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|ak 688 | Feminismus

Wer gesehen wird, ist nicht sicher

Die Kapitalismuskrise fördert antiqueere Gewalt – wie ist das aus materialistisch-feministischer Sicht zu verstehen?

Von Tarek Shukrallah

Der Angriff auf eine transgeschlechtliche Frau war nicht der einzige queerfeindliche Übergriff in Bremen. Auf dem Heimweg vom CSD, der hier noch ganz idyllisch durch die Wallanlagen zieht, wurde eine 25-jährige homophob beleidigt und ihr wurde eine Regenbogenfahne vom Hals gerissen. Foto: Bilke Schnibbe

Homo-, trans*- und queerfeindliche Gewalt und Hasskriminalität in Deutschland und in anderen Teilen des sich selbst als fortschrittlich verstehenden Globalen Nordens haben in diesem Jahr eine neue Qualität erreicht. Zuletzt starben Ende November fünf Menschen bei einem Terroranschlag auf einen queeren Nachtclub im US-amerikanischen Colorado Springs. Es war mindestens das zweite tödliche Attentat auf einen queeren Freiraum in diesem Jahr. Als am Abend des 25. Juni während der Oslo Pride der »London Pub« zum Schauplatz eines queerfeindlichen Attentats wurde, kamen zwei Besucher*innen ums Leben. Übergriffe in der Öffentlichkeit, vor allem gegen transgeschlechtliche Frauen, schwulenfeindliche Fan-Kampagnen in Fußballstadien wie in Rostock reihen sich an vorbereitete Angriffe auf Besucher*innen von CSDs, ob in Bielefeld, Augsburg (Juni 2020) Berlin (Juli 2021) Lübeck, Ulm, Münster, Bremen (August 2021), Dortmund, Dresden, Döbeln oder Landshut (September 2021).

Rechtsextreme bewarfen in der sächsischen Kleinstadt Döbeln Teilnehmer*innen des CSD mit Steinen. Die Ermordung des transgeschlechtlichen Mannes Malte C. auf dem CSD Münster am 27. August hat schließlich auch in der heterosexuellen Allgemeinbevölkerung sichtbar gemacht, was queere Menschen in diesem Land schon seit geraumer Zeit erleben.

Die Übergriffe nehmen zu, sie werden offener, gezielter und systematischer. Weil die Organisator*innen das Gefühl hatten, die Sicherheit der Teilnehmenden nicht garantieren zu können, wurde sogar die diesjährige antirassistische Pride in Berlin Anfang September vom QTI*BIPoC United-Kollektiv abgesagt.

Antiqueere Kapitalismuskrise

Das »Berliner Register«, eine Meldestelle für diskriminierende und rechtsextreme Vorfälle, teilt auf Anfrage im September mit, dass im Vergleich zum Vorjahr die absolute Zahl queerfeindlicher Übergriffe in der Hauptstadt zugenommen habe. Während 2021 zur gleichen Zeit 101 Fälle gemeldet wurden, seien es nun schon 137. Die Angriffe häufen sich in beiden Jahren im Sommer – sie richten sich also gegen die Sichtbarkeit queeren Lebens in der Öffentlichkeit. Überall, wo queere Menschen Raum einnehmen, wo sie sichtbar sind, sich zum Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit machen, sollen sie sich unsicher fühlen.

Vom neoliberalen Festungskapitalismus werden die Rechte queerer Menschen zum Marker zivilisatorischen Fortschritts stilisiert. Dadurch wird die Sichtbarkeit und Sicherheit queerer Menschen ein Lackmustest für die männliche Herrschaft.

In der andauernden und sich immer weiter zuspitzenden Krise des Kapitalismus wird die Frage nach dem Stellenwert weißer, heteropatriarchaler Männlichkeit immer mehr zu einer ideologischen Aushandlungsfläche im Hegemoniekonflikt zwischen neoliberal-diversitären und autoritär-maskulinistischen Kapitalfraktionen. Rechte und rechtspopulistische »Macher-Männlichkeiten« à la Donald Trump, Elon Musk oder Wladimir Putin wissen das und bekämpfen queeres Leben gerade deshalb so vehement. Der gewaltvolle Versuch, queere Menschen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, geht also nicht zufällig mit der Wiederkehr eines autoritären Maskulinismus einher, der in den rechtspopulistischen Bewegungen in vielen Ländern Europas und dem Trumpismus in den USA Ausdruck findet.

