analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 687 | International

Die geheimnis­volle iranische Opposition

Westliche Beobachter*innen von links bis rechts sorgen sich um die Stabilität im Land – sie müssen ihre Ignoranz gegenüber der Revolution ablegen

Von Mina Khani

Demoszene, im Vordergrund links eine Frau, deren Gesicht von einer Fahne halb verdeckt ist, in der Mitte eine ältere Frau im Profil, rechs ein Mann mit Mundschutz, mehrere Fahnen und Schilder sind zu ehen, Aufschrift auf den Schildern: Woman, Life, Freedom
Wer sind sie, die oppositionellen Iraner*innen? Szene von der Großdemonstration der iranischen Diaspora am 22. Oktober 2022 in Berlin. Foto: Jan Ole Arps

Jahrelang hat man sie ignoriert. Ihre Geschichte wurde kaum erzählt – und wenn doch, dann nur verkürzt. »Sie wollten doch die Mullahs. Sie haben sich doch selbst entschieden, unter der Herrschaft der Mullahs zu leben.« Man ist gewohnt, dass so über die iranische Bevölkerung gesprochen, dass sie als Gesellschaft ohne Geschichte und ohne Entwicklung dargestellt wird. Erst jetzt, Wochen nach Beginn der landesweiten revolutionären Proteste, ist die Frage plötzlich überall zu hören, und sie soll möglichst schnell und klar beantwortet werden: Wer sind sie, die oppositionellen Iraner*innen? Wer ist die Opposition in Iran? In diesem Beitrag werde ich ein Stück Geschichte der Gegenwart über diese geheimnisvolle Opposition erzählen.

Im Februar 1979 trifft Khomeini auf dem Höhepunkt der Revolution in Iran ein. Vorher lebte er im Exil, zunächst in Irak, im letzten Jahr vor der Revolution in Frankreich. Khomeini wurde erst zur absoluten Figur der Revolution, nachdem er im Westen häufig interviewt wurde. In den Monaten vor der Revolution standen westliche Journalist*innen Schlange vor seinem berühmten Wohnsitz in Neauphle-le-Château in der Nähe von Paris.

Die Linke stellte sich damals zum großen Teil hinter Khomeini, weil er ihre antiimperialistischen Diskurse übernommen hatte, aber auch, weil durch seine Bekanntheit die Aufmerksamkeit für die Revolution wuchs. Dass er US-Präsident Jimmy Carter bereits versprochen hatte, im Falle seiner Machtübernahme zu verhindern, dass Kommunist*innen in Iran an die Macht kommen, war weder der Linken noch der iranischen Bevölkerung bekannt. Erst vor einigen Jahren wurde die Korrespondenz durch die Freigabe diplomatischer Akten und CIA-Berichte zum historischen Fakt.

Khomeini und der Terror gegen Andersdenkende

Khomeini begann sofort nach seiner Machtergreifung, zur Zwangsverschleierung der Frauen aufzurufen. Er hatte das Potenzial der Frauen bei der Revolution richtig erkannt. Frauen waren auch die ersten, die gegen seine Maschiniere der Gewalt mobilisierten. »Freiheit ist weder östlich noch westlich« war eine Parole bei den ersten Protesten gegen die Zwangsverschleierungsaufrufe 1979. Die Parole richtete sich gegen die antiwestliche Rhetorik, die Khomeini als »antiimperialistisch« verkaufte. Die Botschaft der Frauen war klar: Wir haben für die Befreiung gekämpft. Warum soll das nun »westlich« sein?

Unmittelbar nach der Revolution begannen die Terrorakte und politischen Säuberungen: Massaker in Kurdistan (1979/80), Verfolgung und Massaker an der religiösen Minderheit der Bahai in den 1980ern, die sogenannte »Kulturrevolution« (1980–1987) – in deren Verlauf Universitäten und akademische Räume für Jahre geschlossen wurden, um sie von »Konterrevolutionären« zu säubern –, die Ermordung Tausender politischer Gefangener in den 1980ern und insbesondere im Jahr 1988, die Militarisierung des Landes im Iran-Irak-Krieg und die Gründung der Revolutionsgarden. Täglicher Staatsterror auf der Straße durch die Basij und andere Milizen, die Ideologisierung der Hisbollah in Iran und die Gründung der Hisbollah in Libanon, die Militarisierung der Schulen durch die Ideologisierung des Bildungssystems, Terroranschläge auf iranische Oppositionelle in der Diaspora und so weiter.

Man kann von den Menschen in Iran nicht erwarten, dass sie eine Art der politischen Organisationen präsentieren, die für die westliche Öffentlichkeit leicht verdaulich ist.

