»Das ist ein Volksaufstand, keine Farbrevolution«
Wie stürzt man eine Regierung in unter 35 Stunden? Anarchist*innen aus Nepal über die Gen-Z-Revolte
Interview: CrimethInc.

In Nepal eskalierte Anfang September 2025 eine Protestbewegung nach heftiger Polizeigewalt zu einem spontanen Aufstand, der mit dem Abbrennen des Parlaments seinen Höhepunkt erreichte. Innerhalb von anderthalb Tagen waren Premierminister Khadga Prasad Oli geflohen und die Regierung zusammengebrochen. In diesem Aufruhr, bei dem 72 meist jugendliche Demonstrant*innen getötet wurden, wetteifern Monarchist*innen, Neoliberale und Radikale darum, die Zukunft Nepals zu bestimmen. Die Hintergründe erläutert das anarchistische Kollektiv Black Book Distro aus Kathmandu.
Gebt uns einen kurzen Überblick über die sozialen Bewegungen und Kämpfe in Nepal im letzten Jahrzehnt.
Black Book Distro: Nach der maoistischen Revolution (1) hat Nepal mehrere Wellen sozialer und politischer Umbrüche erlebt. Zu den Hauptproblemen im Land gehören die grassierende Kastendiskriminierung, der tödliche Menschenhandel mit migrantischen Arbeiter*innen, regelmäßige Grenzkonflikte mit unseren atomar bewaffneten Nachbarn und eine politische Korruption, die so schamlos ist, dass sie promonarchischen Gefühlen ein erschreckendes Comeback ermöglicht hat.
Wichtige soziale Bewegungen waren der Kampf der Madhesi für Rechte und Würde (2), Proteste gegen die Korruption in der Covid-Ära unter dem Motto »Genug ist genug«, Grenzkonflikte um Gebiete wie Lipulekh (3), der Hungerstreik des Arztes Dr. Govinda KC für eine bessere Gesundheitsversorgung, der Widerstand gegen räuberische Hypothekenzinsen und die Verteidigung von Gemeindeland der Gruppe der Newar. Diese Kämpfe werden durch ein komplexes soziales Gefüge beeinflusst, das immer noch von Patriarchat, Kaste und Religion geprägt ist; gleichzeitig gibt es Bemühungen für mehr Repräsentation, Meinungsfreiheit, wirtschaftlicher Freiheit und Föderalismus.
Black Book Distro
ist ein anarchistisches Kollektiv und eine Bibliothek in Kathmandu. Black Book Distro macht Bildungsarbeit über linke Geschichte und engagiert sich in sozialen Kämpfen und Bewegungen wie den Gen Z Protesten, der Meter-Byaj-Bewegung (Meter-Byay ist eine Form der Kreditvergabe mit exorbitanten Zinsen) oder der Guthi Bewegung gegen die Verstaatlichung jahrhundertealter kommunaler und religiöser Stiftungen.
Die wichtigsten politischen Organisationen sind die (sozialdemokratische, Anm. ak) Kongresspartei, die maoistische und die marxistisch-leninistische Partei (siehe Anmerkung 1) sowie royalistische Gruppierungen. Daneben gibt es unabhängige Jugendgruppen, linke Räume und indigene Gemeinschaften. Historisch wurden die meisten Proteste von den großen politischen Parteien angeführt oder beeinflusst, obwohl spontane Jugend- und Basisinitiativen zunehmend unabhängig agieren wie beim jüngsten »Gen Z«-Aufstand.
Was sind die Ziele der am Aufstand Beteiligten?
Die »Gen Z«-Bewegung hat ihre Wurzeln in der Jugendbewegung »Enough Is Enough« von 2020 gegen die Misswirtschaft während der Covid-19-Krise und für soziale Gerechtigkeit und Umweltfragen. Dieser erste Aufstand wurden von mehreren unabhängigen Jugendgruppen getragen, die von normalen Bürger*innen, Liberalen und linksradikalen Kreisen unterstützt wurden, ohne zentrale Führung. Seither hat die Regierung die Onlineüberwachung und ihre Repression gegen die Jugend ständig verschärft, was die Bewegung zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Ihre Hauptforderungen sind Meinungsfreiheit, Korruptionsbekämpfung und volle Rechenschaftspflicht der Regierung. Die Erschießung friedlicher Demonstrant*innen am 8. September löste allgemeine Empörung aus.
