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»Wir wollen, dass ihr unsere Geschichten weitertragt«

In Libyen organisieren sich Geflüchtete gegen die unmenschlichen Bedingungen – Yambio David ist einer von ihnen

Interview: Henrike Koch

Mitglieder der organisierten Refugees in Libya treffen sich für ein Plenum
Auch der EU gilt die Kritik der in Libyen organisierten Refugees, weil sie Milizen und ihre Institutionen in Libyen unterstützt, unter anderem die Küstenwache. Foto: Refugees in Libya Twitter

In Libyen hat sich die Situation für viele Geflüchtete, die für ihre Freiheit und Evakuierung aus Libyen protestieren, verschlechtert. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR schloss sein Community Day Centre, eine Anlaufstelle in der Stadt, vor dem die Demonstrierenden kampierten, woraufhin die libyschen Milizen ihre Repressionen verschärften.

Yambio, du bist bereits seit 2018 in Libyen. Was hast du dort erlebt?

Yambio: Ich habe in Libyen Erpressungen, willkürliche Inhaftierungen und schwere Menschenrechtsverletzungen erlebt. Monatelang war ich ohne gerichtliche Überprüfung inhaftiert und wurde zur Arbeit gezwungen. Ich wurde mehrmals in verschiedenen Haftanstalten gefoltert, nur weil ich bin, wer ich bin: ein Immigrant, ein Refugee, in ihrer Welt also ein Niemand. Sie geben uns hier das Gefühl, Untermenschen zu sein.

Hast du versucht zu entkommen?

Was wir hier erleben, zwingt uns dazu, in Boote zu steigen. Ich habe ein paar Mal versucht, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, wurde aber jedes Mal abgefangen und von libyschen Milizen in Internierungslager gebracht. Aufgrund der Dinge, die ich durchgemacht habe, bin ich Aktivist geworden.

Porträt von Yasona David
Yasona David. Foto: Privat

Yambio David

geboren 1997 im Süd-Sudan, lebt aktuell in Libyen. Er ist einer der Sprecher der organisierten Refugee-Proteste der letzten Monate vor dem UNHCR in Tripolis. Er berichtet auf Twitter unter @RefugeesinLibya und im Netz unter www.refugeesinlibya.org über die aktuelle Lage.

Im Oktober 2021 kam es zu brutalen Razzien und willkürlichen Masseninhaftierungen im Stadtteil Gargaresh in Tripolis. Das war der Auslöser für den organisierten Protest von zuletzt rund 1.600 Refugees vor einem UNHCR-Gebäude in der Stadt. Wie kam es dazu?

Im Grunde ist der Protest entstanden, weil die Menschen den Kreislauf der Gewalt nicht länger ertragen. Und weil wir verstanden haben, dass wir niemanden haben, der sich für uns einsetzt. Es sei denn, wir organisieren uns selbst. Wir haben vor dem UNHCR in Tripolis für eine faire Behandlung protestiert und gefordert, dass wir als Menschen anerkannt werden, dass unsere Rechte geschützt und respektiert werden, dass die Gefangenen freigelassen und wir evakuiert werden. Unter den Protestierenden herrschte eine große Wut darüber, dass uns so viel Leid zugefügt wird, während die internationale Gemeinschaft schweigt und der UNHCR sich nicht für unsere Rechte einsetzt. Wir fühlen uns immer noch im Stich gelassen.

Was erwartet ihr vom UNHCR?

Wir fordern den UNHCR auf, der Welt endlich mitzuteilen, dass er nicht in der Lage ist, die Menschen unter seinem Mandat in Libyen zu schützen. Die Europäische Union und die USA sollten mehr Resettlement-Plätze bereitstellen, also legale Verfahren für eine Umsiedlung stärken. Und auch die Afrikanische Union sollte aufgefordert werden, ihre Leute, die sich im Land nicht sicher fühlen, aus Libyen herauszuholen.

