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Unterschätztes Potenzial

Die Letzte Generation sei reformistisch und übe nur individuelle Konsumkritik, meinen Linksradikale – damit machen sie es sich zu leicht

Von Caesar Anderegg und Leon Switala

Vier Mitglieder der Letzten Generation mit roten Warnwesten sitzen auf einer Straße und blockieren viele Autos.
Nichts geht mehr: Der Protest der Letzten Generation zielt auf die imperiale Lebensweise und ihre Automobilität. Foto: Nele Fischer

Die Letzte Generation (LG) hat es mit ihren Aktionen geschafft, die Klimakrise wieder auf die tagespolitische Agenda zu setzen. Gelungen ist ihr das nicht durch Massenmobilisierungen oder Großdemonstrationen, sondern nur mit knapp 700 Aktivist*innen in Kleingruppen und ein wenig Sekundenkleber. Das hat gereicht, um den geballten Hass des bürgerlichen Lagers zu entfachen: Von der »Klima-RAF« oder von »Klimaterroristen« (immerhin Unwort des Jahres 2022) ist die Rede. Die Aggressivität steht in keinem Verhältnis zum zivilen Ungehorsam liberaler Couleur. Erklärbar wird sie nur, weil der Protest der LG auf die imperiale Lebensweise und ihre Automobilität zielt. 

Dabei sind die Ziele der LG reformistisch: »Angesicht des Klimakollapses« sind die Kernforderungen der LG Deutschland »ein Tempolimit von 100km/h auf deutschen Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket« als erste Sicherheitsmaßnahmen. Selbiges gilt für die LG Österreich sowie den Schweizer Ableger »Renovate«. Adressat ist immer die hegemoniale Ordnung der bürgerlich-parlamentarischen Politik. Die genannten LG-Gruppen sprechen im Namen der »freiheitlich demokratischen Grundordnung«, richten sich an die Bundesregierung und zielen auf Maßnahmen, die in der herrschenden politischen Ordnung einfach und schnell umzusetzen wären.

Auch sind die Aktionen der LG ein paradigmatisches Beispiel für den liberalen zivilen Ungehorsam. Die LG ist im Kern gewaltfrei und ihre Aktionen sind primär Inszenierungen, die nur einzelne Gesetze übertreten und bei der Polizei angekündigt werden. Diese Ausrichtung weist Überschneidungen mit anderen Klimagruppen, aber auch Differenzen auf. Sie finden sich besonders in der spezifischen, taktischen Umsetzung des zivilen Ungehorsams. 

Probleme der Ereignispolitik

Aktionen der Klimabewegungen der letzten Jahre werden assoziiert mit den Besetzungen von Kohlegruben durch Ende Gelände (EG), Großdemonstrationen von Fridays for Future (FfF) oder aufwendig inszenierten Straßenumzügen durch Extinction Rebellion (XR). Hierin kommt eine Politik des Ereignisses zum Ausdruck: kurze, gezielte Interventionen, die oft ein hohes Maß an Ressourcen benötigen, um Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu erzeugen. Die Politik des Ereignisses erreicht dies durch die Spektakelorientierung der modernen, digitalen Mediengesellschaft: Ständig müssen Bilder, Stories und mögliche Headlines produziert werden. Beim Versuch, die kurzlebige Aufmerksamkeit immer aufs Neue zu erlangen, müssen die Aktionen wiederholt und sukzessive spektakulärer werden.

Kohlegrubenbesetzungen und Großdemos haben nur symbolischen Charakter und sind kein tatsächlicher Angriff auf Infrastrukturen der materiellen Basis oder der hegemonialen Lebensweise. Damit werden diese Aktionsformen für staatliche Institutionen und Medien kalkulierbarer, sodass der bürgerlich-liberale Rechtsstaat deren Wirkungen eher kontrollieren und präventiv auf sie eingehen kann. Die Presse berichtet nur kurz, und die Polizei richtet bereits am ersten Tag einer Aktion ID-Abfertigungsstraßen ein. Die Konsequenz: Es wird oft keine reale Gegenmacht im Sinne einer nachhaltigen politischen Mobilisierung und Organisierung aufgebaut. Die Schwächen der Ereignispolitik werden offenbar: Kurzfristigkeit, ein symbolischer und kalkulierbarer Charakter der Aktionen sowie Ressourcenintensität.

Das Politikverständnis der Letzten Generation ist naiv.

