der Tat Geschichte geschrieben. Sie haben der bundesweiten Krankenhausbewegung für Entlastung ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Die wohl innovativste und spannendste Bewegung der jüngeren deutschen Gewerkschaftsgeschichte ist 2021 quasi an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt, allerdings auf deutlich höherem Niveau. 2016 hatten die Beschäftigten der Charité erstmals bewiesen, dass Arbeitskämpfe für Entlastung möglich und erfolgreich sein können. Fünf Jahre später führten sie gemeinsam mit ihren Kolleg*innen von Vivantes und deren Tochterunternehmen einen elfwöchigen Streik durch, der etliche Lehren bereithält. Es ist gut, dass Akteur*innen der Bewegung diese in dem Bändchen »Gebraucht und beklatscht – aber bestimmt nicht weiter so!« zusammengetragen haben.

Da ist zum Beispiel die unmittelbare Beteiligung von Beschäftigten am Verhandlungsprozess, die weit über die formale Demokratie hinausgeht, die sonst in Arbeitskämpfen üblich ist. Rückgrat der demokratischen Streikbewegung waren, so erklärt es die Krankenpflegerin Paula Schenkenberger, die Teamdelegierten. Diese rund 750 von ihren Teams gewählten Kolleg*innen waren während der Verhandlungen fast immer vor Ort und stärkten so nicht nur die Kommunikation mit den Beschäftigten, sondern mit ihrer spezifischen Expertise auch die Position gegenüber dem Arbeitgeber. Ein Kern der Verhandlungen war die Frage, wie viel Personal in welcher Schicht auf den Stationen und in den Bereichen zur Verfügung stehen muss. Um solche Sollbesetzungen auszuhandeln, braucht es das Wissen der Beschäftigten vor Ort. In Form der Teamdelegierten bezog ver.di sie mittelbar und teilweise auch direkt in die Verhandlungen mit ein. Die gewerkschaftlichen Tarifkommissionen hatten sich selbst dazu verpflichtet, vor allen zentralen Entscheidungen ein Votum der Teamdelegierten einzuholen.

Die Krankenhausstreiks haben hohen Anteil daran, dass die Finanzierung über Fallpauschalen infrage gestellt wird.

Transparenz und Streikdemokratie sind Elemente von Organizing-Konzepten, die der ver.di-Sekretär Max Manzey und der Krankenpfleger David Wetzel erläutern. Zentral ist demnach der systematische Aufbau gewerkschaftlicher Stärke, die immer wieder mit sogenannten Strukturtests, zum Beispiel Petitionen, überprüft wird. Auch die Form der Ansprache ändert sich: »Aus dem schwammigen gewerkschaftlichen ›wir‹ wurde ein ›ihr‹. Nicht ›wir, die Gewerkschaft, wird nun für mehr Personal kämpfen‹, sondern ›ihr, die Beschäftigten, müsst für mehr Personal kämpfen‹, um erfolgreich zu sein«, erklären Manzey und Wetzel. Mit solchen Methoden gelang es bei Charité und Vivantes, innerhalb von acht Monaten über 2.300 Beschäftigte neu gewerkschaftlich zu organisieren.

Kalle Kunkel, der die Auseinandersetzungen an den Berliner Kliniken als Gewerkschaftssekretär begleitet hat und aktuell zur Krankenhauspolitik promoviert, verweist auf den Zusammenhang betrieblicher Kämpfe und politischer Entscheidungen: »Politisch hat sich die enge Wechselwirkung vom Aufbau betrieblicher Stärke und Durchsetzung von Tarifverträgen auf der einen und der Veränderung der gesetzlichen Finanzierungsbedingungen für die Krankenhäuser auf der anderen Seite gezeigt.«

Tatsächlich haben die Krankenhausstreiks der vergangenen Jahre entscheidenden Anteil daran, dass das Finanzierungssystem über Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) zunehmend infrage gestellt wird. Das DRG-System, das die Kliniken einem permanenten Markt- und Preisdruck aussetzt, ist durch die unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erfolgte Herausnahme der Pflegepersonalkosten angeknackst. Ob die von seinem Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) ausgerufene »Revolution« das DRG-System tatsächlich überwindet, erscheint angesichts der bislang vorliegenden Konzepte zwar überaus zweifelhaft. Doch der Druck ist da – und er kommt vor allem aus den Klinikbelegschaften. Kunkel: »Es werden nur die Kämpfe in und um die Krankenhäuser sein können, die dafür sorgen, dass … wir endlich zu einer kostendeckenden Finanzierung der Krankenhäuser kommen.« Das DRG-System zu beseitigen und damit die über Jahrzehnte von Bundesregierungen unterschiedlicher Konstellation vorangetriebene Vermarktlichung des Gesundheitswesens zurückzudrängen, wäre in der Tat ein historischer Erfolg.

Daniel Behruzi

arbeitet als freiberuflicher Journalist und lebt in Darmstadt.

Silvia Habekost, Dana Lützkendorf, Sabine Plischek-Jandke, Marie-Luise Sklenar (Hg.): Gebraucht und beklatscht – aber bestimmt nicht weiter so! Geschichte wird gemacht: Die Berliner Krankenhausbewegung. VSA, Hamburg 2022. 108 Seiten, 10 EUR.