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Die Straße hat das Wort

Wie organisieren sich die Protestierenden in Iran, und welche Rolle spielen Iraner*innen im Exil?

Von Hamid Mohseni

Verwackelte Straßenszene, einige Mofafahrer von hinten, sie fahren auf eine dunkle Rauchsäule zu
Die zahlreichen militanten Aktionen richten sich gegen den Sicherheitsapparat und andere Symbole der Repression. Hier brennt ein Motorrad der Sicherheitskräfte in der zentraliranischen Stadt Arak. Videoausschnitt via Twitter

In Iran ist es eine politische Botschaft, auf die Straße zu gehen, denn es kann das Leben kosten. Es ist daher etwas Besonderes, wenn sich in allen Teilen des Landes und insbesondere in sogenannten konservativen Hochburgen Menschen versammeln und Parolen rufen.

Die Islamische Republik Iran (IRI) ist ein totalitärer Staat, in dem es faktisch keine unabhängige Presse, keine NGOs und Verbände, keine unabhängige Kultur oder Medien und keine vertrauenswürdigen Meinungsumfragen gibt. In den 1990er Jahren mag es das eine oder andere davon gegeben haben, als der Glaube an die Reformierbarkeit der IRI auf seinem Höhepunkt war, doch dieses Versprechen ist längst passé. Die Parole der Demonstrierenden in der landesweiten Aufstandswelle 2017/2018 war die Grabschrift für die Idee von solchen Reformen: »Reformer, Konservative – das Spiel ist aus.«

Nun sind die Menschen in Iran wieder auf der Straße. Es gibt keine zentrale Organisation, stattdessen werden Aufrufe im Internet geteilt und per Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben, zum Beispiel von Studierenden oder anonym, aber auch von einer Gruppierung, die sich Jugend der Teheraner Nachbarschaften nennt. Die Versammlungen sind allesamt illegal und werden aufs Schärfste verfolgt. Doch sie enthalten ein ermutigendes Signal an andere Iraner*innen: Wir trauen uns trotz wochenlanger Repression und Drohungen hinaus – und können sogar die Oberhand gewinnen.

Die Demonstrierenden gehen mit einer neuen, dezentralen Taktik vor: Sie tauchen an wechselnden Orten auf, blockieren gezielt wichtige Kreuzungen, zerstreuen sich nach Auseinandersetzungen mit Polizei und Milizen wieder und sammeln sich an anderer Stelle neu. Das treibt die Sicherheitskräfte an die Belastungsgrenze, die Kontrolle über ganze Viertel liegt zeitweise bei den Demonstrierenden.

Organisationsformen des Aufstands

Was in Deutschland Erklärungen, Pressemitteilungen und Aufrufe sind, sind in Iran die Parolen. Sie sind die einzige Stimme der Straße und das wichtigste Kommunikationsmittel zwischen den Demonstrierenden. Jîna Mahsa Amini war Kurdin, nach ihrem Tod war es insbesondere der kurdische Teil Irans, der auf die Straße ging. Wenn kurze Zeit später im ganzen Land Parolen ertönten wie »Jin, Jiyan, Azadî« (und die iranische Übersetzung) oder gar »Kurdistan – Auge und Licht des Iran«, sind das progressive Botschaften. Insbesondere die letzte Parole impliziert auch eine Solidarisierung mit Kurd*innen, die im Vielvölkerstaat Iran alles andere als selbstverständlich ist. Die IRI befeuerte Rassismus und Chauvinismus gegen alle Minderheiten, und auch die iranische Gesellschaft trug diesen mit. Nun werden in allen Teilen des Landes die Kurd*innen besungen – eine große Errungenschaft.

Alle Aufstände in Iran haben seit Jahren einen radikalen Minimalkonsens: Sie rufen »Nieder mit dem Diktator« und wenden sich auch explizit gegen Khamenei und die Mullahs, oder gleich gegen die gesamten IRI und die ihr zu Grunde liegende politische Ideologie, die »Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten«. Hier sind die Stimmen der Straße eindeutig: Es geht nicht um eine liberalere IRI, sondern um gar keine. Das Regime muss weg. Dabei sind viele bereit, alles zu riskieren, wenn sie skandieren: »Wir kämpfen, wir sterben – wir holen uns Iran zurück.«

Eine weitere Parolen zerschmettert jeden nostalgischen Wunsch nach der 1979 vertriebenen Monarchie. Während der Sohn des letzten Shahs sich seit Jahren aus den USA heraus als Thronfolger und Sprecher der Menschen in Iran präsentiert, quittieren die Demonstrierenden im Herbst 2022 seinen billigen Populismus mit der Parole »Nieder mit dem Unterdrücker – ob Shah oder (religiöser) Führer«. In Iran sind es die Menschen leid, dass eine höhere Instanz – Islamist oder Monarch – ihnen ihr Leben vorschreibt.

