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|ak 691 | Ökologie

»Die hochwertigsten Lebensmittel sollten auch die preiswertesten sein«

Isabella Lang vom MILA Mitmach-Supermarkt in Wien über die Herausforderungen bei der Neuorganisation der Lebensmittelversorgung

Interview: Eva Gelinsky

Geschafft! Anfang Februar 2023 wurde die MILA Mitmach-Supermarkt e.G. gegründet. Als Genossenschaft gehört MILA ihren Mitgliedern. Foto: MILA

Jeder Dritte in Deutschland muss wegen der hohen Inflation derzeit auf Erspartes zurückgreifen, um die täglichen Ausgaben bezahlen zu können. Die Tafeln in Deutschland stoßen an ihre Grenzen: Zwei Millionen Menschen nutzen sie mittlerweile, so viele wie nie zuvor. Während die Preise in den Supermärkten laut Statistischem Bundesamt mit 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr etwa doppelt so stark steigen wie die allgemeine Inflation, können viele Betriebe am anderen Ende der Lieferkette ihre Produktionskosten noch immer nicht decken.

Die aktuelle Krise offenbart also einmal mehr die Dysfunktionalität einer kapitalistisch organisierten Nahrungsmittelversorgung. Profiteure dieses Systems sind die großen Einzelhandelsketten, die 70 Prozent der Lebensmittelversorgung in Europa kontrollieren und ihre (Preis-)Macht gnadenlos ausnutzen, sowie wenige Großproduzent*innen. Auf der Verliererseite stehen die Verbraucher*innen, die mit knappem Budget auf Billigprodukte mit oftmals zweifelhaftem Gebrauchswert angewiesen sind, sowie die Produzent*innen, die auf Größenwachstum und Intensivierung setzen müssen und trotzdem finanziell ums Überleben kämpfen. Nicht zu vergessen die Umwelt, die durch die intensive Produktion hohen Belastungen durch Pestizide und Düngemittel ausgesetzt ist und deren Ressourcen (Wasser, Böden) über die Maßen strapaziert werden.

An einer Lösung dieser Widersprüche im Hier und Jetzt arbeitet die Bewegung der »Mitmach-Supermärkte«. Der erste Markt dieser Art (Park Slope Food Coop) wurde 1973 in New York eröffnet. Nach Europa kam die Idee vor knapp zehn Jahren. 2014 eröffnete La Louve in Paris. Inzwischen gibt es weitere Läden in Frankreich und Belgien, seit 2021 die ersten deutschen in München (FoodHub) und Berlin (Super Coop), in Hamburg und Köln gibt es Initiativen. Viele dieser Mitmach-Supermärkte sind in Stadtvierteln angesiedelt, in denen Menschen von Armut betroffen sind. Ihr Anspruch ist es, qualitativ hochwertige und dennoch günstige Lebensmittel für alle zugänglicher zu machen.

Die jüngste Initiative gibt es in Wien. Als Testversion im Kleinformat und Zwischenschritt zum großen Supermarkt wurde im Mai 2022 ein Minimarkt in Wien-Ottakring eröffnet. Anfang Februar 2023 wurde die MILA Mitmach-Supermarkt e.G. gegründet. Als Genossenschaft gehört MILA ihren Mitgliedern. Diese bestimmen gemeinsam, was im Markt angeboten wird, und arbeiten auch einige Stunden im Monat mit. Durch die selbstorganisierte Struktur mit weniger Personalkosten und weil vor allem Gemüse, Obst und Milchprodukte direkt von den Produzent*innen bezogen werden, sind Lebensmittel und viele andere Produkte des täglichen Bedarfs hier durchschnittlich um rund 20 Prozent günstiger. Landwirt*innen ihrerseits sollen faire Preise für ihre Produkte erhalten. Eva Gelinsky sprach mit Isabella Lang, einer Mitinitiatorin von MILA in Wien, über die Anforderungen und Herausforderungen eines solchen Projekts.

Was hat euch dazu motiviert, auch in Wien einen Mitmach-Supermarkt aufzubauen?

Isabella Lang: Im Herbst 2019 fand ein österreichisches Nyéleni-Forum der Bewegung für Ernährungssouveränität statt, bei dem »Gutes Essen für Alle« im Fokus stand. Nach Workshops und einer Podiumsdiskussion unter anderem mit Tom Booth vom genossenschaftlichen Supermarkt »La Louve« in Paris bildete sich eine Gruppe von Aktivist*innen, die ein solches Projekt auch in Österreich starten wollten. Die Hauptmotivation bei den Beteiligten ist sicher verschieden, aber die Re-Demokratisierung des Lebensmitteleinzelhandels sowie die Bezahlbarkeit von Bio-Produkten wurden in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert. Der Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel und der Positionierung von Bioprodukten als hochpreisige Lifestyleprodukte wollen wir mit unserem Projekt entgegenwirken.

Wie entscheidet ihr über euer Sortiment? Welche Kriterien müssen die Produkte erfüllen?

