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»Der Staat muss auf vier Feldern eingreifen«

Der Indigena-Aktivist Leonidas Iza kämpft für eine grundlegende Transformation Ecuadors – und hat sehr konkrete Vorstellungen, wie das gelingen kann

Interview: Frank Braßel und Sonja Gündüz

»Wer eine Wahl gewinnt, setzt seine Logik durch«. Mit diesem Prinzip möchte Leonidas Iza, hier bei einer Rede 2021, brechen. Foto: Asamblea Nacional del Ecuador/Flickr, CC BY-SA 2.0 Deed

Leonidas Iza ist Vorsitzender der Conaie (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador), des größten Indigena-Dachverbandes und der stärksten sozialen Bewegung des Landes. Er war ein führender Kopf der landesweiten Streiks von 2019 und 2022. Im Interview skizziert er seine Vorschläge zu einem demokratischen, plurinationalen Ecuador und kritisiert die aktuellen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Maßnahmen der Regierung Noboa.

Was ist die Vision der Conaie von einem anderen, einem gerechteren Ecuador?

Leonidas Iza: Mit der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich für uns Indigene wenig geändert, die koloniale Unterdrückung hält seit mehr als 500 Jahren an, bis heute. Wann immer wir Vorschläge für Transformationen machen, werden wir verfolgt, rassifiziert, kriminalisiert oder gar ermordet. Von daher ist es für uns von zentraler Bedeutung, den modernen Staat um die Komponente eines plurinationalen Staates zu erweitern. Kein Staat, der die Gesellschaft kontrolliert, sondern ein Staat, der die großen Ungleichheiten überwinden hilft; das gilt in erster Linie für Ecuador, aber letztendlich für ganz Lateinamerika.

Was heißt das konkret?

Zum einen muss die Gesellschaft lernen, dass wir eine mehr als 6.000 Jahre alte Zivilisation repräsentieren, deshalb sollte das Prinzip der Interkulturalität gelten, das die Anderen akzeptiert und die Autonomien respektiert.

Ein zweites Thema bezieht sich auf die institutionelle Struktur des Staates. Der moderne Staat muss mit unseren Strukturen leben, beispielsweise mit der indigenen Justiz. Diese basiert auf Übereinkünften des Zusammenlebens, die bis heute funktionieren. Formal haben wir, aufgrund langjähriger Kämpfe, unterschiedliche Formen der Demokratie in der ecuadorianischen Verfassung verankert: Die repräsentative Demokratie, die weltweit dominant ist, die direkte Demokratie, aber auch die Basisdemokratie auf Gemeindeebene. Letztere wird nur wenig angewandt. Für uns ist sie jedoch eine Form, um die kolonialen Strukturen zu überwinden, um gemeinsam Entscheidungen zu treffen.

Gilt das nur für die indigenen Völker?

Nein, für alle Gemeinschaften ist das eine Option der Demokratie. Aktuell hat sich die Demokratie auf Wahlprozesse reduziert. Wer eine Wahl gewinnt, setzt seine Logik durch, wie im kolonialen Staat. Alle anderen Meinungen werden nicht beachtet. Wir wollen, dass alle Formen der Demokratie gewertschätzt und angewandt werden.

Ein dritter Punkt ist fundamental: Wir müssen die Ziele der Wirtschaft neu diskutieren. In unserer Verfassung sind die Privatwirtschaft, die öffentliche Wirtschaft und die gemeinschaftliche Ökonomie festgeschrieben. Hieraus ergeben sich zentrale Fragen, denn auf Grundlage der wirtschaftlichen Strukturen errichten sich die politischen Strukturen. Doch wenn wir die Stärkung der gemeinschaftlichen Ökonomie nur erwähnen, heißt es: diese Kommunisten. Wenn wir uns aber die Fakten anschauen, dann ist es die familiäre und gemeinschaftliche Wirtschaft, die das Leben der Ärmsten des Landes überhaupt möglich macht.

Die Privatwirtschaft wird absolut gesetzt, sie hat seit 2010 mehr als 58 Milliarden US-Dollar an Steuerersparnissen etc. vom Staat erhalten. Gleichzeitig liefern die kleinen und indigenen Produzent*innen zwischen 50 und 60 Prozent all dessen, was die Ecuadorianer*innen essen. Für sie gibt es kaum staatliche Unterstützung. Es muss mehr Gleichgewicht zwischen den einzelnen wirtschaftlichen Sektoren geben.