Die Militarisierung der iranischen Gesellschaft begann mit der Entrechtung der Frauen und sexuellen und Genderminderheiten und wurde mit der Illegalisierung unabhängiger Gewerkschaften und jeder Art der Selbstorganisierung und Selbstbestimmung fortgesetzt – so weit, dass sogar der Versuch die Todesstrafe bedeuten kann. 2021 war Iran laut Amnesty International mit 314 dokumentierten Exekutionen (das Regime veröffentlicht keine Zahlen) nach China das Land mit den weltweit meisten vollstreckten Hinrichtungen. Im ersten Halbjahr 2022 ist die Zahl noch einmal drastisch gestiegen.

Auch bei der Korruption gehört Iran zur Weltspitze; bei der Geschlechtergleichheit belegt das Land (nach Zahlen des World Economic Forums) den 143. von 146 Plätzen. Der Staat, den Khomeini 1979 gründete, hat in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens jede soziale und politische Spaltung innerhalb der Gesellschaft vertieft und gegen die Gesellschaft selbst gewendet.

Es ist essenziell, diese Geschichte zu erzählen, wenn man über die heutige Lage der Opposition in Iran und im Exil sprechen will. Denn ohne diesen historischen Kontext könnte man auf die Ideen kommen, zu behaupten, dass die Iraner*innen keine organisierte Opposition hätten – und damit meint man, dass sie nicht in der Lage wären, sie zu bilden.

Die iranische Gesellschaft nach dem Massaker

Wegen dieser Politik des iranischen Staates ist es in der Tat nicht einfach, eine sichtbare Opposition in Iran zu bilden. Die historische Erfahrung mit Khomeini und seinem männlichen politischen Umfeld in Frankreich 1978 und 1979 macht die meisten Iraner*innen zudem sehr misstrauisch, wenn es darum geht, die Opposition vom Ausland aus zu bilden. Hinzu kommt die Geschichte der Terroranschläge auf Oppositionelle im Ausland, vor allem in Europa, die auch die politische Arbeit der Diaspora gefährlich macht: das Mykonos-Attentat, bei dem das Regime 1992 in Berlin vier iranisch-kurdische Exilpolitiker ermorden ließ; die Mordanschläge auf Shapour Bakhtiar (von Ende Dezember 1978 bis Februar 1979 Premierminister Irans) in Frankreich, die ihn 1991 das Leben kosteten; die Ermordung des Sängers Fereydoun Farrokhzad in Bonn 1992 und weitere bekannte und unbekannte Terroranschläge auf die Opposition im Ausland. Diese Strategie hat der iranische Staat nie aufgegeben. Der in Paris lebende Journalist und Blogger Ruhollah Zam, der 2019 nach Irak gelockt, dort von Revolutionsgarden entführt und schließlich in Teheran hingerichtet wurde, ist nur der letzte bekannte Name in dieser Chronik.

Auch die Beziehungen politischer Aktivist*innen in Iran mit Gegner*innen des Staates in der Diaspora wird systematisch beobachtet und kriminalisiert. Das alles erschwert die Bildung einer Exil-Opposition massiv. Im Land selbst verhindert die Kriminalisierung, dass über oppositionelle Netzwerke öffentlich gesprochen wird. Netzwerke, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, mussten ihre politische Identität verstecken. Die heute politisch organisierten Menschen in Iran sind mehrheitlich nach den Massakern an den politischen Gefangenen und Andersdenkenden groß geworden. Sie mussten fast bei Null wieder anfangen. Jahrelang gab es kaum Beziehungen zwischen dieser Generation und den politisch Aktiven in der Diaspora. Erst durch soziale Netzwerke und Smartphones wurde das wieder möglich – einer der Gründe, warum die Abschaltung und Verlangsamung des Internets eine mächtige Waffe des Regimes gegen die Bewegungen in Iran ist.

Die iranische Opposition heute

Wenn man diese Geschichte betrachtet, muss man feststellen, dass jeder Vergleich der heutigen Opposition mit der von 1979 nur zu falschen Schlussfolgerungen führt. Es gab damals neben Khomeini, der von westlichen Medien als Figur der Revolution präsentiert wurde, linke und liberale politische Organisationen und Parteien, die trotz der Diktatur des Schahs weltweit Aufmerksamkeit erhielten, vor allem in den letzten Jahren vor der Revolution.

Weil der Schah ein wichtiger Verbündeter des Westens war, war es auch nicht schwer, die Solidarität linker und progressiver Kräfte zu bekommen. Es war daher auch leichter, den Schah in den westlichen Staaten unter Druck zu setzten. Der Schah musste sich persönlich in Interviews mit westlichen Journalisten*innen zum Thema der politischen Gefangenen in Iran erklären. Prominente von Michel Foucault bis Simone de Beauvoir äußerten sich damals zu den Ereignissen und solidarisierten sich mit den iranischen Revolutionär*innen. So viel zum Thema, wie progressive Kräfte und Medien im Westen eine Revolution in Iran unterstützen können.

