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Keine Rückschritte

Die Frauenbewegung Rojavas ist entschlossen, ihre Errungenschaften zu verteidigen – ein Gespräch mit dem Frauenrat Nord- und Ostsyriens zur aktuellen Lage im Land

Von Frauendelegation aus Deutschland

Vier Vertreterinnen der Koordination des Frauenrates von Nord- und Ostsyrien sitzen während des Interviews in einem Raum um einen Kaminofen.
Wie der Frauenrat von Nord- und Ostsyrien daran arbeitet, die Beteiligung von Frauen am politischen Prozess sicherzustellen, erzählen Vertreterinnen der Koordination im Interview. Foto: Anne Ehrlich

Knapp fünf Monate nach Assads Sturz im Dezember 2024 und der Machtübernahme der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat Übergangspräsident und HTS-Führer al-Jolani, der mittlerweile mit seinem bürgerlichen Namen Ahmad al-Shaara auftritt, eine Übergangsregierung ernannt. Die Machtübernahme der HTS in Damaskus sorgte besonders bei Frauen und Minderheiten für Angst und Unsicherheit. Während der HTS nahestehende Gruppen Massaker an Alawit*innen verüben, sind die Errungenschaften der Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien/Rojava bedroht, auch durch die anhaltenden türkischen Angriffe. Eine Frauendelegation aus Deutschland, die im März nach Rojava reiste, sprach mit Vertreterinnen der Koordination des Frauenrates von Nord- und Ostsyrien über die aktuelle Lage.

Wie ist der Frauenrat von Nord- und Ostsyrien entstanden und was macht er?

Der Frauenrat entstand 2019 auf der Basis der jahrelangen Organisierung von Frauen, die bereits vor der Rojava-Revolution 2012 begann. Er wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, die bestehenden Frauenstrukturen zu vereinen und dafür zu sorgen, dass sie in alle Entscheidungsprozesse der Selbstverwaltung eingebunden sind. Der Frauenrat prüft und erarbeitet etwa neue Gesetzesentwürfe. Aktuell sammelt unser Verfassungskomitee die Perspektiven von Frauen aus Nord- und Ostsyrien, um sie in einer künftigen syrischen Verfassung zu verankern. Entwürfe werden derzeit von Vertreter*innen verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen diskutiert. Wir holten auch die Unterstützung von Fachleuten außerhalb Nord- und Ostsyriens ein. Diese intensive Vorarbeit ist entscheidend, um vorbereitet zu sein – für den Tag, an dem ein demokratisches Syrien Wirklichkeit wird. Daneben leisten wir diplomatische Arbeit. Wir treffen uns mit staatlichen Institutionen und mit Strukturen der Zivilgesellschaft. Das politische Bewusstsein der Frauen in Nord- und Ostsyrien entwickelt sich stetig weiter – die politische Lage auch. Entsprechend werden wir die Struktur des Rates künftig an die aktuellen Entwicklungen anpassen und um gesamtsyrische Perspektiven erweitern – eine Aufgabe, die mit viel Verantwortung verbunden ist.

Seit dem Sturz des Assad-Regimes hat die islamistische HTS in Damaskus die Kontrolle übernommen, Ahmad al-Sharaa, ehemaliger Al-Nusra-Anführer, ist seit Ende Januar Übergangspräsident. Im Westen Syriens haben regierungsnahe Kräfte Massaker an der alawitischen Bevölkerung verübt. Wie ordnet ihr diese Entwicklungen ein?

Die HTS vertritt eine islamistische Ideologie, die Frauen abwertet. Ihre Machtübernahme hat viel Besorgnis unter den Frauen in Syrien ausgelöst. Schon früh war abzusehen, dass ihre vermeintlichen Zugeständnisse an Frauenrechte kaum mehr als symbolisch sind. Als im nächsten Schritt europäische Diplomat*innen und arabische Staaten die Regierung anerkannten, haben sie deren Macht legitimiert und ihnen die Chance gegeben, ihr »Demokratieverständnis« unter Beweis zu stellen. Zwar sehen wir einzelne Bemühungen, aber die Gewalt, Massaker und Vergewaltigungen dauern an. Was alawitische Frauen bei den Massakern erleben mussten, hat auf schreckliche Weise bestätigt, für welche Ideologie die HTS steht. Diese richtet sich nicht nur gegen Frauen, sondern gegen die ganze Vielfalt der Gesellschaft in Syrien. Gerade deshalb sehen wir es als unsere dringlichste Aufgabe, unsere Selbstorganisierung weiter auszubauen – damit Frauen sich kollektiv gegen solche Gewalt verteidigen können. Im Januar organisierten wir als Frauenrat von Nord- und Ostsyrien deshalb ein Frauenforum mit 500 Teilnehmerinnen.

