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Regime von Hunger und Peitsche

In Argentinien herrschen Zustände wie während der Krise von 2001 bis 2004, sagt die Feministin alejandra ciriza

Interview: Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Der neue argentinische Präsident Javier Milei ist bei seiner Amtseinführung im Dezember 2023 zu sehen. Er steht vor einem Gemälde, in Anzug und mit einer Scherpe und hält einen Stock in der Hand. neben ihm stehen zwei argentinische Flaggen, daneben zwei Männer in traditionellen Wächter-Uniformen.
Das neoliberale Programm von Javier Milei geht mit der Repression von Protesten einher. Foto: Presidency of Armenia/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 Deed

Vor fünf Monaten trat die Regierung von Javier Milei und Victoria Villarruel ihr Amt an und begann sofort mit ihrer neoliberalen Schocktherapie. Kürzungen und Repression sind an der Tagesordnung.

Es macht so wütend und traurig, was derzeit in Argentinien passiert, wo überhaupt anfangen? Wie hast du diese ersten fünf Monate von Milei und Villarruel erlebt?

alejandra ciriza: Es ist schwierig, auf eine Weise zu antworten, die nicht defätistisch ist. Natürlich ist diese Regierung ein absoluter Albtraum. Sie vereint sämtliche Monster der Apokalypse: das Finanzkapital als räuberischste Form des Kapitals; die Unterwerfung gegenüber der imperialen Politik der USA; die Logik der Ausplünderung der natürlichen Gemeingüter; die Zerstörung der Arbeitnehmer*innenrechte; der krasse Anti-Feminismus; brutale Repression und der Negationismus der Gräueltaten der Militärdiktatur als Staatsdoktrin.

Wir leben unter einem Regime von Hunger und Peitsche: Die Staatsausgaben – und mit ihnen die staatliche Garantie bürgerlicher Grundrechte – wurden brutal reduziert, die Regierung sagt Nein zu Bildung, Gesundheit, Arbeitsrechten, Renten, Sozialleistungen und wissenschaftlicher Forschung. Die Folge ist eine beispiellose Inflation sowie die Zunahme von Armut und Bedürftigkeit, wie wir sie in Argentinien seit den Jahren der Krise von 2001 bis 2004 nicht mehr gesehen haben.

Die Regierung vereint sämtliche Monster der Apokalypse.

Eines der grundlegenden Merkmale dieser Regierung ist ihre offene Frauenfeindlichkeit. Eine der ersten Maßnahmen war die Auflösung des Ministeriums für Frauen, Gleichstellung und Vielfalt. Jeglicher Feminismus und sexuelle Dissidenz werden offen gebrandmarkt, Feminizide gerechtfertigt, staatliche Einrichtungen zum Schutz sexueller Rechte abgeschafft und so weiter. Eine solche Politik, wie schon zuvor die der Militärdiktatur in den 1970er und frühen 1980er Jahren, kann nicht ohne Repression, öffentliche Diffamierung sowie einer stetig wachsenden verbalen und physischen Brutalität umgesetzt werden. Die Regierung Milei-Villarruel unterstützt offen die Rückkehr ehemaliger Militärs und Menschrenrechtsverbrecher*innen in einflussreiche Positionen und beabsichtigt die Zerstörung der nationalen Gendatenbank, die es uns in den letzten Jahren erlaubt hat, zahlreiche von der Militärdiktatur verschleppte Personen zu identifizieren und mit ihren Familien wiederzuvereinigen. Hinzu kommen die Kriminalisierung und Unterdrückung von Protesten jeglicher Art, die Militarisierung der marginalisierten Viertel und die Verfolgung und willkürliche Verhaftungen von Aktivist*innen.

Seit dem Amtsantritt Mileis habe ich gemeinsam mit anderen viel Zeit auf der Straße verbracht, um uns gegen die Maßnahmen zu wehren, die natürlich trotzdem knallhart umgesetzt werden.

Porträtbild von alejandra ciriza
Foto: Privat

alejandra ciriza

ist eine feministische Aktivistin und Menschenrechtsverteidigerin. Sie ist Forscherin beim Nationalen Wissenschaftsrat CONICET und Professorin für Philosophie und feministische Theorie an der Fakultät für Politik- und Sozialwissenschaften der UNCuyo in Mendoza, Argentinien.

Wie steht es um das Abtreibungsgesetz, das ja eine zentrale Errungenschaft der feministischen Bewegung war?

Obwohl Milei und sein Gefolge offen antifeministisch sind, gibt es zurzeit keine konkreten Pläne zur Abschaffung des Gesetzes 27610. Rocío Bonacci (Mitglied des Abgeordnetenhauses, Anm. d. Red.) hatte einen vorgelegt, doch da zeigt sich die Ineffizienz der Mileístas: Selbst unter den ihrigen haben sie es nicht vermocht, genügend Unterschriften zu sammeln.

Eine der größten Herausforderungen ist meines Erachtens die Zersplitterung der unterschiedlichen Bewegungen.

