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Ein Staat im Kampf gegen sich selbst

Nach einer erneuten Welle der Gewalt in Ecuador hat Präsident Noboa offiziell einen »internen bewaffneten Konflikt« erklärt

Von Anika Pinz

Zwei schwer bewaffnete Soldaten laufen durch die Straßen, hinter ihnen ist ein Militärjeep zu erkennen. Sie tragen ihre Waffen im Anschlag. Das Bild ist von schräg unten aufgenommen
Der Ecuadorianische Staat hat die Drogenkartelle groß gemacht – und bekämpft sie nun mit aller Härte. Mitte Januar rief Präsident Daniel Noboa einen »internen Konflikt« aus. Foto: Presidencia de la República del Ecuador/Flickr, gemeinfrei

Ein vernichtender Schlag gegen den Narkoterrorismus und die Kriminalität durch die Streitkräfte. Wir sind hier, um den Ecuadorianern ihren Seelenfrieden wiederzugeben.« Dieses Statement veröffentlichte Daniel Noboa, Präsident Ecuadors, am 10. Februar auf der Plattform X. Darunter ein kurzes Video, in dem zu sehen ist, wie Spezialkräfte in Häuser eindringen und die Polizei Menschen auf offener Straße durchsucht und verhaftet, während das Militär Präsenz im öffentlichen Raum zeigt.

Der liberalkonservative Noboa trat sein Amt als jüngster Präsident Ecuadors am 23. November vergangenen Jahres an. Keine zwei Monate später rief er den ersten Ausnahmezustand aus – in dem südamerikanischen Land ein bei Staatsoberhäuptern beliebtes Mittel, um in Krisensituationen die Befugnisse von Regierung und Militär auszuweiten.

Diskurs des Krieges

Die aktuelle Krise begann mit dem Gefängnisausbruch von Adolfo Macías, alias »Fito«, Chef der »Choneros«, der mächtigsten Drogenbande Ecuadors. Kurz nachdem der Ausbruch Fitos bekannt wurde, kam es nicht nur in mehreren Gefängnissen zu Aufständen mit Geiselnahmen von etwa 200 Gefängniswärter*innen und Polizist*innen, sondern auch zu landesweiten Angriffen auf zivile Ziele durch Bandenmitglieder. In der Hauptstadt Quito ereigneten sich Explosionen, Krankenhäuser wurden von Kriminellen besetzt. Als Antwort auf diese Ereignisse verhängte Noboa am 8. Januar einen Ausnahmezustand, der dem Militär weitgehende Rechte einräumt und die Versammlungsfreiheit einschränkt. Zudem wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Nur einen Tag später gingen die Bilder aus dem Studio des Fernsehstudios TC Televisión in der Hafenstadt Guayaquil, in das bewaffnete Männer eindrangen und vor laufender Kamera Angestellte als Geiseln nahmen, um die Welt. Noch am selben Tag erklärte Noboa per Dekret einen »internen bewaffneten Konflikt«. Das Dekret 101 identifiziert 20 kriminelle Banden als »terroristische Organisationen« und ordnet das Militär an, Einsätze durchzuführen, um diese Banden zu »neutralisieren«.

Peter Ronquillo, Kunstschaffender und Gründer der Organisation »El Nudo« aus Guayaquil, beschreibt die Ereignisse vom 9. Januar gegenüber ak so: »Das Chaos in der Stadt war furchterregend. Straßen waren voll mit umherrennenden Menschen, Autofahrer*innen fuhren auf der Gegenspur, alle versuchten, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Niemand wusste, wo es noch Explosionen geben würde oder Menschen verschwinden könnten.«

Die Bevölkerung sei eingeschüchtert und in den traditionellen Medien sei der Diskurs des »Krieges gegen den Narkoterrorismus« omnipräsent, so Karen Toro, Fotografin aus Quito. »Alle Maßnahmen, die der Staat ergreift, werden in den Medien zu notwendigen Maßnahmen erklärt, um den bewaffneten Konflikt zu lösen.«

Staatlich geschaffenes System

Die Gewalt, die Ecuador aktuell erschüttert, kam nicht über Nacht. Seit drei Jahren kommt es immer wieder zu Massakern in den Gefängnissen mit teils über 100 Toten. Die Massaker werden von Banden verübt, die um die Vorherrschaft in den Gefängnissen kämpfen. Zur Schaffung dieser Konflikte hat der Staat selbst aktiv beigetragen, erklärt der ecuadorianische Anthropologe Jorge Nuñez im Gespräch mit ak. So habe die Polizei, der die Gefängnisse unter Noboas Vorgängerregierungen unterstellt waren, ein System geschaffen, in dem Häftlinge im Austausch gegen Informationen über den Drogenhandel Privilegien erhalten. Erst dadurch konnten die Banden ihre Macht immer weiter ausbauen. Mittlerweile sind die Gefängnisse zu Schaltzentralen von kriminellen Organisationen geworden.

