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|ak 694 | Soziale Kämpfe

Standing Ovations für den Klassenkampf

Auf der Streikkonferenz in Bochum diskutierten 1.500 Teilnehmer*innen, warum die alten Gewerkschaftsstrategien nicht die Antwort auf aktuellen Konflikte sind 

Von Sebastian Bähr und Lene Kempe

Bei der Streikkonferenz in Bochum hält Anuschka Mucha, die von hinten zu sehen ist, ihre Handykamera auf das Publikum gerichtet. Nach ihrem Bericht über einen elfwöchigen Streik an den Unikliniken in NRW gab es standing ovations.
Hoffentlich war gerade BeReal-Zeit: Standing Ovations nach einem Bericht von Anuschka Mucha über den elfwöchigen Streik an den Unikliniken in Nordrhein Westphalen. Foto: Niels Holger Schmidt

Es freut mich sehr, dass ein größer werdender Teil der Bewegung die Notwendigkeit zur gewerkschaftlichen Erneuerung erkennt«, sagt Tom Knedlhanz, Gewerkschaftssekretär der IG Metall Gera gegenüber ak. Er war einer von 1.550 Teilnehmer*innen aus Gewerkschaften, Betrieben, Bewegungen und Politik, die Mitte Mai in Bochum zusammenkamen, um über die zukünftige Rolle von Gewerkschaften in einer zunehmend krisenhaften Welt zu diskutieren. »Ein Klassentreffen im besten Sinne«, nennt die Linke-Landtagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Lena Saniye Güngör die Veranstaltung im Nachhinein.

Dass die titelgebende »Erneuerung« der Gewerkschaften dringend geboten ist, wurde in nahezu jeder der mehr als 50 Veranstaltungen deutlich. Das sieht auch Florian Wilde so. Er ist einer der Veranstalter*innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der Bedarf nach solchen Möglichkeiten für einen Austausch zwischen den diversen Beschäftigungsgruppen, die derzeit unter den verschärften Bedingungen der Inflation kämpfen, sei enorm.

»Wir arbeiten seit 20 Jahren in der Firma, und seit ca. 13 Jahren versuchen wir, die Arbeitsbedingungen zu verbessern«, erzählt etwa Björn Rietzschel, Betriebsrat bei Sonnländer Getränke im sächsischen Röhta. Von der NGG sei die Anfrage gekommen, ob er Lust habe, mit zur Konferenz zu fahren, und ein anderer Kollege hätte zu ihm gesagt: »Da komme ich auch mit, falls du mich mitnehmen würdest.« Auf der Konferenz kamen viele zusammen: die Mitarbeiter*innen von Sonnländer Getränke, Beschäftigte von unterschiedlichen Amazon-Standorten, Lieferando-Rider, Kolleg*innen aus dem Schienenverkehr, aus Krankenhäusern, dem Mittelbau der Universitäten und dem Hamburger Hafen.

Die gleichen Probleme, überall

Auch Mitarbeiter*innen von Galeria Kaufhof waren nach Bochum gekommen. Sie kämpfen derzeit gegen die drastischen Spar- und Schließungspläne des Konzerns. Vielen der Beschäftigten droht die Kündigung. Dabei seien sie es, die den täglichen Betrieb am Laufen halten und die zu Hause oft noch Angehörige versorgten, so berichteten die Kolleg*innen auf dem Podium. Der Jobverlust sei für viele eine existenzielle Bedrohung. Jetzt kämpfen sie um Arbeitsplatzerhalt und – in Zeiten der Inflation – um eine faire Lohnerhöhung.

Wir arbeiten seit 20 Jahren bei Sonnländer Getränke, und seit ca. 13 Jahren versuchen wir, die Arbeitsbedingungen zu verbessern

Björn Rietzschel, Betriebsrat

»Die Reden der hauptamtlichen Gewerkschafter waren schon inspirierend«, beschreibt Björn Rietzschel diesen Moment, »aber die Berichte der Kolleginnen und Kollegen von ihrem Kampf für ihre Arbeitsplätze, für bessere Arbeitsbedingungen und mit den darauf folgenden Standing Ovations«, das wäre »Gänsehaut pur« gewesen. Dass die Insolvenz der Kaufhauskette und die Schicksale der Beschäftigten eng mit dem unaufhaltsamen Aufstieg von Online-Versandgiganten wie Amazon verknüpft sind, wissen nicht nur die Galeria-Mitarbeiter*innen auf der Bühne, sondern auch die Anwesenden Amazon-Arbeiter*innen, die wenig später vor dem gut gefüllten Audimax der Uni-Bochum stehen und von ihren Auseinandersetzungen mit dem US-Versandgiganten berichten. Dennoch, das wird auf der Konferenz immer wieder deutlich, überwiegen die Gemeinsamkeiten.