Der schwul-lesbische Klassenkompromiss ist gescheitert.

Der russische Expansionskrieg in der Ukraine hat eine massive Verschärfung der Wirtschaftskrise auch in Deutschland zur Folge. Die Kriegsmobilisierung in Russland und der Ukraine verläuft dabei nicht zuletzt über die Anrufung autoritärer Männlichkeit und Queerfeindlichkeit. Während die Ukraine »alle Männer« zum Kriegsdienst einzieht und damit auch transfeminine Personen gemeint wissen will, verschärft Russland die de facto Kriminalisierung von Homosexualität und Transidentität durch das »Homo-Propaganda«-Verbotsgesetz massiv.

In beiden Fällen wird an eine autoritäre Männlichkeit appelliert und diese als nationales Interesse gegen queere Menschen ausgespielt. Queere Menschen werden so zum Feindbild der Nation, zum inneren Gegner, gegen den sich die Reihen schließen müssen, um das Überleben des Volkskörpers zu sichern. Die neue Qualität anti-queerer Gewalttaten im Globalen Norden ist also eine direkte Folge der Renaissance autoritärer, weißer, heteropatriarchaler Männlichkeit im Krisenkapitalismus.

In der bürgerlichen Gesellschaft ist der öffentliche Raum als Sphäre weißer, männlicher Herrschaft konzipiert. Für niemanden sonst soll und darf er sicher sein. Anti-queere Gewalt ist deshalb nicht etwa einfach ein Ausdruck von »rauen Zeiten«. Sie hat die Funktion, den Dualismus zwischen Privatheit und Öffentlichkeit als vergeschlechtlichte Räume wiederherzustellen. Gilt die männliche Herrschaft in der Öffentlichkeit, ist alles nicht-männliche – Frauen, inter- und transgeschlechtliche Personen, queere Menschen – allenfalls in die Intimsphäre, die Privatheit, verbannt.

So erklärt sich nicht nur die allgemeine Gewaltbereitschaft gegen queere Menschen in der Öffentlichkeit. Es deutet auch darauf hin, warum sich die Gewalt trotz aller Versuche der bürgerlichen schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung, eine Befriedung innerhalb der herrschenden Verhältnisse zu erreichen, nicht nur gegen transgeschlechtliche Personen, Queers of Color und radikale Queers, sondern ebenso gegen angepasste Schwule und Lesben richtet. Zwar sind prekarisierte Queers, Queers of Color und queere Menschen mit Flucht- und Migrationserbe in besonderem Maße von der strukturellen und alltäglichen Ausbeutung und Ausgrenzung betroffen. Die Gewalt aber trifft immer mehr auch jene, die sich vom Sicherheitsversprechen des formal gleichgestellten bürgerlichen Rechtsstaats geborgen wähnten.

Mit dem Bodengewinn für ein autoritär-patriarchales Hegemonieprojekt gerät queeres Leben also unmittelbar in Gefahr – es wird zum ideologischen Kollateralschaden. Die Aushandlung über den öffentlichen Raum und an queeren Körpern sowie Körpern of Color wird als Körperpolitik ausgetragen. Sobald Schwule, Lesben, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen die ihnen zugestandene Intimsphäre verlassen und den öffentlichen Raum einnehmen, hilft weder gleichgestelltes Ehegatt*innensplitting noch der Vorgartenzaun. Die neuerliche Welle der Gewalt zeigt eben auch: Der schwul-lesbische Klassenkompromiss ist gescheitert.