Und was sind darüber hinaus eure Forderungen, insbesondere mit Blick auf die EU?

Wir fordern, dass die europäischen Staaten aufhören, mit der libyschen Küstenwache und den libyschen Milizen zusammenarbeiten und dass alle Lager – wir nennen sie Konzentrationslager – in Libyen vollständig geschlossen werden. Und wir fordern den Schutz und die Evakuierung all derjenigen, die sich in Libyen nicht sicher fühlen. Außerdem müssen die Täter, die Verletzer von grundlegenden Menschenrechten, vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden.

Wir sind hier eine lukrative Einnahmequelle.

Yambio David

Nach über 100 Tagen wurde euer Protest in der Nacht auf den 10. Januar 2022 von libyschen Milizen gewaltvoll aufgelöst. Nur wenige Tage, nachdem der UNHCR seine Anlaufstelle in Tripolis geschlossen hatte. Über 600 Menschen wurden in Gefängnisse verschleppt. Warum?

Wir sind in Libyen ein Geschäftsmodell. Das unterstreichen wir auch in unserem politischen Manifest: Wir sind hier eine lukrative Einnahmequelle, versteckte Arbeitskräfte. Wenn du hier eingesperrt wirst, kann man viel Geld mit dir machen. Die europäischen Behörden finanzieren die Haftanstalten mit. Die Gelder sollen eigentlich die Situation für die Inhaftierten verbessern, stattdessen gehen sie aber an die Milizen, die die Zentren verwalten. Und gleichzeitig halten die Wächter und die Milizen Menschen für Lösegeld gefangen, für Zwangsarbeit und alles, was dazu gehört. Die Frauen werden sexuell ausgebeutet.

Welche Rolle hat José Sabadell, der Botschafter der Europäischen Union in Libyen, bei der Räumung gespielt?

José Sabadell hat die libyschen Behörden Anfang Dezember auf Twitter mit Blick auf unseren Protest aufgefordert, die Sicherheit zu gewährleisten. Ohne zu erklären, über welche Art von Sicherheit er spricht. Uns war klar, dass er den Milizen damit grünes Licht gegeben hat, uns aufzusuchen und in Haftanstalten zu bringen, was dann ja auch geschehen ist. Sabadell weiß genau, dass diese angeblichen libyschen »Behörden« keine Behörden sind, sondern Milizen, die sich als Behörden ausgeben. Wir haben die ganze Zeit mit diesem Verrat und der Räumung gerechnet, aber wir hatten keine anderen Möglichkeiten, als weiterhin vor Ort Widerstand zu leisten.

Beim Protest vor dem UNHCR-Gebäude bist du auch immer wieder öffentlich in Erscheinung getreten und hast sowohl die libyschen Behörden beziehungsweise Milizen als auch den UNHCR und die EU-Mitgliedsstaaten scharf kritisiert. Wie geht es dir jetzt?

Aktuell verstecke ich mich. Denn wenn ich rausgehe, werde ich definitiv verhaftet, beschossen und getötet. Schon während des Protests war ich das Hauptziel der Milizen und auch einiger Personen des UNHCR. Sie wollten mich zum Schweigen bringen. Nachdem unser Protest überfallen und aufgelöst worden war, haben sie in den Gefängnissen nach mir gesucht. Und zwei Tage später haben Leute an einem Kontrollpunkt in der Nähe des Ortes, an dem wir protestiert haben, auf mich geschossen – ich konnte zum Glück entkommen.

Die meisten der Demonstrierenden wurden in das berüchtigte Detention Center Ain Zara gebracht, wo einige von ihnen jetzt im Hungerstreik sind. Wie geht es ihnen?

