analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 675 | Geschichte

Kommunistische Queers oder queere Kommunist*innen?

Ob Klassenkampf oder queere Befreiung Vorfahrt haben sollte, wurde schon in den 1970er Jahren debattiert

Von Tarek Shukrallah

Ausschnitt aus der Illustration »Schwule in Bewegung« von Tino Bierling, die in den 1970ern im Arbeiterkampf erschien.

In Teil 2 der Reihe über Lesben und Schwule im Kommunistischen Bund (KB) zeigt Tarek Shukrallah, dass der Streit über Reform oder Revolution, Haupt- und Nebenwiderspruch und politische Strategien für die Befreiung von Queers schon in den 1970ern geführt wurde. Ist das heute überhaupt noch die richtige Frage?

Vor allem Werktätige sind von der Schwulenunterdrückung betroffen!« – so betitelte der Arbeiterkampf (AK) im Sonderheft »Kampf der Schwulenunterdrückung« 1976 einen Text zum Klassenunterschied und der Schwulenbewegung in Westdeutschland. Letztere ist da, wie AK selbst, gerade fünf Jahre alt. Beide hatten ihre Geburtsstunde im Jahr 1971. 2021 feiern beide, Schwulenbewegung in Deutschland und AK bzw. seine Nachfolgerin analyse&kritik (ak) ihren 50. Geburtstag. Höchste Zeit, die Klassenfrage als queere Frage wieder in den Fokus zu rücken.

Anders als die »gay pride«-Ansätze aus den USA, die ihren Gründungsmythos auf den Straßenkämpfen um das Stonewall-Inn in der New Yorker Christopher Street 1969 aufbauen, findet die Schwulenbewegung in Deutschland ihren Anfang in einem Film von Rosa von Praunheim. »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« (1971) ist eine radikale Selbstkritik an homosexueller Subkultur in den frühen 1970er Jahren. Der kommentierte Spielfilm stellt stereotype Szenen schwuler Lebenswelten dar und geht hart mit ihnen ins Gericht. Der Vorwurf: Schwule zögen sich in ihre Schutzräume zurück. Sie flüchteten vor der Realität, anstatt sich gegen die Zustände zur Wehr zu setzen: »Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden.« Der Kommentar stammt vom Soziologen Martin Dannecker, Mitbegründer der Roten Zelle Schwul in Frankfurt am Main. Der Film ist ein Skandal mit Ansage, er wird in den Wochen und Monaten nach seinem Erscheinen überall in Deutschland vor Schwulengruppen gezeigt und diskutiert – und führt schließlich zur Entstehung der Homosexuellen Aktion Westberlin wie auch zu weiteren linken Homosexuellengruppen in Deutschland.

Schwul ist nicht gleich schwul

Die radikale Linke in Deutschland tat sich indes immer wieder schwer mit Schwulen und auch Lesben. Ich berichtete in ak 673 unter anderem von Ressentiments in den K-Gruppen und linken Parteien in den 1970er Jahren. Die zaghafte Berücksichtigung von Lesben und Schwulen als Arbeitsgruppen im Kommunistischen Bund und ihr Zugang zur Zeitschrift Arbeiterkampf bildet eine überraschende historische Ausnahme. Die fehlende Verständigung über die Schwulenfrage in der Kommunistischen Bewegung kommentiert ein Hannoveraner Schwulenaktivist und KB-Aktiver in AK 127 frustriert und kämpferisch zugleich: »Diese, Eure Schwulenunterdrückung ist nicht ein Hirngespinst, das in den Köpfen einiger Polit-Trinen rumgeistert, sondern es ist massivster Ausdruck bürgerlicher, herrschaftsstabilisierender Sexualmoral in den Köpfen der Linken. Der Kampf dagegen ist nicht nur von Schwulen zu führen, sondern von allen Genossen.« Dabei liegen die Herausforderungen auf der Hand: »Schwulenunterdrückung ist klassenmäßig. Wenn man die einzelnen Repressionsmaßnahmen durchgeht, die zur Diskriminierung von Schwulen angewendet werden, so wird deutlich, dass sich diese nur im Ausnahmefall gegen bourgeoise Schwule richten. Schwulenhetze ist ein Teil der bürgerlichen Moral. Und die gesamte bürgerliche Moral richtet sich gegen die Arbeiterklasse«, argumentiert AK in einem Artikel des Sonderheftes »Kampf der Schwulenunterdrückung« (1976). Selbstverleugnung, Flucht in die Subkultur und eine hohe Suizidalität unter Schwulen seien Folgen einer rigiden bürgerlichen Moral, die vor allem proletarische Schwule hart treffe. Ein Coming-Out Werktätiger führe zu umfassender Isolation, Missachtung und häufig zur konsequenzenreichen Kündigung. Schwule Paare fänden keine Wohnung und wenn doch, könnte ihre Offenbarung zur Kündigung führen.

