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Jiyan heißt Leben, Frau heißt Widerstand

Neue kollektive Identitäten erschüttern die nationalstaatliche Ordnung im Mittleren Osten

Von Rosa Burç

Man sieht eine Person mit Maske und einem großen Schild, auf dem steht Jin Jiyan Azadi.
Auch auf Istanbuls Straßen ertönt am 8. März der feministische Ruf der kurdischen Bewegung seit Jahren. Foto: MedyaNews

Während ich diesen Text schreibe, lese ich, dass das iranische Regime den 23-jährigen Mohsen Shekari hingerichtet hat. Er wurde umgebracht, weil er für Jina Amini, für »Jin, Jiyan, Azadi« auf die Straße gegangen war.

Dass der feministische Ruf der kurdischen Freiheitsbewegung in Teheran zu hören ist oder seit Jahren regelmäßig am 8. März auf den Straßen Istanbuls laut wird, macht den Nationalstaaten besonders große Angst. Es ist keine Überraschung, dass die Türkei und Iran, die sonst um die Vormachtstellung in der Region konkurrieren, schnell zusammenarbeiten, wenn es darum geht, Kurd*innen zu unterdrücken und jegliche Bündnisse zwischen ihnen und anderen Bevölkerungsgruppen zu unterbinden.

»Ich bin aserbaidschanische Iranerin und es ist das erste Mal, dass unsere Ohren bewusst Kurdisch hören, unsere Augen Kurd*innen sehen, wir über Kurdistan sprechen«, sagte eine Teilnehmerin auf einer Konferenz Anfang Dezember, bei der es um die Revolutionen unserer Zeit ging. Für sie sind die Proteste in Iran revolutionär vor allem weil Menschen beginnen, sich in ihrer jeweiligen Unterdrückung zu sehen.

Denn heute, mehr als 100 Jahre nach dem Sykes-Picot-Abkommen, das die Region in Nationalstaaten aufteilte und Kurd*innen über Nacht zu Minderheiten in vier Ländern machte, werden in derselben Region kollektive Identitäten neu definiert, vor allem aber wird die von den Nationalstaaten auferlegte Herrschaftsordnung von Grund auf infrage gestellt. Es sind Frauen, Kurd*innen und andere marginalisierte Gruppen, die eine gemeinsame Sprache sprechen, zusammenkommen, voneinander lernen und den Kampf für Freiheit, Azadî, als einen gemeinsamen Kampf fürs Leben, Jiyan, verstehen.

Dass »Jin, Jiyan, Azadi«, der feministische Ruf der kurdischen Freiheitsbewegung, in Teheran zu hören ist oder seit Jahren regelmäßig am 8. März auf den Straßen Istanbuls laut wird, macht den Nationalstaaten besonders große Angst.

Die kurdische Freiheitsbewegung setzt genau dort an. Sie betrachtet den Zusammenhang zwischen der Unterordnung von Frauen und dem inhärenten Demokratiedefizit von Nationalstaaten. Frauen, so heißt es in den Schriften Abdullah Öcalans, würden nicht nur als anderes Geschlecht behandelt, sondern vielmehr als »getrennte Rasse, Nation oder Klasse – die am meisten unterdrückte Rasse, Nation oder Klasse«. Der anti-kapitalistische und anti-koloniale Widerstand der Kurd*innen in der Region zeichnet sich maßgeblich durch das Streben nach einem transnationalen feministischen Kampf aus.

Da Nationalstaaten aber von Natur aus auf hegemonialer Männlichkeit aufgebaut sind und jede Anfechtung der männlichen Dominanz so empfunden wird, als ob der Monarch seinen Thron verliert, werden Kurd*innen von allen Seiten angegriffen, sobald es der kurdischen Freiheitsbewegung gelingt, als feministische Kraft über Grenzen hinaus zu mobilisieren und transformative Solidaritäten einzugehen.

Dass türkische Drohnen über Rojava fliegen, Zivilist*innen töten und alle demokratischen Errungenschaften seit der Bekämpfung des IS in große Gefahr bringen, während der Iran besonders gewaltvoll gegen die Aufstände in kurdischen Städten vorgeht und oppositionelle Kurd*innen im Nordirak beschießt, zeigt einerseits, dass die prominente These aus den 1980er Jahren des Soziologen Ismail Besikçi, »Kurdistan ist eine internationale Kolonie«, weiterhin aktuell ist. Andererseits sind es genau diese Gleichzeitigkeiten, die deutlich machen, dass die Nationalstaaten die transformative Kraft kurdischer und feministischer Mobilisierung als existenzielle Gefahr für ihre gewaltvolle Teile-und-Herrsche-Politik sehen.

Um Revolutionen, aber auch die komplexe Gewalt, die von Staaten ausgeht, besser zu verstehen, muss der Blick für die sogenannte kurdische Frage im Mittleren Osten geschärft werden. Es sind nämlich die Gruppen, die bislang am meisten marginalisiert, unterdrückt und übersehen wurden, die heute aktive Akteure sind bei der Herstellung einer alternativen politischen und gesellschaftlichen Ordnung jenseits von Femiziden und gewaltvoller Fremdherrschaft.

Rosa Burç

ist politische Soziologin am Center for Social Movement Studies in Florenz, Italien. Sie ist aktuell Gastwissenschaftlerin am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung an der FU Berlin.

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