Uns ist bewusst, was wir durch unsere Kämpfe bisher erreicht haben. Diese Errungenschaften sind nicht verhandelbar. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, dass Frauen aktiv in alle politischen Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Frauen müssen von Beginn an in die Ausarbeitung einer neuen Verfassung einbezogen werden. Die Vision eines demokratischen Syriens wollen wir gemeinsam mit allen Frauen in Syrien weiterentwickeln.

Viele Frauen in Syrien vertrauen der HTS-Regierung nicht, vor allem nach den Massakern an den Alawit*innen.

Am 10. März wurde ein Abkommen zwischen dem Verteidigungsbündnis der autonomen Selbstverwaltung (SDF) und der HTS geschlossen. Darin wurde sich auf einige Eckpunkte für den Aufbau eines demokratischen Syriens geeinigt. Die Eingliederung der SDF und aller zivilen Institutionen der Selbstverwaltung in den syrischen Staat wird unter anderem an die Garantie grundlegender Rechte für alle gesellschaftlichen Gruppen Syriens geknüpft. Auch die Sicherstellung einer Waffenruhe in ganz Syrien ist Teil der Vereinbarung. Wie ist diese zustande gekommen?

Viele Frauen in Syrien vertrauen der HTS-Regierung nicht, vor allem nach den Massakern an den Alawit*innen. Sie haben an die SDF und, darin vertreten, die Frauenverteidigungeinheiten YPJ appelliert, Verantwortung für ganz Syrien zu übernehmen, insbesondere für den Schutz und die Verteidigung der Frauen. Wir sehen dieses Abkommen zunächst als etwas Positives, auch wenn die vereinbarten Punkte noch nicht vollständig geklärt sind. Wir haben die Hoffnung, dass dadurch zunächst der Krieg gestoppt wird.

Die SDF führten bereits mehrere Gespräche mit der HTS-Regierung, die sich anfangs schwierig gestalteten. Es wurde schnell deutlich, wie sehr sich unsere Perspektiven unterscheiden. Es gibt auch Differenzen im Umgang mit den türkischen Angriffen auf die Selbstverwaltung, gegen die die HTS nichts unternimmt. Doch unser Ziel bleibt, eine Lösung für die Menschen in Syrien zu finden – deshalb setzen wir den Dialog fort. Der unterzeichnete Vertrag ist aus unserer Sicht notwendig, damit der Schutz von Minderheiten garantiert wird und Frauen ihren Platz in allen politischen Prozessen einnehmen können.

Wie kommt es, dass Mazlum Abdî, der Generalkommandant der SDF, Gesprächspartner für dieses Abkommen war und nicht eine Struktur der Zivilgesellschaft?

Dieses Bündnis wurde geschlossen, um den Krieg und die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien zu stoppen. Ein Grund, warum Mazlum Abdî unterschrieben hat, ist, dass der innerkurdische Dialog noch nicht abgeschlossen ist. Wenn es soweit ist, ist der nächste Schritt, dass eine kurdische Delegation nach Damaskus fährt und ihre Bedingungen und Forderungen vorstellt. Wir arbeiten auch immer noch an einer gemeinsamen Stellungnahme als Frauen. Wir müssen den Aufbau eines demokratischen Syriens mitgestalten. Aber solange der Krieg weitergeht, können wir damit nicht anfangen. Darum war das jetzt der erste Schritt – ein Waffenstillstand als Türöffner für den Dialog.

Mazlum Abdî hat den Vertrag auch nicht allein aufgesetzt. Vor dem Abkommen haben viele Gespräche stattgefunden. In der autonomen Konferenz der Selbstverwaltung haben verschiedene Strukturen und Bevölkerungsgruppen miteinander diskutiert. Daraus haben sich Schwerpunktthemen, die alle betreffen und wichtig fanden, herauskristallisiert. Diese gemeinsamen Interessen kommen im Abkommen zum Ausdruck.