Unsere Mitglieder entscheiden über die Produkte, also jede*r redet mit und kann etwas vorschlagen. Man kann digital oder vor Ort im Minimarkt Produktwünsche deponieren. Die Arbeitsgruppe Sortiment evaluiert diese Wünsche dann, in erster Linie anhand praktischer Aspekte wie Verfügbarkeit, Umsetzbarkeit, Nachfrage, Preis, aber auch anhand von sozialen und ökologischen Gesichtspunkten. Werden Mindestanforderungen erfüllt, kommen natürlich auch Nicht-Bioprodukte oder etwa Produkte aus dem Globalen Süden ins Regal. Es ist und soll kein exklusiver Biosupermarkt werden, sondern ein Markt von und für die Mitglieder. Daher finde ich es persönlich auch sehr schwierig, Produktwünsche abzulehnen. Im Minimarkt, unter 50 qm, ist das aktuell aber auch noch überschaubar, weil der Platz sehr begrenzt ist. Wenn wir im großen Supermarkt dann mehrere Tausend Produkte haben werden, wird sich die Arbeitsgruppe Sortiment auch noch mal intensiver mit diesen Widersprüchen beschäftigen. Konkret brauchen wir wahrscheinlich eine Art Anforderungskatalog, anhand dessen die Produktwünsche dann evaluiert werden können. Es muss ja auch einheitlich und für alle nachvollziehbar und fair ablaufen. So weit sind wir aber im Moment noch nicht.

Wir bräuchten einen grundlegenden Systemwandel im Agrar- und Ernährungssystem.

Die Konsument*innen sollen als Miteigentümer*innen von günstigen Preisen profitieren. Wie stellt ihr sicher, dass auch die Produzent*innen Preise erhalten, von denen sie leben können?

Wir sehen uns natürlich genau an, mit wem wir zusammenarbeiten und woher wir unsere Produkte beziehen. Das Gemüse kommt beispielsweise direkt aus Wien von einem Biohof an der Stadtgrenze. Da fahren Mitglieder jeden Freitag früh persönlich zur Abholung, da ist also ein enger Kontakt zu den Produzent*innen gegeben. Ohne den Schritt über den Zwischenhandel können Produzent*innen bessere Preise für ihre Produkte erhalten. Wir kaufen aber auch vieles über den Großhandel oder bei Genossenschaften. Bei über 500 verschiedenen Produkten wäre es logistisch anders auch nicht möglich und ökologisch – und aufgrund des Transportaufwands auch nicht sinnvoll. Direkte Preisverhandlungen zwischen Konsument*innen und Produzent*innen, wie es etwa in der südkoreanischen Kooperative Hansalim (1) gemacht wird, sind erst mal nicht geplant. 

Was bräuchte es über Projekte wie MILA hinaus, um die Lebensmittelproduktion tatsächlich sozial und ökologisch verträglich zu gestalten?

Ich denke, dass Initiativen wie MILA sehr wichtig sind, aber auch nur begrenzt die großen Herausforderungen unserer Zeit beantworten können. Die individuelle bzw. kollektive Verantwortung ist das eine, systemischer Wandel das andere. Wir bräuchten einen grundlegenden Systemwandel im Agrar- und Ernährungssystem und darüber hinaus im gesamten Wirtschaftssystem, wenn wir die Lebensmittelproduktion auf wirklich nachhaltige Beine stellen wollen. Unser Supermarkt kann nur sehr kleine Schritte in eine gute Richtung gehen. Außerdem müssen wir immer wieder Kompromisse eingehen, es gibt sehr hohe Miet- und Energiepreise im Moment, die Hygieneanforderungen wurden für große Supermärkte entwickelt, die Preispolitik der Produzent*innen setzt oft auf Masse statt auf Qualität usw. Viele Menschen sind auf billige, hoch verarbeitete Fertiggerichte angewiesen, weil es sich sonst im Alltag gar nicht mehr ausgehen würde, sei es zeitlich oder finanziell. Bio als Marke hat sich in Österreich leider in der Vergangenheit viel zu oft als hochpreisiges Lifestylesegment positioniert bzw. positionieren lassen. Das halte ich für falsch: Es sollte eigentlich so sein, dass die qualitativ hochwertigsten Lebensmittel auch die preiswertesten sowie die am einfachsten verfügbaren sind. Trotzdem sind Projekte wie MILA wichtig, weil sie neben sozialen und ökologischen Zielen auch Räume zum Austausch und für die soziale Vernetzung bieten. Das merken wir deutlich. Wir haben etwa seit Herbst eine »Grätzloase«, eine Terrasse vor dem Geschäft, die als Treffpunkt für sozialen Austausch, Diskussionen und ein Feierabendgetränk gerne genutzt wird. Über diese informellen Räume entsteht wichtige Basisarbeit, sei es im Bereich Ernährung, Agrarpolitik oder Politik allgemein.

Eva Gelinsky

ist Geografin, Agraraktivistin und Redaktionsmitglied bei emanzipation. Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.

Anmerkung:

1) Die 1986 gegründete Kooperative Hansalim ist die größte ökologische Genossenschaft weltweit. Fast 3.000 landwirtschaftliche Betriebe und 800.000 Haushalte (ca. zwei Millionen Menschen) sind in der Erzeuger*innen-Verbraucher*innen-Genossenschaft miteinander verbunden. Die beiden wichtigsten Statuten lauten: Solidarität zwischen Stadt und Land sowie Schutz der Umwelt. Jedes Jahr entscheidet ein Gremium über den Verdienst der Landwirt*innen und die Preise für die Produkte. Es gibt monatliche, vorbereitende Treffen zwischen Produzierenden und Konsumierenden, bei denen beide Seiten die Kosten der Bäuer*innen und die Belastung der Käufer*innen abschätzen, die vergangene Ernte auswerten und Prognosen für die kommende Saison erstellen.