Der Aufstand war dezentral und spontan und gipfelte am 9. September im Niederbrennen des Parlaments und der meisten Regierungsbüros, der Häuser von Politiker*innen, von Polizeistationen und Parteizentralen. Weniger als 35 Stunden später war die Regierung gestürzt. Innerhalb der Bewegung gibt es verschiedene Strömungen: Monarchist*innen, die den König wieder auf den Thron setzen wollen, Zentrist*innen, die versuchen, Einfluss in einer neuen neoliberalen Regierung zu gewinnen, und Linksradikale, die auf echten Föderalismus, Säkularismus und die Einbeziehung marginalisierter Gemeinschaften drängen.
So wie wir es aus der Ferne verstehen, haben die Kommunist*innen in Nepal viele Jahre den Widerstand angeführt, bevor sie ab 2006 Machtpositionen im Staat erlangten. Wir haben den Eindruck, dass interne Konflikte innerhalb der revolutionären Bewegung zu einer Reihe von Kompromissen zwischen den Kommunist*innen und der nepalesischen herrschenden Klasse führten. Wie hat sich das auf die Gesellschaft ausgewirkt?
Der Erfolg der maoistischen Aufstandsbewegung beruhte auf seinem Widerstand gegen die Überreste des 1990 offiziell abgeschafften Panchayat-Systems, einer feudalen landwirtschaftlichen Struktur zur Unterdrückung des einfachen Volkes durch mit der Monarchie verbündete Eliten der oberen Kaste. Sobald sie an der Macht waren, warfen viele maoistische Führer*innen ihre revolutionären Ziele über Bord und übernahmen kapitalistische Praktiken, die das Panchayat-System reproduzierten, das sie angeblich zerstört hatten. Diese Kompromisse haben ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Die Maoist*innen werden heute eher als korrupte Politiker*innen denn als Revolutionär*innen angesehen.
Gleichzeitig sind Menschenrechtsverletzungen durch Militär und Polizei weit verbreitet, Gerechtigkeit für die Opfer gibt es kaum. Das hat den Ruf linker Politik beschädigt und der monarchistischen Bewegung Auftrieb gegeben. Die Gen-Z-Bewegung hat bewusst politische Parteien und Gewerkschaften ausgeschlossen, weil sie befürchtet, dass diese eigene Ziele verfolgen. Das hat zwar die Integrität der Bewegung geschützt, aber es Linksradikalen, die echte Veränderungen wollen, schwerer gemacht, sich zu organisieren.
Sobald sie an der Macht waren, warfen viele Maoist*innen ihre Ziele über Bord. Heute werden sie eher als korrupte Politiker*innen denn als Revolutionär*innen angesehen.
Wie ist die Regierungskoalition zustande gekommen? Was ist der Unterschied zwischen den beiden kommunistischen Parteien, und welche Rolle spielt die Kongresspartei?
Die Koalition ist entstanden, um in einem zersplitterten Mehrparteiensystem nach dem Krieg eine parlamentarische Mehrheit zu sichern. Beide kommunistischen Parteien haben Korruption und kapitalistische Praktiken übernommen, wobei die UML (die Kommunistische Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten)) derzeit die besser organisierte der beiden ist. Weil sie kommunistische Ideologien missbraucht und wegen ihrer Korruption verliert die kommunistische Bewegung an Boden. Parteimitglieder werden oft verspottet, wenn sie sich als Kommunist*innen bezeichnen. Die Kongresspartei, die eine historische Rolle bei der »offiziellen« Beendigung des Rana-Regimes und des Panchayat-Systems spielte, bleibt die führende neoliberale Kraft in der Regierung. 2008 verbündeten sich Maoisten und Marxisten-Leninisten, um die Kongresspartei zu überstimmen, und 2024 verbündeten sich dann Kongresspartei und Marxisten-Leninisten, um die Maoisten zu überstimmen. Die ideologischen Unterschiede zwischen ihnen sind in den Augen der meisten Menschen fast völlig verblasst.