Der Frauenrat von Nord- und Ostsyrien

wurde 2019 gegründet, um alle Frauenstrukturen in der Region zu vereinen. Der Rat ist eine offene Struktur und vertritt aktuell 52 Institutionen, in denen sich arabische, kurdische, armenische, assyrische und turkmenische Frauen organisieren, sowie Einzelpersonen. Zu den Arbeitsbereichen gehören die Entwicklung von Strategien gegen Gewalt an Frauen, die Stärkung der bisherigen Errungenschaften der Frauenrevolution und die Stärkung der Beteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen. Die Delegation sprach mit Emine Omer, Ebir Hesaf, Sterr Kasim und Siham Amouke von der Koordination des Rates.

Wie wird die konkrete Umsetzung aussehen? Und welche Herausforderungen seht ihr?

Die Punkte im Abkommen sind insgesamt recht allgemein gehalten. Besonders wichtig ist jetzt, dass die SDF ihre Eigenständigkeit behalten und auch, dass die Selbstverwaltung mit all ihren Institutionen bestehen bleibt und ihre Arbeit fortsetzt. Um die konkrete Umsetzung des Abkommens zu klären, sollen Komitees gebildet werden. Diese werden unter anderem ausarbeiten, wie eine Kooperation beispielsweise im Bildungsbereich aussehen kann. Wir betreiben Schulen und Universitäten, die bislang vom syrischen Regime nicht anerkannt wurden. Laut Vereinbarung muss jedoch unser Recht, in unserer eigenen Sprache zu unterrichten und zu studieren, künftig anerkannt werden. Ein weiterer zentraler Punkt betrifft die Rechte von Minderheiten, diese müssen ebenfalls Teil einer künftigen Verfassung Syriens sein. Auch das Recht von Binnengeflüchteten, in ihre Herkunftsregionen zurückzukehren, etwa nach Afrîn und Serê Kaniyê, ist ein zentrales Anliegen. Zu all diesen und weiteren Fragen werden die Komitees in der kommenden Phase arbeiten müssen.

Natürlich bestehen weiterhin Sorgen im Zusammenhang mit dem Abkommen. Die Angriffe des türkischen Staates dauern an, die Lage bleibt angespannt. Auch stellt sich die Frage, wie die verschiedenen Strömungen innerhalb der HTS auf diese Entwicklungen reagieren werden. Viele ausländische Islamisten, die zuvor mit dem Islamischen Staat (IS) gekämpft haben, sind Teil der HTS. Das nährt die Sorge vor einer Reorganisierung von Kräften wie dem IS. Gleichzeitig schöpfen wir Hoffnung: Dieses Bündnis könnte dazu beitragen, dass gerade jene radikalen Gruppen, die mit der Regierung zusammenarbeiten, geschwächt werden. Ein Komitee wird sich bis Ende des Jahres vertieft mit den einzelnen Punkten des Abkommens auseinandersetzen. An seiner Arbeit wird sich zeigen, wie ernst es der Übergangsregierung mit diesem Bündnis ist.

Inwiefern werden Frauen an diesem Prozess beteiligt sein?

Das Komitee ist noch nicht gebildet. Nach unseren Prinzipien – und denen der Autonomen Selbstverwaltung – ist klar, dass dieses Komitee zu mindestens 50 Prozent aus Frauen bestehen muss. Eine Quote wurde bisher jedoch noch nicht vereinbart, was eine ernste Gefahr ist. Die frühere syrische Verfassung war in Teilen relativ offen, doch die Regelung von Personenstands- und Familienangelegenheiten beruhte auf der Scharia. Auf dieser Grundlage wurden Frauen systematisch unterdrückt und ausgebeutet. Diese historische Realität darf nicht ausgeblendet werden – weder bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung noch bei den Gesetzen, die Frauen betreffen. Eines ist für uns Frauen aus Nord- und Ostsyrien jedoch klar: Wir werden keine Rückschritte hinnehmen. Das, was wir bisher mit unseren Kämpfen erreicht haben, ist nicht verhandelbar. Genau an diesen Punkten wird sich zeigen, wie ernst es allen Beteiligten mit einem demokratischen und freien Syrien ist.

Frauendelegation aus Deutschland

reiste im März 2025 nach Nord- und Ostsyrien, um Strukturen der Selbstverwaltung und der Frauenbewegung zu treffen. Sie bestand aus Delegierten verschiedener feministischer Gruppen und wurde organisiert von der Frauenbewegung Kongra Star, der feministischen Vernetzung Women Defend Rojava und Cênî, dem kurdischen Frauenbüro für Frieden.