Leonidas Iza

ist Vorsitzender der Conaie, des größten Indigena-Dachverbandes, und hat diesen bewusst links positioniert. Viele sehen ihn beeinflusst von den Lehren des peruanischen Marxisten José Carlos Mariátegui (1894-1930). Anfang März wurde er von der Pachakutik, der politischen Partei der Conaie, als Präsidentschaftskandidat für die anstehenden Wahlen im Februar 2025 nominiert. Das Interview mit ihm fand im Februar in Quito statt.

Offensichtlich wächst aber die Macht der Privatwirtschaft im Land, und sie scheint oft außerhalb der Gesetze zu agieren. Bedarf es aus Sicht der Conaie hier spezifischer Regelungen?

Unbedingt. Bei uns herrscht die Ideologie des Neoliberalismus, wonach der Markt alles regeln würde. Doch wir benötigen ein Eingreifen des Staates in vier Feldern. Zum einen die Kontrolle der Arbeitsrechte, diese können nicht den Wünschen der Unternehmer*innen angepasst werden, wie es jetzt Noboa mit den Stunden-Verträgen plant. Zum zweiten brauchen wir eine Steuerpolitik, die Devisenausfuhren und große Gewinne reguliert – wie es ja auch die kapitalistischen Staaten tun. Drittens ist es unverzichtbar, dass der Staat Ernährungssicherheit und Arbeitsplätze schützt. Es gibt beispielsweise in einigen Städten der Sierra die Produktion von Kleidung wie meine Lederjacke, was der Wirtschaft der gesamten Region nützt. Wenn du den Markt komplett öffnest, wie mit dem neuen Freihandelsvertrag mit China, dann werden unsere Kleinproduzent*innen preislich unterboten, und viele lokale Arbeitsplätze gehen verloren. Und mein vierter Punkt: Der Staat muss die Exporte regulieren, denn diese werden von den großen Unternehmen kontrolliert, bei Bananen, Krabben, Fisch, Blumen. Hier müsste der Staat eine Plattform schaffen, damit kleine Produzent*innen auch vom Export profitieren können. Wir wollen nicht die gesamte Wirtschaft kontrollieren, aber es muss einige Regeln geben, um mehr soziale Gerechtigkeit in Ecuador zu erreichen.

Diese Forderungen laufen dem aktuellen Mainstream entgegen. Welche möglichen Alliierten sieht die Conaie, um in diese Richtung voranzukommen, sei es bei den Wahlen im kommenden Jahr oder auch weiter in der Zukunft?

Wir haben begonnen, mit Parteien, sozialen Bewegungen und Akademiker*innen über ein Regierungsprogramm nachzudenken, das eine Alternative zur gegenwärtigen Politik und notwendige Transformationen darstellt. Ohne ein gemeinsames Programm werden die Neoliberalen weiter die Regierung stellen. Wir sollten uns aber nicht nur auf Wahlprozesse fokussieren, das hat sich als eine Falle herausgestellt.

Der Correismus (eine Bezeichnung für die politische Bewegung des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa, Anm. F.B.) hatte sich zunächst mit unseren historischen Forderungen identifiziert, dann aber in seiner Regierungszeit von 2007-2017 die Träger dieser Forderungen zunehmend attackiert. Für uns ist es sehr problematisch, dass wir zu einer vermeintlich linken Regierung beigetragen haben, die bald auf den Extraktivismus (eine Politik, die maßgeblich die Ausbeutung natürlicher Rohstoffe anstrebt, Anm. F.B.) setzte – nach 50 Jahren Erdöl nun verstärkt auf den Bergbau. Dieser zerstört unsere Lebensgrundlagen, weshalb wir uns dagegen gewehrt und unsere Souveränität verteidigt haben. Deswegen wurden unsere lokalen Führungspersönlichkeiten verfolgt, einige sogar ermordet, und es wurde versucht, die Conaie zu verbieten. Das hat zu einer totalen Konfrontation von Correist*innen und Anti-Correist*innen geführt, aus dem wir nun Auswege finden müssen. Denn allein werden wir keine Lösung finden, weder die progressive Bewegung noch die indigene Bewegung.

Die Indigena-Partei Pachakutik hat sich vielfach durch interne Konflikte und zuletzt schlechte Wahlergebnisse ausgezeichnet. Wie lässt sich das erklären?

Letztlich war auch hierfür die Spaltung zwischen Correist*innen und Anti-Correist*innen ausschlaggebend. Pachakutik wollte sich gegen erstere positionieren und hat sich deshalb in der vorherigen Nationalversammlung verschiedentlich auf die Seite der Rechten gestellt – und damit den Neoliberalismus gestärkt. Eine ähnliche Haltung konnten wir an unserer Basis bei den jüngsten Wahlen sehen, wo viele gegen die Kandidatin Correas und damit für Noboa gestimmt haben.