Sowohl Indien als auch China, Nepals große Nachbarn, gehören zum mächtigen Block der BRICS-Staaten. (4) Wie wirkt sich das auf die Menschen in Nepal aus? Welche Gruppen versuchen, aus dem Sturz der nepalesischen Regierung Kapital zu schlagen?
Es ist noch schwer zu sagen, wer letztlich profitieren wird, aber keine politische Entscheidung in Nepal wird ohne die Beteiligung des indischen Geheimdienstes getroffen. Auch die CIA spielt wahrscheinlich eine Rolle, wie sie es bei Revolutionen überall auf der Welt oft tut. Zu den größten Gefahren gehören, dass monarchistische Kräfte, die eine extremistische hindu-nationalistische Politik verfolgen, mit indischer Unterstützung ihre Macht ausbauen sowie das Wiedererstarken der alten politischen Eliten, ohne dass es zu echten Veränderungen kommt. Ein Militärputsch war zwar eine reale Bedrohung, kam aber zum Glück nicht.
Nepal ist ein Binnenland, sozial und wirtschaftlich von Indien abhängig. China und Indien verschärfen ihre Rivalität, aber haben bisher einen offenen Konflikt vermieden, was Nepal zu einem Schauplatz des geopolitischen Ausgleichs macht. Nepal, das geografisch zwischen den beiden Nuklearriesen eingekeilt ist, hat nur begrenzte Möglichkeiten, sich ihrem endlosen Tauziehen zu widersetzen. Kulturelle Bindungen und offene Grenzen führen zu einem stärkeren und sichtbareren Einfluss Indiens, während chinesische Investitionen, etwa in Autobahnprojekte im Rahmen der Belt and Road Initiative, von der Bevölkerung oft als Chance für mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit von Indien begrüßt werden.
Viele westliche Linke kommen beim Blick auf das enge Verhältnis Nepals zu China und Indien zu dem Schluss, dass es sich bei den Aufständen in Nepal und Indonesien um von der CIA unterstützte Farbrevolutionen (5) handeln muss, die prowestliche Diktaturen installieren sollen.
Der Einfluss Indiens, Chinas und der USA ist zwar unbestreitbar, aber die Reduzierung des Aufstandes auf eine von der CIA unterstützte Farbrevolution verkennt die echte Wut und die Opfer der nepalesischen Bevölkerung. Millionen sind auf die Straße gegangen, haben das Parlament, Regierungsbüros und die Häuser politischer Führer in Brand gesetzt – nicht, weil ausländische oder inländische Organisationen sie dazu angestiftet haben, sondern wegen des jahrelangen Versagens und der Korruption der Regierung. Es ist ein Volksaufstand gegen Ungerechtigkeit. Ihn als Farbrevolution zu bezeichnen, untergräbt die Solidarität mit Basisbewegungen überall in der Welt. Aktivist*innen aus Bangladesch, Indonesien und Sri Lanka feiern die Kämpfe der anderen, ohne sie als ausländische Verschwörungen abzutun. Wenn es sich bei diesen Aufständen um Farbrevolutionen handelt, dann sind der Arabische Frühling oder Black Lives Matter auch welche. Es wird Zeit, dass westliche Beobachter*innen diese Kämpfe unterstützen, statt sie zu delegitimieren.
Welche Verbindungen seht ihr zwischen dem Aufstand in Nepal und den vorherigen Aufständen in Sri Lanka, Bangladesch, Indonesien, gibt es welche?