Das betont auch Kay Jäger, Betriebsrat im Hamburger Hafen, gegenüber ak. Auch wenn die Kolleg*innen aus der Krankenhausbewegung oder bei Amazon vor anderen Herausforderungen stünden als die Hafenarbeiter*innen: »Strukturell sind das die gleichen Mechanismen, die da wirken: Wenig Personal soll bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeiten, damit am Ende noch mehr Geld für Vorstände und Aktionäre abfällt.« Diese unterschiedlichen Gruppen zusammenzubringen und zwischen ihnen einen Austausch zu ermöglichen war sicherlich das größte Potenzial der Konferenz. Doch wurde es genutzt?

Als Gewerkschafter habe er zwar viele interessante Einblicke in andere Bereiche bekommen und Hoffnung geschöpft für zukünftige Konflikte, sagt der Hafenarbeiter Jäger. Konkrete Ergebnisse für die Betriebsratsarbeit habe er aus Bochum aber nicht mitnehmen können. Björn Rietzschel von Sonnländer Getränke hat die Konferenz mit einem positiveren Resümee verlassen. »Die Veranstaltung war für uns ein voller Erfolg.« Obwohl auch er kein fertiges Rezept mitgenommen habe, »das man eins zu eins umsetzen kann«. Lernen und Inspiration sammeln könne man von den Kolleg*innen trotzdem. »Wir kommen aus Sachsen, einem der beiden Bundesländer, in dem es keinen Bildungsurlaub gibt«, so Rietzschel. Mit entsprechender Öffentlichkeitsarbeit könne man möglicherweise Politiker*innen Zugeständnisse abverlangen, schlägt er nach der Konferenz vor.

Nach der Theorie ist vor der Praxis

Gegenseitigen Austausch gab es auch auf den zahlreichen Podien mit insgesamt über 170 Referent*innen aus unterschiedlichen Gewerkschaften, Berufsbranchen, der Linkspartei und sozialen Bewegungen. Die Landtagsabgeordnete Güngör fragt sich dennoch, wie die Erfahrungen der Konferenz konkret aufgegriffen werden können: »Was wird strategisch für die Gewerkschaftsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung folgen? Und wie werden die auf der Streikkonferenz gesetzten Themen sowohl für die politische Gewerkschaftsarbeit als auch für die gewerkschaftliche Politik genutzt?« Die Beantwortung dieser Fragen sei für sie noch eine »Herausforderung«.

Auch Andreas Gangl, Betriebsrat bei Amazon Bad Hersfeld, meint, es sei zwar gut, mit solchen Veranstaltungen eine stärkere Vernetzung voranzubringen, doch die Praxis hinke zumindest bei den großen Gewerkschaften doch häufig stark hinterher. »Gerade ver.di ist da so ein Paradebeispiel: ein Zusammenschluss von mehreren Gewerkschaften seit über 20 Jahren und dann wurschteln die einzelnen Fachbereiche immer noch so vor sich hin. Meiner Meinung nach müssten die Arbeitskämpfe da viel mehr vereint werden, um Macht aufzubauen«, so Gangl.

»Spannend« wäre es für ihn hingegen geworden, als im Workshop der Amazon-Beschäftigten »plötzlich ganz viele ver.di-Leute aus Berlin saßen und mit uns reden wollten. Da hatte ich das Gefühl, die wollten von uns hören, wie eine Strategie bei Amazon aussehen könnte.« Immer wieder hätten sie das unter den Beschäftigten diskutiert, dass ver.di scheinbar auf der Bundesebene gar keine Strategie habe, wie sie mit Amazon umgehen sollten. Ob es diesmal wirkliches Interesse von den Hauptamtlichen gegeben habe, von den Beschäftigten zu lernen, da ist sich Gangl nicht sicher. »Die ver.di-Leute waren halt da, aber die haben sich nicht wirklich an der Diskussion beteiligt.« Auch nach den Workshops sei niemand auf sie zugekommen.

Mehr Selbstkritik gefragt

Besser als in Braunschweig, auf der letzten Streikkonferenz 2019, sei es dennoch gewesen, da hätten sich die Hauptamtlichen »immer selber gelobt, was sie alles Tolles gemacht haben«. Das, so stellt Gangl fest, ist in Bochum anders gewesen. »Das fand ich gut«.

Eine stärker selbstkritische Haltung von Funktionär*innen fordert nach der Konferenz auch IG-Metall-Sekretär Tom Knedlhanz ein. In einer Arbeitsgruppe zu Arbeitskämpfen Ostdeutschland wurde festgehalten, dass der Mut und die Entschlossenheit der Beschäftigten im Osten wachse und sie ihre Macht in den betrieblichen Auseinandersetzungen erkennen. Diese Erkenntnis, so Knedlhanz, dürfe nun nicht durch »verbrauchte stellvertreterpolitische Gewerkschaftspraxis« erstickt werden.