Die soziale Ausdifferenzierung der Indigena-Gemeinden spielt auch eine Rolle. Gleichzeitig war interessant zu sehen, dass die beiden großen Streiks von 2019 und 2022 nicht nur von den Indigenas getragen waren, sondern auch von verarmten Afro-Ecuadorianer*innen, Mestiz*innen und weiteren ethnischen Gruppen; es gab eine starke Klassensolidarität.

Hier gibt es also Raum für neue Bündnisse?

Ja, die sind auch nötig, es fehlen allerdings starke soziale Organisationen wie Gewerkschaften, mit denen wir Bündnisse schließen können. Sehr gut war die Zusammenarbeit zu einzelnen thematischen Fragen wie zum Referendum über den Stop der Ölförderung im Yasuní – mit jungen Leuten aus den Städten, mit indigenen Völkern im Amazonas, mit Umweltschützer*innen. Doch wir können es nicht bei Einzel-Themen belassen, es muss eine breitere programmatische Arbeit und Übereinkunft zur Transformation Ecuadors gefunden werden.

Die Drogen bewegen jährlich sechs Milliarden US-Dollar in unserem Land.

Leonidas Iza

Kommen wir zur aktuellen Politik. Erscheint der Ansatz von Noboa zum Problem von Gewalt und Drogenhandel adäquat?

Ich glaube nicht, insbesondere wenn wir auf benachbarte Länder wie Kolumbien oder Mexiko schauen. Man muss die Kriminalität, die Gewalt und den Drogenhandel bekämpfen. Unsere Regierung behauptet, sie würde das tun, konzentriert sich aber nur auf die Armen. Das ist keine wirksame Strategie, sondern man muss auch die in den Blick zu nehmen, die das Geld haben. Laut UN-Angaben bewegen die Drogen jährlich sechs Milliarden US-Dollar im Jahr in unserem Land. Diese Kids in den Armensiedlungen, die weder Ausbildung noch Arbeit und oft nicht genug zu essen haben, bewegen diese Milliarden? Natürlich nicht, ein Großteil dieser Summe fließt durch unser Finanzsystem, Immobilien, den Exportsektor, die Häfen. Der Kampf gegen das Verbrechen muss auf allen Ebenen stattfinden. Es ist bekannt, dass hohe Ebenen der Regierung und der Verwaltung vom Drogenhandel durchsetzt sind. Es braucht also eine integrale Strategie. Und wenn du nicht willst, dass unsere jungen Leute vom Drogenhandel rekrutiert werden, was musst du als erstes angehen? Eine aktive Sozialpolitik.

Welche Erwartungen gibt es in Bezug auf die internationale Ebene?

Wir brauchen die Unterstützung der reichen Länder. Wenn die USA und Europa den dortigen Drogenkonsum kontrollieren würden, wäre das sehr viel. Sie sagen uns aber lieber, was wir tun sollen. Wenn sie die führenden Köpfe des Drogengeschäfts in ihrem Territorium aus dem Verkehr ziehen würden, wäre das ausreichend.

Alternativen zur aktuellen Sicherheitspolitik scheinen derzeit in Ecuador nur schwer zu diskutieren sein…

Sehr schwer. Als wir Kritik an der Erhöhung der Mehrwertsteuer und der möglichen Kürzung der Subventionen von Diesel angebracht haben, hat uns Noboa sogleich mit dem Militär gedroht. Er nutzt die gewalttätigen Konflikte im Land perfekt aus und möchte sozialen Protest von vornherein als »terroristische Aktivität« abqualifizieren. Die Situation kann sich aber schnell ändern. Wenn sich in ein paar Wochen die soziale Lage durch die Maßnahmen Noboas verschlechtern sollte, wissen wir nicht, was passieren wird. Das ecuadorianische Volk hat sich nie den Mund verbieten lassen.

Frank Braßel

ist Historiker und Journalist und hat für diverse internationale Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen sowie das alternative Agrarforschungsnetzwerk SIPAE in Quito gearbeitet.

Sonja Gündüz

ist Regionalwissenschaftlerin für Lateinamerika, lebt seit elf Jahren in Ecuador und arbeitet u.a. zu den Themen Ernährungssouveränität, Agrarökologie, Arbeitsrechte und Umwelt. Sie schreibt zu aktuellen politischen Themen in Ecuador.

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