Regenbogennationalismus

Die »queere Frage« ist zum ideologischen Platzhalter für materielle Konflikte nationaler wie globaler Tragweite geraten. Das verdeutlichen auch die Auseinandersetzungen um die Fußballweltmeisterschaft in Katar. Dass die DFB-Mannschaft zunächst dem Mannschaftskapitän Manuel Neuer eine hippie-esque »One Love«-Armbinde mit völlig entfremdetem Regenbogenmotiv als »Zeichen gegen Diskriminierung und für Vielfalt« (DFB via Twitter) aufbinden wollte, war bereits eine groteske Pseudosolidarisierung. Dass diese schließlich vom Weltverbandschef Infantino mit den bedeutungsschweren Worten »Heute fühle ich sehr starke Gefühle, heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant« schlussendlich verboten wurde, macht aus der Peinlichkeit eine Posse.

Und so ließ sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser auf der Tribüne medienwirksam in Protestpose mit »One Love«-Armbinde ablichten, nachdem sie kurz zuvor den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan freundlich darum bat, bei seinem Vernichtungskrieg gegen die kurdische, feministische Freiheitsbewegung »Verhältnismäßigkeit« zu wahren. Im Windschatten der Faeserschen moralisch flexiblen Solidaritätsbekundung besiegelt die Bundesrepublik schließlich einen Millionendeal mit Katar zur Belieferung mit LNG-Flüssigerdgas.

Die Inszenierung queerpolitischer Anliegen und einer »feministischen Außenpolitik« enttarnen sich als bloße ideologische Strategien zur innenpolitischen Befriedung. Die Homophobie der Anderen wird (manchmal) angeprangert, hinsichtlich der Gewaltexzesse gegen Queers in diesem Sommer in Deutschland herrscht kollektive Amnesie.

Der Männerfußball ist dabei nicht zufällig die letzte, unberührte Bastion heteropartriarchaler Männlichkeitsfantasmen, weil er das Spielfeld für Milliardenprofite bietet. Männerfußball ist der wohl größte Safe Space für die Elon Musks und Gianni Infantinos dieser Welt. Ideologisch umhüllt von Mannschaftsdisziplin und schwitzender heterosexueller Männlichkeit lassen sich in den wohltemperierten Logen alle Deals abschließen, die im nationalen Taumel unbeachtet bleiben. Umso vehementer fordern bürgerliche Lesben- und Schwulenvertreter*innen das Coming-Out von Fußballspielern. Im Kapitalismus richtig mitmachen ist die Devise – und das setzt voraus, dass auch Schwule symbolisch in den Kreis der Männer aufgenommen werden.

Provokante Körper

In der heteronormativen, zweigeschlechtlich strukturierten Gegenwart sind queere Körper Grenzwanderungen zwischen Geschlechtern, sind hybrid und deshalb eine besondere Provokation in einer Welt, die immer mehr nach Stabilität in überschaubaren Verhältnissen und Normen sucht, und die sich dabei immer weiter autoritären Denk- und Politikmustern zuwendet. Der Gang zum Supermarkt wird für erkennbar queere Menschen unfreiwillig zur Politik. Weil die Sichtbarkeit queerer Körper immer schon politisch ist, sind die Angriffe auf CSDs und vermeintliche Schutzräume noch über den schmerzlichen Verlust wertvoller Mitglieder der Communities hinaus dramatisch.

Queere Demonstrationen haben stets eine Doppelfunktion: Sie sind einerseits Demonstrationen im eigentlichen Sinne – zielen auf die kollektive Artikulation politischer Forderungen im öffentlichen Raum ab. Andererseits sind queere Demonstrationen immer Freiräume, darauf ausgerichtet, den Vereinzelungen des Diskriminierungsalltags zu entgehen und so für das Überleben in der heterosexuellen Normalität Kraft zu schöpfen. Werden diese Orte zur Zielscheibe und müssen, wie im Fall der antirassistischen Pride in Berlin, wegen der realen Bedrohung abgesagt werden, muss das als ein dramatisches Warnsignal für alle progressiven politischen Kräfte gehört werden.

Tarek Shukrallah

ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in migrantischen bzw. antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-sharing-Plattform mit Blog partizipieren.org.