Die LG kann nun einerseits als Kontinuität, andererseits aber auch als Bruch mit dieser Ausrichtung verstanden werden. Die Kontinuität ihrer ressourcenarmen Blockaden besteht darin, dass sie zumindest gegenwärtig die Aufmerksamkeit des medial-öffentlichen Diskurses auf sich ziehen. Es zeigen sich aber auch entscheidende taktische Unterschiede zu anderen Gruppen. Mit der dauerhaften, ressourcenarmen Blockade der Infrastrukturen einer hochmobilen Gesellschaft wird die Aktionsform zu einem Eingriff in den Herzkreislauf der imperialen Produktions- und Lebensweise. Darauf kann nicht unmittelbar präventiv durch staatliches Handeln reagiert werden.

Das ist ein qualitativer Unterschied zur beschriebenen Form der Ereignispolitik. Zudem ist der Ort des Protests ähnlich wie bei Großdemonstrationen von FfF die urbane Metropole – mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie nicht primär symbolisch sind, sondern eskalierend wirken. Auch darin liegt eine neue Qualität: Die Aktionen zielen auf die Pulsschlagadern des fossilen Kapitalismus: die fragilen Infrastrukturen der Automobilität. Die Eskalationslogik des jetzt noch liberal-zivilen Ungehorsams in den Zentren ist dementsprechend der Schlüssel zum Potenzial der LG.

Repression statt Klimapolitik

Die eskalativen Aktionsformen der LG stehen im strategischen Widerspruch zu ihrem liberalen Politikverständnis und ihren reformistischen Forderungen. Obwohl die Klimagruppe die Autorität der Institutionen des demokratischen Rechtsstaates bejaht, wird sie von diesem zum Feind erklärt. Präventivhaft, deutschlandweite Razzien bei LG-Aktivist*innen Mitte Dezember und die ersten Haftstrafen Anfang März unterstreichen dies. Der Staat verteidigt die hegemoniale Ordnung, wenn möglich mit Konsens, wenn nötig mit Zwang. So erfährt die LG nun am eigenen Leib, dass der Staat keine neutrale und zweckrationale Instanz ist, sondern eine bürgerlich-kapitalistische Hegemonie verkörpert. Deren Inhalt und Funktionsweisen sind darauf ausgerichtet, die Reproduktion der kapitalistischen, imperialen Produktions- und Lebensweise abzusichern.

Die LG ist – wie die meisten ökologischen Bewegungen vor ihr – blind für den herrschaftlichen Gehalt der hegemonialen Verhältnisse. Sie kritisiert die ausbleibende politische Anpassung von Produktion und Konsum, ohne deren »Charakter als kapitalistische, patriarchale, rassifizierte oder postkoloniale soziale Verhältnisse« zu sehen, wie es Ulrich Brand, einer der Entwickler des Konzepts der imperialen Lebensweise, formuliert.

Aber genau diesen herrschaftlichen Charakter haben sie mit ihren Aktionen getriggert. Für die Blindheit von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die sich im Auseinanderklaffen von eskalativer Taktik und reformistischen Zielen und Strategie zeigt, zahlt die LG nun einen hohen Preis. Sie will in hehrer, aber naiver Absicht Druck auf die Demokratie ausüben. Dieser führt jedoch nicht dazu, dass die Mühlen der Klimapolitik schneller mahlen, sondern dass der Repressionsapparat in Gang gesetzt wird. Das passiert, weil die LG durch ihre Störungen der Rezeption bourgeoiser Kultur sowie durch ihre Aktionen gegen die Automobilität Hass und Wut eines erheblichen Teils der patriarchalen, weißen und kapitalistischen Gesellschaft im Globalen Norden auslöst, der sich zunehmend um seinen Lebensstil und die damit verbundenen Privilegien und Identitäten sorgt.

Aus diesem Grund können solche Aktionen mehr Sinn machen, als ursprünglich angenommen und von der LG beabsichtigt. Denn die Kritik kapitalistischer Produktions- und Reproduktionsweisen kommt nicht ohne die Intervention in die Lebensweise und konflikthafte Verhandlung ihrer ideologischen Aspekte aus. Diese sind zentral für Fragen, wie man in eine nachhaltige Gesellschaft übergehen kann und was hemmende Faktoren für eine sozial-ökologische Transformation sind.

Die Blockadetaktik kann im Vergleich zu symbolischen Inszenierungen oder Pseudo-Events ein Eskalationshebel sein.

Umso erstaunlicher erscheint es, dass Linksradikale in den letzten Monaten die LG hart kritisiert und grundsätzlich abgelehnt haben. Begründung: Ihre Blockadeaktionen würden auch die Arbeiter*innenklasse treffen, sie übe lediglich individuelle Konsumkritik und sei strategisch reformistisch. Das ist zu voreilig und verkürzt – auch wenn es, wie dargelegt, schwerwiegende Kritikpunkte gibt. (1) Ab und an hört man auch das Argument, dass das Proletariat eigentlich schon ein Bewusstsein für die Klimakrise und den Willen zur Veränderung des Lebensstils habe, dies aber von den kapitalistischen Sachzwängen dominiert wird (z.B. Übertage Podcast). Leider ist dies eher Wunschtraum als ehrliche Gesellschaftskritik.

