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Slow down

Warum die Linke Kohei Saitos Degrowth-Kommunismus produktiv nutzen sollte

Von Christian Hofmann

Das Urteil der deutschsprachigen Linken über Kohei Saitos Buch »Systemsturz« ist bisher ambivalent ausgefallen. Foto: Kenshu Shintsubo

Ende August erschien Kohei Saitos japanischer Bestseller über »das Kapital im Anthroprozän« unter dem Titel »Systemsturz« auf Deutsch. Zur Erinnerung: Im konservativen Japan wurde das Buch mitten im Lockdown 2020 veröffentlicht und war mit über einer halben Million Exemplare eine kleine Sensation. (ak 695) Immerhin plädiert der Autor, seines Zeichens Philosophieprofessor an der Universität Tokio, für eine Zusammenführung von Karl Marx und Degrowth. Anders als seine bisherigen Veröffentlichungen ist das Werk populärwissenschaftlich aufgemacht und richtet sich an ein breites Publikum. Mitte Januar erscheint es auf Englisch mit dem aussagekräftigen Titel »Slow Down: How Degrowth Communism Can Save the Earth«.

In Deutschland erfährt das Buch, im Unterschied zu anderen ökosozialistischen Schriften, einiges an Aufsehen jenseits der üblichen verdächtigen Kreise. Über solch ungewohnte Aufmerksamkeit müsste sich die politische Linke eigentlich freuen, denn faktisch könnte man das Medieninteresse als Steilvorlage nutzen, um mit einer sozialökologischen Perspektive über das eigene Milieu hinaus zu wirken. Indes ist das Urteil der deutschsprachigen Linken über Saitos »Systemsturz« bisher ambivalent ausgefallen. Während die einen das Buch uneingeschränkt feiern, gab es von anderen harsche Kritik. Unzweifelhaft bietet Saito in seinem Buch unzählige offene Flanken, und eine Auseinandersetzung kommt nicht umhin, mindestens einige von ihnen zu benennen. Trotzdem sind Linke bekanntermaßen gut und schnell darin, andere Linke zu kritisieren. 

Anstatt sich auf die schwächsten Stellen bei Saito zu stürzen und das Buch danach ad acta zu legen, wäre es angebracht, sich mit den Aussagen Saitos auseinanderzusetzen, die im öffentlichen Diskurs wahrgenommen werden. Noch gibt es die Möglichkeit, diese Diskussionen aufzugreifen. Die Dramatik der politischen Situation verlangt geradezu danach. Während Teile Deutschlands im Hochwasser versinken, steigen die Umfragewerte der AfD in dramatische Höhen. »Rosa Luxemburgs Schlagwort ›Sozialismus oder Barbarei‹ wird somit im 21. Jahrhundert wieder aktuell. Doch wie sollen wir die ›Barbarei‹ verhindern?«, fragt Saito und gibt mit seinem Buch eine Antwort. Es muss darum gehen, die »Verflechtung von Kapital, Gesellschaft und Natur« aufzeigen und aus der Kritik einen allgemein verständlichen positiven Gegenentwurf für eine Alternative abzuleiten. Diese muss den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden. Anders als die meisten anderen linken Theoretiker*innen hat Saito dies mit seinem Degrowth-Kommunismus immerhin versucht. Dass durch die Popularisierung zwangsläufig einiges an theoretischer Schärfe verloren geht, sollte man fairerweise berücksichtigen.

Die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verspottet Saito als »Opium des Volks«.

Dem politischen Gegner ist Saitos Anliegen übrigens nicht entgangen. Die konservative Neue Züricher Zeitung (NZZ) echauffierte sich kürzlich folgendermaßen: Da sei »ein Buch zum Bestseller geworden, dass umstürzlerischer nicht sein könnte. Es ruft zur globalen Revolution auf.« Und nicht nur das. »Saito strebt eine ›Gebrauchswertwirtschaft‹ an. Es sollen nur noch Dinge mit gesellschaftlichem Nutzen hergestellt werden. Für Saito haben Privatjets, Kreuzfahrtschiffe, Jachten und SUV keine Daseinsberechtigung«, fasst die NZZ so pointiert wie schockiert zusammen. Selbst »Werbung sei unnütz, da sie nur die Kauflust steigere.« Ein hervorragender Anlass, sich noch einmal dem »Systemsturz« zuzuwenden.