Ein sichtbarer Unterschied der Konferenz zur vorherigen war auch die breitere Zusammensetzung des Publikums. Die Konferenz habe ihren traditionellen Charakter zwar behalten, so Florian Wilde, sich aber gleichzeitig auch »sichtbar verjüngen« können. Dazu beigetragen haben neben jungen Kolleg*innen aus den einzelnen Branchen sicherlich auch das polit-aktivistische Spektrum, das in Bochum präsent war. So wurde auf der Auftaktveranstaltung über die Zusammenarbeit zwischen Fridays for Future (FfF) und ver.di in den jüngsten Verkehrstarifrunden und die Möglichkeiten einer gemeinsamen Strategie für die solidarische Gestaltung von sozial-ökologischer Transformation diskutiert. Bewegung und Gewerkschaft zusammenzubringen sei ein Ansatz, den man auch »künftig weiterverfolgen« wolle, so Wilde.

Die Notwendigkeit, diese Kämpfe miteinander ins Gespräch zu bringen, sieht auch Andreas Gangl, auch wenn da sicherlich nicht alle Kolleg*innen von Amazon mitgehen würden. Und auch, wenn Gangl sich noch nicht ganz im Klaren darüber ist, wie das in der Praxis eigentlich gelingen kann. Sie hätten mal versucht, Kontakte zu FfF in Bad Hersfeld zu knüpfen, aber dies habe nicht gut funktioniert. Vielleicht, so meint Andreas Gangl, hänge das auch mit dem unterschiedlichen Alter der FfF-Aktiven und der Amazon-Beschäftigten zusammen. Die Herausforderung, in beiden Bewegungen Vorurteile abzubauen und Vertrauen zu schaffen, bleibt jedenfalls auch nach der Konferenz bestehen, denn wie die Praxisprobleme solch einer Kooperation gelöst werden können, wurde dort kaum öffentlich besprochen.

Und ein weiteres Thema sei in Bochum »etwas kurz gekommen«, wie auch Florian Wilde selbstkritisch anmerkt. Bei der nächsten Konferenz 2026 wollten die Veranstalter*innen internationalen Themen mehr Raum geben. Die Dringlichkeit dieses Themas macht auch Hafenbetriebsrat Jäger deutlich. Die Strategie von Amazon, im Falle eines Streiks in Deutschland ein anderes Lager in Polen zu nutzen, ähnele sich mit dem Vorgehen in der Hafenbranche, wo Arbeitgeber damit drohen, bei Arbeitsniederlegungen die Ladungen über andere Häfen zu verschiffen. »In solchen Fällen kann nur standortübergreifende Solidarität helfen.«

Gemeinsam Potenziale freigesetzt

Darüber, dass es den großen Gewerkschaften bislang nur punktuell gelingt, die Zusammenarbeit auf transnationaler Ebene voranzutreiben, hatte sich in Bochum teils auch offener Frust Bahn gebrochen. In einem Workshop zu internationalen Wertschöpfungsketten wurde zwar das Bemühen der zuständigen IG-Metall-Sekretärin Claudia Rahman deutlich, sich mit den Kolleg*innen etwa in Tunesien zu vernetzen; auch der erfolgreiche Kampf um ein robustes Lieferkettengesetz, das in Deutschland bereits verabschiedet wurde und nun auf EU-Ebene verhandelt wird, wurde insbesondere von Lena Saniye Güngör als Erfolg eingeordnet. Dass dennoch nicht selten eine Lücke klafft zwischen dem Tempo, mit dem die schwerfälligen Apparate ihre eingeschliffene Arbeitskampfpraxis, die allzu oft in einer Standortlogik verhaftet bleibt, überprüfen und verändern, und dem Wunsch der Beschäftigten nach internationalem Austausch und wechselseitiger solidarischer Unterstützung – das wurde in Bochum deutlich. Die Basis, so ärgerte sich ver.di-Vertrauensmann Rainer Reising, sei in Punkto internationale Solidarität schon deutlich weiter. Dies zeigten Zusammenschlüsse wie Amazon Workers International. Und sie seien auch nicht bereit, sich von der Gewerkschaft ausbremsen zu lassen.

Was kann eine Konferenz hier leisten? Das nächste Zusammenkommen 2026 sollte einen »möglichst konkreten Mehrwert für die gewerkschaftliche Praxis haben«, betont Florian Wilde von der Konferenzorganisation. Letztlich kann aber auch die gemeinsame Feststellung von Defiziten bei der Gewerkschaftsführung Potenzial freisetzen. Das hat sich in den oft erstaunlich offenen und teilweise überraschenden Debatten gezeigt.

Sebastian Bähr

ist Journalist. Bis Ende 2021 war er Redakteur der Tageszeitung neues deutschland.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.