Die Aufstände haben klare Gemeinsamkeiten: die verbreitete Korruption, Ausgrenzung, die Machtkonzentration in den Händen einiger Familien, Vetternwirtschaft, Zensur und massive ausländische Einflussnahme. Sri Lanka, Indonesien und Nepal haben alle eine Geschichte kommunistischer Bewegungen, die letztlich scheiterten. Eine interessante Verbindung zwischen Nepal und Indonesien ist die Existenz aktiver anarchistischer Bewegungen und der kulturelle Einfluss des Animes »One Piece«, der für die Jugend in beiden Ländern ihren Kampf gegen den Autoritarismus symbolisiert. Der Hauptunterschied besteht darin, dass die kommunistische Bewegung in Nepal zwar erfolgreich an die Macht kam, dann aber korrupt wurde und ihre Versprechen brach, was in der Bevölkerung zu Desillusionierung führte, während eine kommunistische Regierung in Indonesien und Sri Lanka nicht an die Macht kam.
Habt ihr einen Rat für Menschen, die sich in anderen Teilen der Welt an Basisbewegungen beteiligen?
Wirksamer Widerstand muss organisierte Bildung, Agitation und die Bereitschaft zum spontanen Massenaufstand kombinieren. Es ist entscheidend, Menschen darauf vorzubereiten, soziale Bewegungen in die richtige Richtung zu lenken, vor allem, um mit dem Machtvakuum umzugehen, das nach dem Zusammenbruch einer Regierung entsteht und das oft von kapitalistischen Kräften genutzt wird, die die alte Ordnung wiederherstellen wollen. Bisher haben sich unsere Aktivitäten vor allem auf Aufklärung und Protest konzentriert, ohne uns Gedanken über die Strukturen nach dem Zusammenbruch zu machen. Unser Rat an Genoss*innen in aller Welt lautet, sich nicht nur auf die Revolte vorzubereiten, sondern auch auf nicht-hierarchische Strukturen und den Wiederaufbau der Gesellschaft nach dem Sturz der Regime.
Das Interview erschien am 22. September auf crimethinc.com, dort ist auch die Langfassung zu finden. Übersetzung: ak
Anmerkungen:
1) Der Bürgerkrieg ging 2006 zu Ende. Seit 1996 führte die Kommunistische Partei Nepals (maoistisch) einen Bürgerkrieg gegen die Monarchie. 2006 konnte sie im Bündnis mit sieben anderen Parteien die Entmachtung des Königs erzwingen. Die Monarchie wurde abgeschafft, 2008 wurde Nepal eine Republik. Bei den Wahlen im selben Jahr wurde die KPN (M) stärkste Kraft und trat in die Regierung ein. Es folgten Vereinigungen mit weiteren Parteien, 2018 mit der großen Kommunistischen Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten) zur Nepalesischen Kommunistischen Partei (NPC). Inzwischen gehen die Kommunistische Partei Nepals (Maoistisches Zentrum) und die Kommunistische Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten), die bis zum 9. September den Premierminister stellte, wieder getrennte Wege.
2) Bewegungen für die Rechte der benachteiligten Madhesi Tharu und Muslime und anderer Janjati-Gruppen (Oberbegriff für indigene Gruppen in Nepal).
3) Himalaya-Pass an der Grenze zwischen Indien und dem von China beherrschten Tibet. Die nepalesische Regierung erhebt Anspruch auf die Südseite des Passes, der seit der britischen Kolonialherrschaft unter indischer Verwaltung steht.
4) Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, inzwischen gehören auch Ägypten, Äthiopien, Indonesien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate dazu.
5) Als Farbrevolutionen werden eine Reihe friedlicher Umstürze oder Umsturzversuche in meist postsowjetischen Ländern, oft nach Wahlfälschungen, bezeichnet, insbesondere Georgien 2003 (Rosenrevolution), der Ukraine 2004 (Orangene Revolution) und Kirgistan 2005 (Tulpenrevolution). Die Mobilisierungen, die meist auf die Einrichtung von politischen Systemen nach westlichem Vorbild abzielten, wurden von Kritiker*innen verdächtigt, vom Westen bzw. den USA oder der CIA gesteuert zu sein.