Energie- und Materialdurchsatz verringern

Zunächst hält Saito in seinem Buch als Ausgangspunkt fest, dass wir in ein neues Zeitalter, das Anthropozän, eingetreten sind. Dabei steuern wir in immenser Geschwindigkeit auf Kipppunkte im Erdsystem zu. Um das Schlimmste zu verhindern, gibt es nur noch einen Weg: Der Energie- und Materialdurchsatz muss drastisch reduziert werden. Die originär kapitalistischen Lösungen, die uns dafür tagtäglich präsentiert werden, sind bei genauerem Hinsehen keine. Die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) verspottet Saito als »Opium des Volks«, die individuelle Änderung des Konsumverhaltens als modernen »Ablasshandel«. Dem Ökomodernismus, der seine Hoffnungen auf technische Innovationen setzt, wirft er »Realitätsflucht« vor. Die ganze Diskussion über den »Green New Deal« und eine Entkoppelung von Ökonomie und Ökologie sei letztlich Augenwischerei. Theoretisch sei es zwar möglich, »in den nächsten hundert Jahren eine Emissionsrate von null zu erreichen«, nur griffen diese Maßnahmen zu spät, bedenke man die Kippelemente im Erdsystem. Von einer Politik, die in der Klimakrise eine »Businesschance« sieht, sollte man sich demnach nichts erhoffen.

Bis hierhin gibt Saito zunächst nur wider, was zumindest im radikaleren Teil der Klimabewegung durchaus Usus ist. »Ähnliche Kritik hört man von vielen Aktivisten. Kaum jemand ruft aber deshalb nach Kommunismus«, merkt die NZZ an. Genau dies aber tut Saito, und genau diesen Punkt gilt es in die Breite zu tragen. Saito verdeutlicht sein Plädoyer durch eine Auseinandersetzung mit Degrowth-Theorien und veranschaulicht es am Konzept der »Donut-Ökonomie« von Kate Raworth. Der Donut, man hätte als Bild ebenso gut einen Rettungsring wählen können, visualisiert bei Raworth die planetaren Belastungsgrenzen nach außen und die sozialen Defizite nach innen. Angestrebt wird ein gutes Leben für alle Menschen, das allerdings nur noch innerhalb des Donuts möglich ist. Nur ein Leben innerhalb dieser Begrenzungen kann gewährleisten, dass es weder soziale Defizite noch eine ökologische Überlastung gibt. 

Saito bezieht sich positiv auf diesen Ansatz, verweist aber auf das Problem, das Raworth umschifft: »Kapital ist eine endlose Bewegung von ununterbrochenem steigendem und fallenden Wert«. Wer diese Analyse des Kapitalismus wirklich ernst nimmt, muss einsehen, dass Kapitalismus und Degrowth unmöglich kompatibel sind. Das Problem ist dabei nicht bloß der Neoliberalismus, sondern das Kapitalverhältnis insgesamt. »Der Kapitalismus strebt die Selbstvermehrung des Kapitals an, er würde also nicht auf dem Stand der 70er stehen bleiben«, hält Saito jenen entgegen, die dieses Jahrzehnt als Referenz für den Ressourcenverbrauch heranziehen.

Das Problem ist, dass »Gewinnstreben, Marktexpansion, Externalisiserung und Auslagerung, sowie die Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft in der Natur des Kapitalismus liegen«. Und eben deshalb rät Saito der Degrowth-Theorie, sich dem Kommunismus zuzuwenden. Um sich vom Staats- und Parteikommunismus des 20. Jahrhunderts abzugrenzen, greift Saito auf den Marxschen Terminus der »Assoziation« zurück und versucht, diesen mit dem Commons-Begriff zu verbinden – auch wenn Letzteres sehr allgemein bleibt. Kommunismus bedeutet für ihn »eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel von den Produzenten als Commons gemeinsam verwaltet werden. Doch nicht nur die Produktionsmittel: Die ganze Erde sollte nach Marx‘ Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft als Common gemeinsam verwaltet werden.«

Fünf Säulen des Degrowth-Kommunismus

Fünf Säulen sind es schließlich, auf denen der Degrowth-Kommunismus beruhen soll: Erstens der Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft; zweitens die Verkürzung der Arbeitszeit: für weniger Arbeitszeit und mehr Lebensqualität; drittens die Aufhebung uniformer Arbeitsteilung: für die Wiederherstellung der Kreativität der Arbeit; viertens die Demokratisierung des Produktionsprozesses: je demokratischer der Produktionsprozess, desto langsamer die Wirtschaft und fünftens der Fokus auf systemrelevante Arbeit: für einen Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft und die Wertschätzung arbeitsintensiver systemrelevanter Arbeit.

Diese fünf Punkte sind weder ein Geniestreich noch eine ausgereifte Programmatik. Man findet gewisse Redundanzen und Punkte, die unscharf bleiben oder fehlen. Trotzdem – und dies bleibt mein Plädoyer – wäre viel gewonnen, wenn wir diesen fünf Punkten mindestens in der kriselnden Klimabewegung und besser noch weit darüber hinaus Gehör verschaffen würden. Mit der heute gängigen Fokussierung der Umweltbewegung auf »Konsumismus, Aufklärung und Politizismus« ist diese in eine Sackgasse geraten. Und genau deshalb lohnt es, mit Saito zu argumentieren, dass der springende Punkt einer gesellschaftlichen Umwälzung der Ort der Arbeit und der Produktion ist; »eine radikale Umwälzung der Arbeitssphäre, die eine an die Naturkreisläufe angepasste Produktion ermöglicht.« Eine solche Fokussierung könnte sowohl die Kapitalverwertung als Wurzel allen Übels angreifen, als auch klarstellen, dass Ökologie gerade nicht Verzicht auf Wohlergehen bedeuten muss. Überlange Arbeitszeiten und kapitalistischer Überfluss führen augenscheinlich zu gesellschaftlichen Erschöpfungszuständen und Burnout und können kaum noch ernsthaft mit Freiheit oder Wohlstand verwechselt werden. 

