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»Wir haben nichts zu verlieren als unseren Stolz«

Mehr als 400 radikale Linke haben sich der Linkspartei angeschlossen – sinnvoll oder nicht? Sinnvoll, sagt die Initialgruppe von WIR // JETZT // HIER*

Von WIR // JETZT // HIER Initialgruppe

Martin Schirdewan und Janine Wissler stehen auf einer Bühne. Im Hinergrund ist ein Schriftzug "... es kommt drauf an, sie zu verändern. Die Linke."
Kommt jetzt Aufbruchstimmung auf? Foto: Steffen Prößler/wikimedia, CC BY-Sa 4.0

WIR // JETZT // HIER – mit diesen Worten haben wir für den 20. November zu einem Masseneintritt in die Linkspartei aufgerufen. Weit über 400 Menschen aus den sozialen Bewegungen haben sich angeschlossen. Viele von uns hätten sich diesen Schritt vor dem Herbst 2023 nicht vorstellen können. Zu aufregend waren unsere linksradikalen, urbanen und queer-feministischen Bubbles; zu dröge die Vorstellung, mit Leuten wie Sahra Wagenknecht in einer Organisation zu weilen. Doch die Zeit für Aktionismus ist vorbei. Die Klimakrise eskaliert, manch ein ostdeutsches Bundesland könnte schon im nächsten Jahr absolute Mehrheiten für die AfD ins Parlament wählen, und der Dissens der bürgerlichen Parteien dreht sich in erster Linie um die Frage, wer am lautesten nach Abschiebungen rufen kann.

Eine außerparlamentarische Antwort auf das Drama lässt derweil auf sich warten. Jahre der Demos, Blockaden und Klimastreiks haben zwar »Awareness« geschaffen, Hunderttausende auf die Straßen und die Grünen in die Regierung gebracht – doch den Kapitalismus in seinem Lauf halten weder Greta noch Sekundenkleber auf. Viele von uns fühlten sich hilflos; als verhallten all unsere Kampagnen- und Protestbotschaften im luftleeren Raum; als wären alle unsere Organisationsversuche von identitären Schranken umgeben. 

In dem Moment, in dem die Wagenknechte das Feld geräumt hatten und wir über unsere (post-)autonomen Schatten gesprungen waren, taten sich für uns jedoch neue Perspektiven auf: War der Parteieintritt im ersten Moment eine Verzweiflungstat, um wenigstens die einzige antikapitalistische Partei im Bundestag (und mit ihr die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ihre Gelder für linke Kultur und Bildung) vor der allgemeinen Untergangsstimmung zu retten, so begannen beim Nachdenken über den Weg zu diesem Ziel bald die Augen zu glänzen. Was, wenn die Linke beim gemeinschaftlichen Versuch, ihr über die Fünf-Prozent-Hürde zu helfen, quasi aus Versehen zu einer ernst zu nehmenden, sozialistischen Massenpartei mit realem Nutzwert für die Menschen mutieren würde?

Viele von uns fühlten sich hilflos; als verhallten all unsere Kampagnen- und Protestbotschaften im luftleeren Raum; als wären alle unsere Organisationsversuche von identitären Schranken umgeben. 

In dieser Hinsicht ist unser Eintritt eine Parteimitgliedschaft mit Probezeit: Es gilt, einer der wenigen linken Basisorganisationen, die in fast jeder Stadt und fast jedem Landkreis – gerade auch im Osten – vertreten ist, in den politischen Auseinandersetzungen des kommenden Jahres den Rücken zu stärken. Eine antifaschistische Aktion im ursprünglichsten Sinn, mit Blick auf die Europawahl und die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Diese gemeinsame Anstrengung kann genutzt werden, um Netzwerke zu knüpfen, radikales Organizing zu erproben und praktische Basisarbeit in der Linken wieder in den Vordergrund zu stellen. Denn das sind aus unserer Sicht die entscheidenden Schritte, um als linke Partei in zwei Jahren erneut und womöglich gestärkt in den Bundestag einzuziehen.

Gleichzeitig sind es diese Schritte, die am ehesten sicherstellen können, dass eine linke Bundestagsfraktion sich nicht erneut im parlamentarischen Zirkus einrichtet, sondern den Druck von unten in glaubhafte, sozialistische Oppositionspolitik kanalisiert. Es geht uns also nicht darum, den Parlamentarismus als Ausweg aus der durch ihn verursachten Misere fehlzudeuten. Es geht darum, der Partei noch eine Chance als Organisationsform zu geben, die weit über das Parlament hinaus wirksam sein kann; die als gemeinsamer Nenner einer Klasse, in ihrer ganzen Diversität, auch im täglichen Leben präsent ist und unseren politischen Aktivitäten (von der Kiezküche in Cottbus bis zur Seenotrettung im Mittelmeer) ein verbindendes Fundament gibt. Die Genoss*innen der Kommunistischen Partei Österreichs und der belgischen Partij van de Arbeid zeigen, dass eine solche Basisorientierung möglich ist und Erfolg verspricht. Davon abgesehen: Welches andere politische Projekt wäre gerade imstande, organisationserfahrene, aber in den Städten konzentrierte Bewegungslinke zurück in die Fläche zu bringen? Nicht nur, um dort im weißen Anzug Kohlebagger lahmzulegen, sondern um linken Ideen, gemeinsam mit Genoss*innen vor Ort, auf dem Marktplatz ein Gesicht zu geben. Wir haben nichts zu verlieren als unseren Stolz. Wir haben eine Welt zu gewinnen.

* Die Gegenposition von ak-Autor Lukas Hofmann gibt es hier.

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