Die Ablehnung von Kritik an Lebensweisen und Alltagspraxen basierend auf einem trennscharfen, dichotomen Klassengegensatz von unschuldigen Arbeiter*innen und verantwortlichen Kapitalist*innen wird den komplexen Wechselwirkungen von Produktionsweise, Lebensweise und Ideologie nicht gerecht. Denn ein Charakteristikum der imperialen Lebensweise ist, dass trotz erheblicher Ungleichheiten die meisten Menschen im Globalen Norden auf Kosten der Arbeitskräfte und der Natur im Globalen Süden (und Teilen Europas) leben. 

Auch die Trennung von vermeintlich ausschließlich individuellem Konsum und kapitalistischer Produktion ist künstlich und umgeht Schwierigkeiten: Denn die Verbesserung der Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten in den wohlhabenden Regionen findet unter Bedingungen von neo-kolonialistischer, kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung andernorts statt. Zudem kommt auch bei vielen Arbeiter*innen Ignoranz für die Klimakrise dazu. Darum muss eine radikale Klimapolitik in Dienstleistungsgesellschaften westlicher Staaten, im Wissen davon, dass die kapitalistische Produktionsweise erst durch die kulturelle Hegemonie ihre ungeheure Stabilität erhält, den Kampf gegen den fossilen Kapitalismus nicht nur gegen die größten Verursacher*innen des fossilen Kapitals führen. Vielmehr muss dieser auch vor der eigenen Garagentür ausgefochten werden, um den Zauber der imperialen Lebensweise zu brechen.

Eskalativer Multiplikator 

So ist, um auf die LG zurückzukommen, ihre Strategie zweifellos falsch und ihr Politikverständnis naiv. Dennoch kann sich die Blockadetaktik im Vergleich zu symbolischen Inszenierungen oder Pseudo-Events eines Eskalationshebels sicher sein. Um diesen Hebel zu nutzen, müssten die Eskalationstaktiken der LG mit anderen Aktionsformen verknüpft und strategisch radikal gewendet werden. Sie könnten als das fungieren, was wir einen eskalativen Multiplikator nennen. Das bedeutet, dass sie an die Kämpfe gegen die Produktionsstätten des fossilen Kapitals und an die Arbeiterkämpfe anknüpfen und diese räumlich und zeitlich ausweiten. 

Wie? Indem sie diese Kämpfe, die oft fernab der westlichen Metropolen stattfinden und von deren Stadtbevölkerung selten wahrgenommen werden, in die Zentren des globalen Kapitalismus tragen.  Es gilt, sich mit den sozial-ökologischen Kämpfen von Indigenen, Arbeiter*innen und Aktivist*innen etwa gegen extraktivistische Ökonomien im Globalen Süden zu verknüpfen. So kann nicht nur die Botschaft der Kämpfe in die urbanen Zentren transportiert werden, sondern auch der essenzielle Gütertransport von den produzierenden Peripherien in die konsumierenden Zentren immer wieder gezielt und punktuell unterbrochen werden. 

Denkbar wäre, dass Räumungen wie im Kohletagebau Lützerath ausgeweitet werden. Zum einen durch die Blockade von Zufahrtsstraßen für Räumfahrzeuge, zum anderen durch die Blockade von Verkehrsknotenpunkten der hippen Luxusviertel oder Logistikzentren und fossilistischen Knotenpunkten. Auch könnten sich Widerstände entlang der Wertschöpfungskette multiplizieren: Kupferminen des weltweit größten Rohstoffhändlers Glencore-Xstrata in Peru durch Hafenblockaden, gegen die Tesla-Gigafactory in Brandenburg wie auch an den Verkehrsknotenpunkten in der Berlin. Diese Aktionsform als eskalativer Multiplikator kann mit ihren Stärken – unvorhersehbar, einschneidend, effektiv – die Kritik an kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsweisen in der Praxis real verbinden. Sie kann Kämpfe des Globalen Südens mit jenen des Globalen Nordens und eine diskursive Strategie mit einer materiellen verknüpfen. Wie ein Thrombus im Herz-Kreislaufsystem der westlichen Gesellschaft.

Caesar Anderegg

ist Politikwissenschaftler und lebt in Wien.

Leon Switala

ist Politikwissenschaftler und lebt in Wien.

Anmerkung:

1) Für eine umfassende und gute Kritik an der LG, siehe z.B.: Die loste Generation – eine Kritik an der LG aus linksradikaler Perspektive, unter: www. linksradikalecritique.noblogs.org.

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