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Sich die CSDs zurückholen

Alternative Pride-Veranstaltungen schaffen Raum für radikale Solidarität

Von Tarek Shukrallah

Szene vom Pride Day in Genf 2019. Neben der mangelnden Sichtbarkeit von transgeschlechtlichen Personen, sind die Mainstream-CSDs meist dominiert von weißen Personen, schwuler Kultur und Unternehmensinteressen. Foto: Delia Giandeini/Unsplash

Mit Polizei und Großunternehmen ist kein Wandel zu machen, das zeigt auch diese Pride-saison. Tatsächlich sind die großen CSDs in Deutschland kaum noch von Volksfesten zu unterscheiden – einzig der ergänzte Messecharakter gibt dem noch eine besondere Note. Da laufen Großkonzerne wie das Facebook-Unternehmen Meta, Tesla und die CDU gemeinsam mit der Polizei und Amazon eingehüllt in Regenbogenflaggen mit, in der Hoffnung, ihre Produkte mit dem Versprechen zu verkaufen, ein bisschen weniger zu diskriminieren. Ganz egal, ob Facebook queere Aktivist*innen sperrt, Elon Musk mit seinem Vermögen die Alt-Right-Bewegung unterstützt und ein Brandenburger Wasserschutzgebiet zerstört, völlig gleich, ob die Polizei in den NSU 2.0 und rassistische Angriffe in Berlin-Neukölln verstrickt ist – solange Diana Ross von ihren Trucks »I’m coming out« trällert und ordentlich Party ist, sind alle willkommen. Aus diesem Grund ruft das linke queere Kollektiv Schwarzer Menschen und People of Color QTI*BIPoC United aus Berlin unter dem Motto »Reclaiming Pride« dazu auf, sich von den kommerzialisierten Christopher Street Days, die über die Sommermonate jedes Jahr stattfinden, abzugrenzen.

Während taz-Redakteur Jan Feddersen vom Volksfestcharakter ganz angerührt am nächsten Hetzartikel gegen transgeschlechtliche Personen und Muslim*innen feilt, organisieren sich überall in Deutschland immer mehr Menschen, um etwas neues, anderes zu schaffen – etwas wo auch sie Platz haben. Allein in Berlin bringen die alternativen Pride-Veranstaltungen in diesem Jahr deutlich über zehntausend Menschen auf die Straße. Mit Marzahn Pride, Dyke* March, Anarchistischem CSD, Internationalistischer Queer Pride und Transpride fanden von Juni bis August fünf linke Demonstrationen statt, die Raum für die Stimmen intersektional marginalisierter Queers schaffen wollten. Denn auch wenn es für weiße Schwule und Lesben aus der Mittelschicht in mancher Stadt immer einfacher wird, ein Leben zu leben, in dem der Widerspruch zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Heteronorm kaum noch spürbar ist – er bleibt doch bestehen. Teilhabe am neoliberalen Diversity-Versprechen ist klassenmäßig, geschlechtsförmig und rassistisch strukturiert. Wer sonst am Tisch sitzen möchte darf das, solange er arbeitet.

Und so durften queere Schwarze Menschen und People of Color beim Berliner CSD zwar singen und tanzen, Auftritte ansagen und in den Videos des Trägervereins überproportional häufig sichtbar werden – sprechen aber, Kritik üben, das durften sie nicht. Das QTI*BIPoC Kollektiv sollte auf der Bühne des diesjährigen CSD einen Preis für sein politisches Engagement im letzten Jahr erhalten. Es organisierte unter anderem eine große eigene Pride-Demonstration im Juni 2021 mit über 2500 Teilnehmer*innen. Nachdem der CSD die Preisverleihung zunächst groß ankündigte, antwortete er daraufhin auf Anfragen des Kollektivs und der Laudatorin und Musikerin Sookee, mehrere Monate nicht mehr. Weniger als 24 Stunden vor der Veranstaltung wurde die Preisverleihung dann abgesagt. Ironischerweise heißt der Preis »Soul of Stonewall Award« und erinnert an die Straßenschlachten kommunistischer transgeschlechtlicher Sexarbeiter*innen und Queers gegen Polizeigewalt und Diskriminierung in New York im Jahr 1969.

QTI*BIPoC möchte nun die Pride »reclaimen«, also sich wiederaneignen – und ruft zur antirassistischen, queerfeministischen und antikapitalistischen Demonstration am 10. September in Berlin auf. Es soll Raum geben, über jene Themen zu sprechen, die sonst unsichtbar und ungehört bleiben.

Damit grenzt sich das Kollektiv zeitlich, räumlich, thematisch und organisatorisch von den großen CSDs ab – verwirft sie gar. Es fordert eine Politik radikaler Solidarität und macht das Verschiedensein zum Ausgangspunkt für breitere, gemeinsame Kämpfe. Nicht im kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern in der Anerkennung der spezifischen Ausbeutungs- und Diskriminierungserfahrungen liegt Potenzial für eine solidarische Praxis und Utopie ohne Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat.

Tarek Shukrallah

ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in migrantischen bzw. antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-sharing-Plattform mit Blog partizipieren.org.