Mileis Strategie geht meiner Meinung nach in die andere Richtung, nämlich die Verweigerung der im 27610 verankerten Garantien. Es wird so weitergehen, wie es schon immer war: sichere Abtreibung für die Reichen, riskante Abtreibung unter ungeschützten Bedingungen für die Unterdrückten – mit dem erschwerenden Faktor des fehlenden Zugangs zu Medikamenten. Ein Recht ohne Garantie, soll heißen, ein Privileg.

Ich habe den Eindruck, dass Milei und seine Schergen eine Normalisierung der staatlichen Gewalt als Mittel anstreben, um die großen Mehrheiten und ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit und einem würdigen Leben zum Schweigen zu bringen.

Ja, das ist so. Es scheint so, als ob es dieser Regierung gelungen wäre, den Hass gegenüber der großen Mehrheit der Bevölkerung als vorherrschenden politischen Affekt zu legitimieren. Die historischen Erfahrungen des Kolonialismus und der letzten Militärdiktatur zeigen, dass dieser Mechanismus des Hasses der herrschenden Klassen den Weg ebnet für genozidale Ereignisse, von denen ich nur hoffe, dass sie noch verhindert werden können. Es war die stetige und bewusste Herabwürdigung der indigenen Völker, die den Boden bereitete für die genozidale Militärkampagne, die sie zusammentrieb, ermordete, vergewaltigte, sich ihrer Kinder bemächtigte, sie versklavte und ihnen ihr Land raubte. Die gleiche Logik ging dann der massiven Gewalt an meiner Generation voraus, also denen von uns, die aktiv die Militärdiktatur bekämpft haben und als »Terrorist*innen« gefoltert und ermordet wurden. Mileis zahlreiche Maßnahmen sind für sich allein betrachtet zwar schon extrem schädlich, aber es ist vor allem diese perverse Verknüpfung von Landraub, Gewalt und Krieg, die damals wie heute die Reproduktion unserer Leben und Träume so dermaßen erschweren.

Trotz der gegenwärtig düsteren Aussichten gibt es erwartungsgemäß auch eine große soziale Mobilisierung überall im Land. Was kannst du uns über den Widerstand der letzten Monate erzählen?

Der Widerstand kommt von allen Seiten: Arbeiter*innen, Verteidiger*innen der Commons und des Buen Vivir, von Organisationen verschiedener indigener Völker, die für ihr Recht auf Land kämpfen, von feministischen Organisationen, Menschenrechtsorganisationen und Künstler*innengruppen. Konkret richtet der Widerstand sich gegen die dramatischen Lohneinbußen infolge der Inflation und den mit ihr verbundenen Preiserhöhungen, gegen die Politik des Extraktivismus und für die Verteidigung der öffentlichen Bildung und des Gesundheitswesens, für eine Wissenschaft und Kultur, die sich für die Belange der subalternen Klassen einsetzen und natürlich auch für die Fortführung der Gerichtsverfahren wegen der unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während der Militärdiktatur begangen wurden.

Eine der größten Herausforderungen ist dabei meines Erachtens die Zersplitterung der unterschiedlichen Bewegungen. Ihre manchmal sehr partiellen und auf unmittelbare Ergebnisse abzielenden Analysen und Forderungen erschweren leider nicht nur die Zusammenarbeit, sondern erleichtern es der herrschenden Klasse, ihre brutale Offensive fortzusetzen. Allerdings sind wir die Mehrheit im Land und wir haben Geduld gelernt. Wir werden uns nicht unterkriegen lassen.

Du widmest dich seit vielen Jahrzehnten der kollektiven Schaffung eines entpatriarchalisierten, entkolonialisierten und sozialistischen Argentiniens. Wie schaffst du es, dich nicht von der Verzweiflung überwältigen zu lassen?

Es stimmt, ich habe fast mein gesamtes Leben damit verbracht, um wie von Che Guevara verlangt, das Unmögliche zu versuchen und dieses Unmögliche kollektiv von unten aufzubauen. Dabei habe ich immer mehr die Überzeugung gewonnen, dass das, was der Kapitalismus versucht, zu verunmöglichen, die Reproduktion des Lebens selbst ist. Diese Überzeugung ist es, die viele von uns antreibt, trotz aller Rückschläge weiterzukämpfen. Die Militärdiktatur überlebt zu haben, ist eine Quelle des Schmerzes, aber auch der Selbsterfahrung der eigenen Stärke. Aus dieser Quelle, aus den Strömen unserer kollektiven Erinnerung, aus unser Liebe zu denen, die nicht mehr unter uns sind, die aber in unseren Herzen weiterleben und unsere Träume nähren sowie aus dem Wunsch, den jüngeren Generationen zu vermitteln, dass eine andere Welt nicht nur möglich, sondern wünschenswert ist, müssen und werden wir unsere Kraft schöpfen. Der Kampf muss und wird weitergehen.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

ist Theatermacher und gelegentlicher Verleger, zuletzt der Sammelbände »Left Alone: On Solitude and Loneliness amid Collective Struggle« und »Post Rosa: Letters against Barbarism«.