Innerhalb queerer Bewegungen ist die Klassenfrage historisch kontrovers.

»Der gewöhnliche Homosexuelle« von Reimut Reiche und Martin Dannecker ist 1974 die erste Studie zu homosexuellem Leben in der Bundesrepublik. Aus ihr geht hervor, dass etwa 13 Prozent der Befragten bereits einen Suizidversuch unternommen haben. »Von derlei Ungemach bleibt der bourgeoise Schwule verschont. Er hat seine eigene ›Öffentlichkeit‹ und sucht die ›gewöhnliche‹ Subkultur nur auf, um sich einen ›Bubi‹ aus dem Volk zu picken. Außerdem: in den Kreisen, wo er verkehrt, ist ›Individualismus‹ (= ein bisschen schwul sein) sogar chic«, kommentiert AK dazu in seinem Sonderheft. Nur in seltenen Fällen sei Schwulenunterdrückung bei Auseinandersetzungen innerhalb der Bourgeoisie ein Thema.

Innerhalb queerer Bewegungen in Deutschland ist die Klassenfrage historisch kontrovers. Der »Tuntenstreit« 1973/1974 macht das offenbar. Infolge des Pfingsttreffens der Homosexuellen Aktion Westberlin (1973) rückte die Frage nach den vordergründigen Zielen emanzipatorischer Politik auf das Tableau: Geht es zuallererst um einen marxistisch-materialistischen Klassenkampf der Massen oder um eine kulturpolitische Emanzipation für das Recht auf sexuelle Differenz? In der Rosa Winkel Publikation »Tuntenstreit. Theoriediskussion der Homosexuellen Aktion Westberlin« wird die zunächst in der PROKLA geführte theoretische Auseinandersetzung festgehalten. Mimi Steglitz (Manfred Herzer) und Thorsten Graf argumentieren darin, dass sich die Homosexuellenunterdrückung als Folge vorkapitalistischer patriarchaler Ökonomien historisch im Kapitalismus selbst auflösen werde, da dieser keine Verwendung für sie finde. Die bürgerliche Gesellschaft selbst werde »objektive Bedingungen für die Integration der Minderheit in einem von besonderen Widersprüchen gekennzeichneten Prozess« hervorbringen. Homosexualität stehe in keinem Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, Homophobie würde sich demnach mit der Abschaffung des Kapitalismus auflösen.

Dem entgegen postulieren Helmut Ahrens, Volker Bruns, Peter Hedenström, Gerhard Hoffmann und Reinhard von der Marwitz: »Uns geht es nicht um eine Rechtfertigung oder bessere Integrierung der Homosexualität in die Gesellschaft. Die revolutionierende Forderung nach allseitiger Entfaltung der Sexualität leiten wir aus der Organisierung unseres offenen sexuellen Anspruchs her.« Für sie steht der Kampf um sexuelle Emanzipation im Vordergrund und nicht zuerst der Klassenkampf.

Die Abhängigkeit von ihrer eigenen Erwerbstätigkeit ist bei einer Lesbierin besonders groß, da sie sich bei Verlust ihres Arbeitsplatzes nicht auf einen Ehemann stützen kann. So ist sie ständig gezwungen, sich ihrer Umwelt zu verleugnen und der Öffentlichkeit Theater vorzuspielen.

Aktivist*innen des Kommunistischen Bundes in den 70ern im Arbeiterkampf

In AK spiegeln Debattenbeiträge wie der eingangs zitierte Text die Kontroverse. Es geht um die auch heute wichtige Frage, welche Funktion geschlechterspezifische Unterdrückung, Queerfeindlichkeit und Rassismus im Kapitalismus einnehmen. Sind die verschiedenen Unterdrückungsformen innerhalb der Verhältnisse auflösbar oder nur durch eine Befreiung von den kapitalistischen Verhältnissen abzuschaffen? Aus diesen Fragen ergibt sich schließlich eine dritte, strategische: Ist der Fokus auf das Klassenkollektiv oder der auf das Anderssein und das Binnenverhältnis innerhalb der Klasse der zentrale Motor für Veränderung?

Reform oder Revolution?

