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Der chilenische Traum ist aus

Vier Jahre nach der Revolte geht es für viele Linke nur noch darum, der extremen Rechten im Land Einhalt zu gebieten

Von Malte Seiwerth

Beatriz Hevia spricht auf einer Tagung des chilenischen Verfassungsrates. Als dessen Präsidentin hat sie deutlich gemacht, dass ihr nichts an einem Bruch mit alten »Traditionen« liegt. Foto: Malte Seiwerth

In Cristina Doradors Stimme schwingt große Enttäuschung mit: »Sie haben unsere Arbeit, all das, was wir unternommen und vorgeschlagen haben, verneint und geleugnet«. Die ehemalige Abgeordnete für den Verfassungskonvent in Chile, der vom 4. Juli 2021 an ein Jahr lang in der Hauptstadt Santiago getagt hatte, bezieht sich auf den neuen Verfassungsentwurf, über den die Bevölkerung am 17. Dezember abstimmen wird. Der erste Entwurf aus dem Jahr 2022 stellte zugleich den ersten Versuch dar, die Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur unter General Pinochet hinter sich zu lassen. Er war jedoch von der Bevölkerung mit deutlicher Mehrheit abgewiesen worden. Viele machten dafür auch eine beispiellose Fake-News-Kampagne der rechten Opposition verantwortlich.

Damals verfasste ein linksdominierter Konvent den Entwurfstext, der weitreichende soziale Rechte für alle Bevölkerungsgruppen garantierte. Die Mikrobiologin Dorador saß für die Umweltbewegung Modatima im Konvent und unterstreicht gegenüber ak den feministischen Charakter des ersten Entwurfs, der zudem den Umweltschutz und den Kampf gegen die Klimakrise vorangetrieben hätte. Der verfassungsgebende Prozess entsprang damals aus der sozialen Revolte, die im Oktober 2019 ihren Anfang nahm, und sollte die Forderungen der Straße in die Politik tragen. Damals richteten sich die Proteste gegen die rechte Regierung unter Sebastián Piñera und das neoliberale Wirtschaftssystem. Viele forderten eine Erneuerung Chiles und einen deutlichen Bruch mit der Militärdiktatur, aus deren Zeiten die aktuell gültige Verfassung noch stammt. Doch der Traum von einer gerechteren Gesellschaft endete abrupt am 4. September 2022, als sich knapp 62 Prozent der Wähler*innen gegen den Entwurf aussprachen.

»Wir wollten da nicht mitmachen«

Nach einem zweiten verfassungsgebenden Prozess steht nun ein Text zur Abstimmung, den viele Linke sogar gegenüber der aktuellen Verfassung aus Pinochet-Zeiten als gesellschaftlichen Rückschritt verstehen. Dabei spiegelt dessen Inhalt die aktuelle politische Lage im Land wider: Die chilenische Gesellschaft rückt nach rechts.

Viele linke Aktivist*innen enthielten sich dem zweiten Prozess.

Viele linke Aktivist*innen enthielten sich dem zweiten Prozess. »Wir wollten da nicht mitmachen«, meint Dorador – sie hätten auch nicht gedurft. Die im Parlament vertretenen Parteien entschieden sich für einen »geleiteten Prozess«, der »extreme« Positionen dieses Mal verhindern sollte. Eine Parlamentskommission, in Chile euphemistisch Expert*innenkommission genannt, schrieb einen ersten Entwurf, der von einem demokratisch gewählten Verfassungsrat überarbeitet und danach erneut von der Kommission ergänzt wurde. Mitmachen durften dieses Mal nur Parteien, soziale Bewegungen und parteilose Wahllisten wurden explizit ausgeschlossen. Mit insgesamt 33 von 52 Sitzen gehört eine Mehrheit der Abgeordneten im gewählten Verfassungsrat rechten und rechtsextremen Parteien an.

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Für Dorador stellt der aktuelle Verfassungsentwurf das Gegenteil von dem dar, worum sie damals im Konvent gekämpft hatte. »Sie haben nicht nur für die gleichen Prozessorgane andere Namen verwendet, sondern konzentrieren sich auch auf andere Themen«, meint Dorador am Telefon. »Dieser Entwurf ist eine Kopie des Regierungsprogramms von Kast«. Der rechtsradikale José Antonio Kast, Sohn eines geflohenen Wehrmachtssoldaten, verlor im Jahr 2021 bei der Präsidentschaftswahl gegen den amtierenden linksreformistischen Gabriel Boric.

In den sozialen Medien feiert der ehemalige Präsidentschaftskandidat Kast viele Artikel des neuen Verfassungsentwurfs als Erfolge seiner Partei. Mit 22 Sitzen sind die Republicanos die mit Abstand stärkste Fraktion im Konvent. Die von ihr eingebrachten Formulierungen schreiben etwa »das Recht auf Leben ab Zeugung«, die Steuerbefreiung des Eigenheims auch über den bisherigen Grenzwert von etwa 50.000 Euro hinaus und die sofortige Abschiebung irregulärer Migrant*innen fest.