Gut einen Monat nach der Eskalation der Gewalt versuchen die meisten Ecuadorianer*innen, wieder in ihren Alltag zurückzufinden, so Karen Toro. Gleichzeitig gehen die von der Regierung angeordneten Militäroperationen weiter. Laut der spanischen Nachrichtenagentur EFE wurden bis zum 12. Februar rund 7.500 Personen verhaftet, davon 241 wegen Terrorismusvorwürfen. Juan Pappier, stellvertretender Direktor von Human Rights Watch für die Amerikas, erklärte gegenüber der Washington Post, dass Noboa keine Beweise vorgelegt habe, die die Ausrufung eines internen bewaffneten Konfliktes rechtfertigen würden und sein Vorgehen die Tür für alle Arten von Missbrauch öffne, einschließlich »willkürlicher Verhaftungen und außergerichtlicher Hinrichtungen, die völlig ungestraft bleiben«.

Seit drei Jahren kommt es immer wieder zu Massakern in den Gefängnissen mit teils über 100 Toten.

Das Risiko, Opfer der Staatsgewalt zu werden, ist nicht für alle Ecuadorianer*innen gleich hoch. Juanita Francis ist Sprecherin der Organisation Mujeres de Asfalto (Frauen aus Asphalt) in Esmeraldas, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Esmeraldas hat den höchsten afroecuadorianischen Bevölkerungsanteil und die besonders von Armut und Gewalt betroffene Provinz wurde von den neoliberalen Regierungen der letzten Jahre strukturell vernachlässigt. Zahlen des ecuadorianischen Instituts für Statistik und Volkszählung (INEC) zufolge lebten 2019 41,6 Prozent der Bevölkerung in Armut und 13,4 Prozent in extremer Armut. Im Podcast »Frente Radiosa« erzählt Juanita Francis davon, welche Auswirkung die Ausrufung des bewaffneten Konflikts auf die Region an der Pazifikküste hat. »Unsere Viertel waren schon vor dem Ausnahmezustand militarisiert. (…) Was neu ist, ist die Legitimation eines Diskurses der Folter. Es gibt eine Medienkampagne, die darauf abzielt, Foltermaßnahmen an bestimmten Körpern zu legitimieren.« Der Krieg habe mit Hautfarbe und mit Geschlecht zu tun, fügt Francis hinzu. Für schwarze Menschen, queere Menschen und Frauen sei das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, viel höher als für Menschen, deren Körper der Norm entsprechen.

Hoffen auf basisdemokratische Projekte

Zu den wenigen Dingen, die Juanita Francis in der aktuellen Situation Hoffnung machen, zählen Projekte, die aus der sozialen Gemeinschaft heraus entstehen. Im Interview mit dem ecuadorianischen Medium Wambra erzählt sie von den »asambleas populares«, den Bürger*innenversammlungen. Diese Versammlungen, die Mujeres de Asfalto in Esmeraldas und weiteren Städten des Landes organisiert, dienen als Orte des Miteinanders, die das Vertrauen zwischen Bürger*innen wiederherstellen sollen. Bei den Treffen werden Lösungen für soziale Probleme erarbeitet, auf die der Staat keine Antworten hat. Zentrale Themen sind Rassismus, geschlechtsspezifische Gewalt, Sicherheit und Ungleichheit. Zu den Versammlungen kommen Vertreter*innen von NGOs, Nachbarschaftsorganisationen, Landarbeiter*innen und Fischer*innen. Die Resonanz ist groß, in Esmeraldas kamen zur ersten Versammlung im September 2023 über 200 Menschen.

Die Regierung Ecuadors feiert die Militärs als Held*innen und nutzt die Angst der Menschen, um Gesetze im Eilverfahren zu verabschieden. Strukturelle Lösungen, die den Zugang zu Bildung, Gesundheit und die Schaffung sicherer Arbeitsplätze für Menschen in prekären Lebensverhältnissen gewährleisten, sind nicht in Sicht. Währenddessen liegt die Hoffnung für Verbesserung auf der Schaffung von basisdemokratischen Projekten und neuen Allianzen innerhalb der Bevölkerung.

Anika Pinz

lebt in Berlin und schreibt als freie Journalistin zu Politik und sozialen Bewegungen in Lateinamerika mit Fokus auf Ecuador.