Im Gespräch erklärt mir Manfred Herzer rückblickend: »Die Schwulenbewegung war sich der Dialektik von Reform und Revolution bewusst.« Die Klassenförmigkeit queerer Lebensverhältnisse war ein zentrales Thema in den thematischen Seiten des AK. Im Hinblick auf die Diskriminierung lesbischer Frauen formulieren Hamburger Aktivist*innen des Kommunistischen Bundes etwa: »Lesbierinnen werden (auch in der BRD) dreifach unterdrückt – als Arbeitskraft, als Frau und als Homosexuelle. Die Unterdrückung, der alle Frauen ausgesetzt sind, trifft sie noch um ein Vielfaches stärker. Während Frauen im Beruf generell unterprivilegiert sind und niedriger bezahlt werden als Männer, muss eine lesbische Frau zusätzlich damit rechnen, von ihrem Arbeitsplatz gefeuert zu werden, wenn ihr Schwulsein bekannt wird, wobei sie zivilrechtlich in diesem Fall keinerlei Schutz genießt. Die Abhängigkeit von ihrer eigenen Erwerbstätigkeit ist zudem bei einer Lesbierin besonders groß, da sie sich bei Verlust ihres Arbeitsplatzes nicht auf einen Ehemann stützen kann. So ist sie ständig gezwungen, sich ihrer Umwelt zu verleugnen und der Öffentlichkeit Theater vorzuspielen.«

Gewiss, diese Kritik bezieht sich auf eine fordistische Gesellschaft, in der ein heterosexistisches Familienernährermodell und der »Klassenkompromiss« den Alltag vieler Proletarier*innen prägen. Gleichwohl bleiben zentrale Elemente dieser Analyse aktuell. Die Lebensverhältnisse lohnabhängiger Queers und Migrant*innen, Schwarzer Menschen und People of Color, von Sexarbeiter*innen und Menschen mit Behinderungen sind auch in der Gegenwart systematisch destabilisiert und zeichnen sich durch ökonomische, soziale und kulturelle Unsicherheit sowie alltägliche Diskriminierung und Gewalt aus.

Der*die Aktivist*in und Sozialwissenschaftler*in Volker Woltersdorff plädiert in diesem Sinne für einen erweiterten Arbeitsbegriff, durch den »die sexuelle Dimension der Subjektivierung durch Arbeit« in den Blick genommen werden könne. Nicht entweder das Queersein oder die Lohnabhängigkeit entscheiden über den Platz in der Gesellschaft – sie wirken gemeinsam. Die Norm, in heterosexuellen Kleinfamilien zu leben und zu wirtschaften, dient im Kapitalismus auch der Schaffung differenzierter Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die Einzelnen individualisierte Lebenschancen zuweist. Sie destabilisiert und verunsichert und schafft dadurch prekäre Verhältnisse, in denen etwa proletarische Queers in besonderen Abhängigkeiten stehen. Sie sind seltener in Normalarbeitsverhältnissen und werden auf dem Wohnungsmarkt besonders häufig verdrängt.

Das verdeutlichen auch gegenwärtige Studien. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) konstatiert etwa: »LGBs üben andere Berufe aus und verdienen weniger«. Queere Menschen stehen, so das Institut weiter, unter einem stärkeren Druck, höhere Abschlüsse zu machen und besonders häufig in prekären Angestelltenverhältnissen in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung tätig zu werden (DIW, 2017). Es gibt keine Diskriminierungsfreiheit in der kapitalistischen Totalität. Anerkennungs- und Umverteilungskämpfe von unten sind deshalb nicht gegensätzlich, sie hängen unteilbar zusammen.

Sicher, neoliberale Diversity-Programme und die Öffnung der Ehe mögen in einem urbanen, mittelständischen Umfeld inzwischen ein Coming-Out am Arbeitsplatz in manchen Fällen ermöglichen. Für die breite Mehrheit proletarischer Queers ist das aber weiterhin von der Realität weit entfernt. Für sie trifft diese allumfassende Verunsicherung weiterhin zu: Sie können sich nicht auf informelle oder familiäre soziale Netzwerke verlassen, leben unter ständiger Offenbarungsangst und mit dem Risiko auch gewaltvoller Diskriminierungserlebnisse sowie in unsicheren Arbeitsverhältnissen. Im Kapitalismus hat die Diskriminierung queerer Menschen und anderer marginalisierter Gruppen eine spezifische Funktion: Sie individualisiert und prekarisiert systematisch die Lebensverhältnisse der Betroffenen. Daraus ergeben sich strategische Konsequenzen für eine emanzipatorische Linke, die aus den vorangegangenen Kämpfen queerer und of Color Kommunist*innen schöpfen können. In den nächsten Teilen dieser Reihe wende ich mich der Frage zu, welche Konsequenzen das sind.

Tarek Shukrallah

ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in migrantischen bzw. antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-sharing-Plattform mit Blog partizipieren.org.