Dorador ist darüber erschüttert. »Das ist keine Carta Magna oder eine Vereinbarung unter Gleichen. Das sind schlichtweg populistische Gesetzestexte, die so in keine Verfassung gehören.«

Keine Neugründung Chiles

In der nationalen Presse verteidigt die Präsidentin des Rates, Beatriz Hevia, den Entwurf. Der Text beziehe sich auf die chilenische Tradition und logischerweise werde »jeder, der weiterhin der Idee einer Neugründung anhängt, diesen Text nicht als sein Zuhause empfinden«, so die Politikerin gegenüber der chilenischen Zeitung La Tercera. Hevia ist Parteikollegin von Jose Antonio Kast und Tochter deutscher Siedler*innen. Auf eine Interviewanfrage der ak reagierte sie nicht.

Während linke Bewegungen wie Modatima vom zweiten Prozess ausgeschlossen wurden und die meisten Aktivist*innen nicht über Parteien teilnehmen wollten, folgten linke Parteien und einzelne Parteilose dem Aufruf, einen weiteren Versuch zu wagen. So auch der Regisseur und Politiker Miguel Littin, der in den 1960er Jahren durch seine sozialkritischen Filme bekannt geworden war und über einen Listenplatz der Sozialistischen Partei in den Rat gewählt wurde.

Während einer Mittagspause des Verfassungsrats sitzt der 81-Jährige etwas erschöpft auf einem Sofa in dem langen Korridor des ehemaligen Parlamentsgebäudes, in dem der Verfassungsrat tagt.

Er hätte nicht geahnt, dass die rechten Kräfte eine Mehrheit im Verfassungsrat erlangen würden, sagt Littin. Gleichzeitig meint er, »ich war zu Beginn recht optimistisch, dass aus dem Prozess dennoch ein fortschrittlicher Text entstehen würde. Doch mittlerweile ist meine Perspektive eher pessimistisch«. Die Mehrheit im Rat hätte sich ohne jeglichen Kompromiss gegen die linke Minderheit durchgesetzt.

Er hätte sein Ziel nicht erreicht, mehr soziale Rechte in den Verfassungsentwurf zu integrieren. Doch gleichzeitig versucht Littin zu beschwichtigen: »Diese Verfassung ist ein Rückschritt, aber sie etabliert keine Diktatur«, sagt er und sieht dennoch enttäuscht aus.

Einen Lichtblick gibt es indes tatsächlich: Derzeit sagen Umfragen voraus, dass nur 29 Prozent der Wähler*innen für den neuen Verfassungsentwurf stimmen werden. Selbst unter ehemaligen Wähler*innen des rechtsextremen José Antonio Kast sollen sich bislang nur die Hälfte für den Verfassungsentwurf aussprechen. Doch die Republicanos geben sich optimistisch. In verschiedenen Interviews kündigte Kast an, seine Partei werde »das Blatt noch wenden«.

Auch Littin fürchtet, dass dies geschehen könnte. »Die rechten Parteien haben so gut wie alle Medien auf ihrer Seite. Eine gut gemachte Kampagne kann die öffentliche Meinung beeinflussen«, sagt der Filmemacher und spielt damit auch auf die Erfahrungen aus der ersten Abstimmung an. Sollte auch die Abstimmung im kommenden Dezember scheitern, dürfte es auf absehbare Zeit keinen weiteren verfassungsgebenden Prozess mehr geben. Sowohl die linksreformistische Regierung unter Gabriel Boric, als auch die rechte Opposition haben das bereits deutlich gemacht.

Sicherheit und traditionelle Werte

Klar ist aber auch: Die rechten Republicanos schwimmen mit ihren politischen Vorstößen auf der aktuellen Stimmungswelle. Nachdem selbst in den Ergebnissen des rechtsangehauchten Umfrageinstituts Cadem in den Jahren 2019 und 2020 soziale Fragen wie Bildung und Gesundheit oder Umweltthemen die höchsten gesellschaftlichen Zustimmungswerte erzielten, sind es heute Themen wie politische Stabilität, Sicherheit, traditionelle Werte und die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg.

In einer Umfrage vom September 2023 gaben die Befragten dem Präsidenten Nayib Bukele aus El Salvador unter allen lateinamerikanischen Präsident*innen die Bestnote. Bukele verfolgt seit nunmehr eineinhalb Jahren mit brutaler Gewalt sogenannte Drogenbanden. Dabei werden Menschen ohne fairen Prozess in überfüllte Gefängnisse eingesperrt, mit dabei auch Oppositionelle und Gewerkschaftler*innen.