Heute ist das anders. Die alte iranische Linke wurde systematisch vernichtet. Sie trägt selbst einen Teil der Verantwortung dafür, weil sie sich damals zum großen Teil an die Seite der reaktionären Antiimperialist*innen gestellt hat, statt an die Seite der säkularen Kräfte. Seitdem hat sie es kaum geschafft, sich organisatorisch neu zu formieren. Die Opposition sitzt in den Gefängnissen – von radikal links bis zu Liberalen, von Sozialist*innen bis Nationalist*innen, aber auch ein großer Teil der iranischen Zivilgesellschaft und Künstler*innen. Die Linke existiert, aber als feministische und queere Bewegung, als Diskurs, als Teil der Arbeiter*innenbewegung, traditionell auch bei den ethnischen Minderheiten, insbesondere in der kurdischen Gesellschaft.

Die Demonstration in Berlin am 22. Oktober 2022 mit 100.000 Teilnehmer*innen zeigt, welches Potenzial das neue progressive Milieu hat. Obwohl es über keine langjährigen festen Organisationen verfügt, war es in der Lage, eine solche Großdemonstration der Diaspora in Europa zu organisieren. Vereine wie ps752justice, der Verein der Angehörigen der 176 ermordeten Passagier*innen des ukrainischen Flugzeugs, das die Revolutionsgarden Anfang 2020 nach dem Start in Teheran abschossen, haben viel dazu beigetragen, diese Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Bei der Demonstration am 22. Oktober hat man unterschiedliche politische Lager auf einer Demonstration gesehen, weil es darum ging, den Iraner*innen zu zeigen, dass man ihre Belange als iranische Diaspora verfolgt und sie und ihre Kämpfe sichtbar macht – und darum, der Welt zu zeigen, wie einig sich iranische politische Gruppen darüber sind, dass dieser Staat gestürzt werden muss. Es ist einmalig in der Geschichte der zerstrittenen Diaspora, dass Kurd*innen und Monarchist*innen zusammen auf einer Demonstration laufen, die junge queerfeministische Kollektive wie Women Life Freedom gemeinsam mit den Angehörigen von ps752justice organisiert haben.

Die iranische Opposition im Ausland ist politisch divers, wie in jeder Gesellschaft. Natürlich gibt es auch politische Gruppen, die als reaktionär eingestuft werden können. Man kann weder von den Menschen in Iran noch in der Diaspora erwarten, dass sie eine Art der politischen Organisationen präsentieren, die für die westliche Öffentlichkeit leicht verdaulich oder leicht verständlich ist. Die politische Alternative der Iraner*innen kann sich nur in historischen Momenten wie diesen weiterentwickeln, weil die Diktatur das zu anderen Zeiten systematisch verhindert. Je mehr die Progressiven der Welt sich auf die Seite der Protestierenden stellen, desto mehr wird das progressive Iraner*innen in der Öffentlichkeit stärken und dadurch auch progressive Diskurse in der Revolution in Iran beeinflussen.

Nicht zu vergessen, dass diese revolutionäre Bewegung im Kern alle Fragen aufgegriffen hat, die progressive Kämpfe auf der Welt in den letzten Jahren geprägt haben: Gendergerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, ethnische Gerechtigkeit, politische und individuelle Freiheit, sexuelle Revolution, Jugend an vorderster Front, Künstler*innen an der Seite der Protestierenden, Frauen als Anführer*innen der Revolution. Was wollen die Progressiven der Welt noch, um vom Potenzial dieser Revolution überzeugt zu werden?

Während die Diaspora sich nach so vielen Jahren endlich auf der Straße sammelt und zeigt, wie wichtig die internationale Solidarität ist, sind es eher westliche Beobachter*innen von rechts bis links, die skeptisch bleiben. Es ist bemerkenswert, dass gerade sie sich angesichts der andauernden Proteste oder des Fehlens einer »funktionierenden Opposition« in der Diaspora über die »Stabilität des Landes« oder der Region sorgen.

Die Geschichte hat wieder und wieder gezeigt: Revolutionen werden aus einer Not geboren. Wenn progressive Kräfte den Moment nicht ergreifen, wartet der Faschismus immer – nicht nur im Falle der aktuellen revolutionären Bewegung in Iran – als Alternative hinter der Tür.

Mina Khani

ist iranische Publizistin und linke Feministin. Sie lebt in Berlin.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Probeabo gibt es natürlich auch.