Meine Genoss*innen sind fest entschlossen, den Kampf fortzusetzen, auch im Gefängnis noch. Sie haben keinen angemessenen Platz zum Schlafen, sie haben kein Essen, sie haben Krankheiten, sie können nicht zum Arzt gehen. Sie protestieren, obwohl sie wissen, dass sie geschlagen und auf sie geschossen werden könnte. Aber sie haben keine andere Möglichkeit, als ihre Stimme zu erheben. Sie haben ja keine Maschinengewehre, um sich zu wehren. Das einzige, was sie tun können, ist friedlich zu demonstrieren, mit ihrer Stimme, mit ihren Schildern, mit ihren Händen.

Ich kann mir vorstellen, dass es ziemlich schwierig ist, sich als Migrant*innen in Libyen zu organisieren …

Ja, vor allem die Kommunikation ist schwierig, weil wir unterschiedliche Nationalitäten haben und unterschiedliche Sprachen sprechen. Aber es spielt keine Rolle, ob du aus dem Sudan, aus Äthiopien oder aus Westafrika kommst. Wir haben vereinbart, dass wir uns zusammenschließen und für dieselbe Sache kämpfen. Neben der Kommunikation war auch die Suche nach einem sicheren Ort, an dem man Versammlungen abhalten konnte, schwierig.

Wie sah eure Organisierung dann konkret aus?

Es gab Stellvertreter*innen aus den verschiedenen Communities, Menschen, die mehrere Sprachen sprechen konnten und die Fähigkeit hatten, ihre Leute zu beeinflussen. Dann haben wir Komitees aus verschiedenen Nationalitäten gebildet. Wir hatten ganz verschiedene Komitees, zum Beispiel eins, um Probleme in der Community zu lösen, Meinungsverschiedenheiten zu klären und eine Spaltung von innen zu vermeiden. Ein Komitee hat mit den Medien gesprochen, ein anderes hat sich um den Müll gekümmert. Andere haben besprochen, wie der Protest weitergehen soll.

Ist euer Protest jetzt nach der Räumung zu Ende?

Ich kann euch versichern: Wir fangen gerade erst an. Wir hören nicht auf, solange es keine faire Behandlung vor Ort gibt, solange die europäisch-libysche Zusammenarbeit nicht vollständig eingestellt wird, solange Menschen weiterhin in libyschen Konzentrationslagern inhaftiert werden, solange Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet.

Welche Form der Unterstützung wünschst du dir, wünscht ihr euch?

Die internationale Gemeinschaft sollte sich mehr darüber informieren, was wirklich in Libyen geschieht. Und Aktivist*innen können die EU-Mitgliedsstaaten dazu bringen, ihre Zusammenarbeit mit den libyschen Milizen einzustellen.

Was noch?

Wir erwarten von deutschen wie von allen Open-Border-Aktivist*innen nicht mehr, als dass ihr unsere Stimmen verstärkt. Wir wollen, dass ihr unsere Geschichten weitertragt – ohne Filter und ohne, dass unseren Worten, unserem Schmerz und unserer Realität etwas hinzugefügt oder etwas davon weggelassen wird. Die Situation in Libyen muss ein Thema für alle werden, denn erst, wenn es eine Weltöffentlichkeit dafür gibt, wird es für die Regierungen und Entscheidungsträger*innen keinen Ausweg mehr geben.

Was möchtest du machen, wenn du aus Libyen rauskommst?

Wenn ich an einem sicheren Ort leben könnte, an dem ich Meinungs-, Rede- und Bewegungsfreiheit genießen würde, wäre ich gerne Menschenrechtsverteidiger. Ich will für Immigrant*innen und für die afrikanische Jugend sprechen. Denn der mangelt es, genau wie mir, an Möglichkeiten, sich in afrikanischen Länder zu bilden, zu entwickeln und zu entfalten.

Henrike Koch

war an der Kampagne #EvacuateRefugeesFromLibya beteiligt. Ziel der von United4Eritrea, BADU Berlin (Black African Diaspora United) und No Border Assembly Berlin koordinierten Social-Media-Aktion war es, den Stimmen von Refugees in Libyen vor allem in Deutschland mehr Gehör zu verschaffen.