Auch in Chile hat eine Law-and-Order-Strategie Einzug gehalten.

Auch in Chile hat diese Law-and-Order-Strategie Einzug gehalten. Über das laufende Jahr wurden vom rechtsdominierten Parlament, in dem die Linke nur über gut ein Drittel der Sitze verfügt, mehrere Gesetze erlassen, die Polizist*innen noch mehr Straffreiheit zusichern und zugleich das Strafmaß für verschiedene Delikte erhöhen, insbesondere für solche, die in Zusammenhang mit sozialen Protesten eine Rolle spielen.

Im April verabschiedete das Parlament ein Gesetz, dass für Polizist*innen den Tatbestand der Selbstverteidigung deutlich breiter auslegt. Die auch rückwirkend geltende Norm, überträgt den Beamt*innen im Einsatz die Glaubhaftmachung, ob etwa der Einsatz von Zwangsmitteln oder Schusswaffen gerechtfertigt war oder nicht. In diesem Rahmen wurden nun auch Polizist*innen freigesprochen, die in erster Instanz wegen des Tatbestands der Folter während der Proteste von 2019 verurteilt worden waren. Auch Todesfälle im Rahmen von Polizeieinsätzen fallen seit April unter dieses neue Gesetz.

Im August und September wurden zwei weitere Gesetze vorgeschlagen, die den ungerechtfertigten Besitz von Brennmitteln sowie Landbesetzungen mit Gefängnis bestrafen sollten. Gegen das zweite Gesetz legte die Regierung von Gabriel Boric ihr Veto ein, da es den Landbesitzer*innen nicht nur erlaubt hätte, selbstständig das besetzte Grundstück zu räumen; der Gesetzentwurf wollte diesen dabei auch absolute Straffreiheit zusichern. 

Doch auch die linksreformistische Regierung stimmt immer wieder in den Chor der rechten Law-and-Ordner-Verfechter*innen ein. Bereits im Oktober 2022 erklärte Boric, man werde »Kriminelle wie Hunde verfolgen«. Wenig später distanzierte er sich von seiner Wortwahl. Dennoch ist etwa die Polizeireform, Kernforderung der sozialen Proteste von 2019 und einst zentrales Wahlversprechen von Boric, in weite Ferne gerückt. (ak 689) Immer noch sind jene Generäle im Amt, die verantwortlich waren für die brutale Polizeirepression während der Proteste von 2019. Damals kam es zu über 450 bleibenden Augenverletzungen, zu mehreren dutzend Toten und über tausend Anzeigen wegen Folter und Misshandlungen auf den Polizeiposten.

Bis heute gibt es kaum Aufklärung. Zum vierten Jahrestag der Proteste von 2019 erklärte das chilenische Büro von Amnesty International, dass nur 0,2 Prozent aller insgesamt über 10.000  Anzeigen bislang zu einem Urteil geführt haben. »Wir sind zutiefst besorgt«, schreibt die Organisation auf ihrer Website, denn schon bald könnten die meisten Vergehen der Staatsgewalt von damals nicht mehr juristisch verfolgt werden. Viele der Anzeigen beziehen sich auf Delikte, die nach fünf Jahren verjähren.

Ungewissheit nach dem Verfassungsprozess

Die ehemalige Verfassungsabgeordnete Dorador blickt vor diesem Hintergrund pessimistisch in die Zukunft des Landes. Die Politik würde trotz der linksreformistischen Regierung von rechten Parteien geprägt, insbesondere der Partido Republicano. »Die Republicanos reagieren auf aktuelle Themen, die durchaus präsent sind«, sagt Dorador, doch in diesem Land wolle sie nicht leben. Als Teil jener Gruppe, die den ersten verfassungsgebenden Prozess mitprägte, würde sie bis heute angefeindet. »Wir werden diskriminiert, belästigt und beschimpft«, meint Dorador. Viele ehemalige Abgeordnete hätten große Schwierigkeiten eine Arbeit zu finden. Die ehemalige Präsidentin des Rates und Mapuche, Elisa Loncon, wurde von rechter Seite über mehrere Monate öffentlich in ihrer akademischen Position in Frage gestellt. »Das ist eine Art der Verfolgung«, ist Dorador überzeugt.

So ist in Chile der Traum von großen Veränderungen mittlerweile verblasst. Was bleibt ist der Versuch Einiger, das Schlimmste noch zu verhindern. Sowohl Littin als auch Dorador werden in der kommenden Abstimmung gegen den zweiten Verfassungsentwurf stimmen. Was danach kommt, ist ungewiss.

Malte Seiwerth

ist Redaktionsmitglied des Schweizer Onlinemagazins Das Lamm. Er studierte Geschichte in Chile, lebt derzeit in Santiago und schreibt von dort für verschiedene deutschsprachige Medien.

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