Die Generation, die heute auf der Straße ist, ist die zweite verbrannte Generation, die nichts außer dem krisenbehafteten Leben in der Islamischen Republik kennt.

Das wichtigste und prägendste Symbol der letzten Wochen ist das Herunterreißen des Hijabs und die Präsenz von Frauen bei sämtlichen Aktionsformen. Der Hijab ist weit mehr als nur ein Kleidungsstück, in Iran vereint er die gesamte frauenverachtende Politik der IRI in sich. Vielleicht noch bedeutsamer ist es, wenn dieser Akt in den Alltag getragen wird. Fotos und Videos kursieren von Frauen, wie sie sich ohne Kopftuch durch die Straßen bewegen. Wenn das nachlässige Tragen des Kopftuches – was die Frauen in Iran trotz Prügel, Festnahmen, Folter und Tod immer wieder gegen die Autoritäten durchsetzen – ein Akt des zivilen Ungehorsams ist, so ist das Abnehmen des Hijabs ein revolutionärer Akt. Männer unterstützen die Frauen und beteiligen sich solidarisch an den Protesten.

Wie schon in den vergangenen Jahren fällt auf, dass die zahlreichen militanten Aktionen klare Ziele haben: die politische Herrschaft und den Sicherheitsapparat, konkret Polizeibeamte und Milizen oder deren Fahrzeuge, die omnipräsenten Poster und Konterfeis der Revolutionsführer, Banken und Geschäfte, die den Revolutionsgarden zuzuordnen sind, sogar deren Häuser. Die militanter Aktionen sind das Gegenteil von »wahlloser Zerstörung«, von der das Regime spricht.

Arbeiter*innen und Studierende

Die Solidarität verläuft auch klassenübergreifend. Die 2009 noch stabile unsichtbare Grenze zwischen Teheraner Norden (bürgerlich, gebildet, reformernah) und Süden (arm, ungebildet, konservativ) ist bereits seit einigen Jahren in Auflösung.

Schon in den zurückliegenden Jahren ereigneten sich sozialpolitische Revolten, die sich auch im Alltag festsetzten: Fast jeden Tag fanden und finden in Iran kleine Streiks und andere Aktionen von Arbeiter*innen der unterschiedlichsten Branchen statt. Der Protest ist Teil ihres Alltags geworden ist, sie sind entsprechend mobilisierbar. Auch dieses Element findet sich jetzt also wieder und könnte in einer neuen Phase der Proteste noch stärker werden: In einigen Regionen wurde bereits gestreikt, die vielleicht wichtigste Arbeiter*innenvereinigung, die unabhängige Lehrer*innengewerkschaft, rief Anfang Oktober bereits landesweite Streiks aus. Viele Lehrende folgten dem Aufruf, und es ist damit zu rechnen, dass sie wieder ihre Arbeit niederlegen. Arbeiter*innen im Einzelhandel, Busfahrer*innen, Redakteur*innen, Fernfahrer*innen und sogar der Ölsektor kündigten ähnliche Aktionen an.

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Zwar ist nicht davon auszugehen, dass diese Aktionen in einen Generalstreik münden und die iranische Wirtschaft kollabiert. Doch die streikenden Arbeiter*innen tragen zur Protestdynamik bei. Im besten Fall stellen sie nicht »nur« ihre unmittelbaren Anliegen in den Vordergrund, sondern solidarisieren sich mit den Protesten, wie die streikenden Arbeiter*innen aus zwei petrochemischen Anlange im Süden des Landes oder die Bauern aus der Region Isfahan. Der Zeitpunkt für eine Solidarisierung der Arbeiter*innen ist günstig, denn in dieser Bewegung gibt es ein gemeinsames Ziel, mit dem sich viele Menschen immer mehr identifizieren können: Das Regime muss weg.

Das sehen auch Studierende so, die Anfang Oktober ebenfalls in Streik getreten sind. Es ist gut möglich, dass Iran derzeit das Erwachen einer neue Studierendenbewegung erlebt. Und diesmal sind – vermutlich erstmals in der Geschichte der IRI – auch Schüler*innen in großer Zahl am Aufstand beteiligt. Die iranische Generation Z hat die Schnauze voll. Die Generation, die heute auf der Straße ist, ist die zweite »verbrannte Generation«, die nichts außer dem krisenbehafteten Leben in der IRI kennt.