Es lohnt, mit Saito zu argumentieren, dass der springende Punkt einer gesellschaftlichen Umwälzung der Ort der Arbeit und der Produktion ist.

Absolut richtig ist Saitos Anliegen, Marx’ Theorie aus den Fängen des Produktivismus zu befreien. Statt einem Technikoptimismus das Wort zu reden, muss es heute darum gehen, mit der Marxschen Analyse aufzuzeigen, dass das »rastlose Streben« nach der Kapitalverwertung unmöglich mit der viel beschworenen Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden kann. Es trifft zu, dass auch diese Position zumindest in der ökosozialistischen Diskussion keine Neuheit ist, in der öffentlichen Wahrnehmung und selbst in weiten Teilen der Linken und der Klimabewegung ist sie es aber schon. Es gilt deshalb, Saitos Bestseller produktiv zu nutzen. 

Leerstelle Machtverhältnisse

Umstandslos gut heißen muss man ihn deshalb allerdings nicht. Regelrecht unangenehm ist Saitos Versuch, den späten Marx mit ein paar stümperhaft zusammengestellten Zitaten als Kronzeugen für den Degrowth-Kommunismus zu gewinnen. Dass sich dieselben Zitate mit Leichtigkeit anders interpretieren lassen, ist dabei nicht einmal der entscheidende Punkt. Schwerer wiegt, dass man auf Abwege gerät, wenn man darüber diskutiert, was der betagte Marx gedacht haben könnte. Statt einzelne Aussagen so zurechtzubiegen, dass sie für heutige politische Anliegen dienstbar sind, wäre es besser gewesen, Saito hätte sich mehr an dessen Theorie gehalten. Gerade vom theoretischen Standpunkt ist es aber nahezu absurd, wenn Saito die These vertritt, dass der späte Marx »eine stationäre Wirtschaft als etwas Positives« angesehen habe. Dialektisch betrachtet kann das Gegenstück zu kapitalistischem Wachstum kaum eine »stationäre Wirtschaft« sein.

Vielmehr muss es um eine (selbst)bewusste menschliche Entwicklung unter der Berücksichtigung der Naturgesetze gehen. Nicht irgendein abstraktes Wachstum ist das Problem, sondern das blinde, profitgetriebene. Eine ökosozialistisch gewendete Degrowth-Theorie müsste berücksichtigen, dass es nicht nur um einen massiven Rückbau gewisser Industrien geht, sondern ebenso um einen Umbau inklusive gewaltiger Infrastrukturmaßnahmen etwa für die Energiewende. Aber auch andere Produktionszweige, Ökolandbau oder die Fahrradproduktion beispielsweise, müssten wachsen und nicht schrumpfen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung könnte man durchaus ergebnisoffen noch einmal darüber diskutieren, ob das Wort »Degrowth« überhaupt treffend ist Als Debattenanstoß gegen einen Technikoptimismus von links, der jenseits aller Realität darauf hofft, dass der »Mensch alle Güter kostenlos und nach Belieben nutzen kann, ohne sich über Umweltfragen Gedanken zu machen«, hat der Degrowth-Kommunismus seine Berechtigung. Ob dieses Etikett allerdings dauerhaft tauglich ist, muss sich zeigen.

Eine weitere große Leerstelle des Buches ist die Frage nach den Machtverhältnissen. Wohlwollend betrachtet werden sie über weite Strecken von Saitos Analyse ausgeblendet. Dass abschließend aber die Stadtregierung von Barcelona und das Netzwerk der »Fearless Cities« als Saat des »Degrowth-Kommunismus« gehandelt werden, die scheinbar nur noch aufzugehen braucht, ist sträflich. Diese Leerstelle des Buches müsste in weitergehenden Diskussionen schnellstmöglich gefüllt werden. Immerhin befinden wir uns gerade an einer Gabelung der kapitalistischen Weltordnung. »Dieser Moment der Krise sollte uns aber auch neue Möglichkeiten eröffnen können«, heißt es zu Anfang wie zum Ende des Buches. Und die NZZ hält fest; »Für Saito gibt es nur Kommunismus oder Barbarei.« Kruzifix!

Christian Hofmann

veröffentlichte gemeinsam mit Philip Broistedt »Goodbye Kapital« (2020) und »Planwirtschaft« (2022).

Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. dtv, München 2023. 320 Seiten, 25 EUR.