Arbeiter*innen und Studierende könnten die Proteste in der nächsten Zeit politisch besonders prägen und mit ihren Inhalten die linke, progressive Richtung stärken.

Das gefährliche Spiel des Exils

Da politische Organisierung in Iran aufgrund der massiven Verfolgung schwierig ist und es kaum langfristige Kommunikationskanäle für sie gibt, sind Stimmen der exiliranischen Community leichter zu finden und werden in Medien im Westen häufig zitiert. Die Generation der nach 1979 ins Exil Geflohenen ist noch immer geprägt von den politischen Konflikten, die sie bereits in Iran miteinander ausgefochten hat. Doch gerade die einstmals starke Linke hat an Kraft verloren. Viele ehemalige kommunistische Revolutionäre blicken verbittert auf die eigene Vergangenheit. Sie geben sich eine Mitschuld, wenn nicht die Hauptschuld an der Entstehung der IRI, da sie den historischen Fehler begangen hätten, mit Khomeini zu paktieren. Dieses Narrativ befeuern andere politische Kräfte des Exils ganz massiv, sie stehen Linken vielerorts feindselig gegenüber. Doch dieser Fehler, auch wenn er verheerende Folgen hatte, delegitimiert nicht die Revolution gegen den autoritären Monarchen und dessen Schreckensherrschaft.

Mit vielen Ressourcen, Geld und mehreren Medienanstalten ausgestattet, inszenieren sich derzeit vor allem die Monarchist*innen (Hochburg: USA) in der Öffentlichkeit als einzige Alternative zur IRI und beanspruchen die Hegemonie auf die Proteste. Dabei beklatschen sie ausgerechnet Streiks und die in weiten Teilen linke Lehrer*innengewerkschaft, doch nicht wenige von ihnen sind ultrarechts, verabscheuen Linke und würden sie bei entsprechenden Machtverhältnissen sofort kriminalisieren und einsperren.

Zwei Beispiele verdeutlichen die weniger offensichtliche Instrumentalisierung der Proteste. Die in den USA lebende Menschenrechtsaktivistin Masih Alinejad spricht in einem ihrer zahlreichen Interviews davon, dass »die Menschen in Iran die Sanktionen wollen«. Das ist nicht wahr, die Sanktionspolitik ist in der Bevölkerung hoch umstritten. Die britisch-iranische Hollywoodschauspielerin Nazanin Boniadi – bekannt aus ihrer Rolle in der aktuellen Herr-der-Ringe-Serie – posiert häufig vor der Fahne des alten, monarchistischen Persiens (die Fahne mit dem Löwen in der Mitte). Bei einer Versammlung sagte sie: »Diese Löwin steht für den Mut der Frauen in Iran«. Auch wenn die iranischen Frauen gerade »mutig wie Löwinnen« genannt werden, ist ihre Aussage eine Verharmlosung dieser Fahne und ihres Symbols. Sie steht für die persische Monarchie und ihrer Ideologie, die 1979 vom iranischen Volk (nicht nur von Islamisten und Konservativen) zum Abdanken gezwungen wurde – und nicht für die aktuelle feministische Revolte. Dieselbe Boniadi instrumentalisiert weiter die Stimmen der Jugendlichen in Iran und deutet deren mutiges Auftreten so um, dass sie die Revolution von 1979 verurteilten, da ihnen dort »die Freiheit« genommen worden wäre. Diesen Geschichtsrevisionismus teilen die Menschen in Iran nicht, auch wenn Boniadi und Konsorten es gerne so darstellen.

Die Kritik am iranischen Exil soll nicht als Plädoyer zur Spaltung verstanden werden. Exiliraner*innen machen derzeit gute Arbeit, indem sie öffentlichen Druck herstellen. Diesen Druck braucht es, denn er macht die IRI nervös und zögerlich. Doch niemand im Exil hat das Recht, die Proteste für sich zu beanspruchen oder mögliche Szenarien für ein Leben nach der IRI zu entwerfen. Das steht ausschließlich den Menschen in Iran zu, die derzeit täglich ihr Leben riskieren.

Hamid Mohseni

ist in Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er verfolgt die Proteste gegen die Islamische Republik seit 2009. Er ist freier Journalist und lebt in Berlin.

Der Artikel wurde zuletzt am 13. Oktober aktualisiert, neuere Entwicklungen sind nicht berücksichtigt.

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