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»Mechanismen der Rekolonialisierung«

In Costa Rica ist der Mörder eines indigenen Landaktivisten verurteilt worden, die Lage der Indigenen bleibt katastrophal

Von René Thannhäuser

Bildaufnahme einer Brücke über einen Fluss. Drei Menschen überqueren den Fluss. Auf der Uferseite sind ein paar Häuser, umgeben von Wald und Gebirge im Hintergrund.
In der Region Térraba in Costa Rica wird indigenes Land illegal besetzt. Der Staat geht dagegen kaum vor. Foto: Jorge Cancela / Flickr , CC BY 2.0

Dieses Urteil bringt nicht nur meinem Sohn etwas Gerechtigkeit, es verringert auch das Leid, das wir indigenen Völker ertragen«, kommentierte Digna Rivera das Urteil gegen den Mörder ihres Sohnes im Radio der Universität von Costa Rica. Drei lange Jahre, bis zum 1. Februar 2023, hat sie auf diesen Tag warten müssen. Am 24. Februar 2020 war ihr Sohn, der indigene Landaktivist Jerhy Rivera, bei Auseinandersetzungen auf indigenem Territorium in San Antonio de Térraba im Süden Costa Ricas erschossen worden. Der Mord erschütterte nicht nur das zentralamerikanische Land, sondern sorgte auch international für Empörung. Denn nur ein Jahr zuvor war bereits der indigene Führer Sergio Rojas in Costa Rica ermordet worden.

Costa Rica rühmt sich seiner hervorragenden Menschenrechtsbilanz. Im In- und Ausland wird das kleine Land nicht selten als »Schweiz Mittelamerikas« bezeichnet. Und tatsächlich schneidet Costa Rica in Freiheits- und Rechtsstaatsindizes in der Regel besser ab als nicht wenige Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Doch diese Wirklichkeit hat eine Schattenseite, über die selten gesprochen wird: die katastrophale Situation der indigenen Bevölkerung. Im letzten Zensus von 2011 identifizierten sich 104.143 Costa-Ricaner*innen, rund 2,4 Prozent der Bevölkerung, als Angehörige der acht offiziell anerkannten indigenen Völker des Landes.

Einen Einblick in ihre Lebensrealität ermöglicht der Abschlussbericht des UN-Sonderberichterstatters für die Rechte indigener Völker, Francisco Calí Tzay, der Ende 2021 Costa Rica bereiste. Er spricht von »alarmierenden Armutsquoten«, »strukturellem Rassismus und rassistischer Diskriminierung« sowie »Hürden beim Zugang zu Rechtsmechanismen«. »Extrem besorgt« sei er über die andauernden Angriffe auf Menschenrechtsaktivist*innen und indigene Führer im Süden des Landes. Calí Tzay kritisierte, dass Costa Rica »die Morde an den indigenen Führern Sergio Rojas und Jerhy Rivera nicht innerhalb von Konflikten zur Rückeroberung indigenen Landes« kontextualisiere, sondern als isolierte Phänomene betrachte.

In einer Studie von 2020 zählt die costa-ricanische Umweltschutzorganisation Fecon 13 Morde an Landrechts- und Umweltschutzaktivist*innen seit 1980 in Costa Rica. Darunter vor allem: Indigene wie Jerhy Rivera, dessen Mord mit Ansage erfolgte. Bereits 2013 überlebte er nur knapp einen brutalen Angriff, nachdem er illegale Holzfäller auf dem indigenen Territorium von Térraba entdeckt hatte. Und bereits am 23. Februar 2020, einen Tag vor seiner Ermordung, wurden lokalen Behörden über erneute gewalttätige Auseinandersetzungen in Térraba informiert.

Unter Führung Jerhy Riveras hatte eine Gruppe von Brörán-Indigenen zuvor eine Finca besetzt, die illegal auf indigenem Territorium errichtet wurde. Angesichts der Tatenlosigkeit der lokalen Behörden wollten die Indigenen selbst tätig werden. Am 24. Februar 2020 griff dann eine Gruppe von Motorradfahrern das Haus von Jerhy Rivera mit Steinen an. Als dieser sich wehren wollte, erlitt er einen Schlag auf den Kopf und fiel zu Boden. Zwei Männer packten ihn daraufhin an den Armen. Ein Dritter zückte seine Pistole und schoss Rivera in den Rücken. Dieser verstarb sofort.

Eine Nachbarin, die die Tat beobachtete, erkannte später den Mörder. Doch bis zum Beginn des Prozesses gegen ihn sollten drei Jahre vergehen. Am 17. August 2020 bekannte sich der Mörder sogar öffentlich zu seiner Tat. Während einer von den Behörden einberufenen Informations- und Diskussionsveranstaltung über die Situation in den indigenen Territorien ergriff er das Mikrofon und verkündete bei laufender Liveübertragung auf Facebook: »Ich habe ihn getötet.« Für sein Bekenntnis erntete er Applaus von einem großen Teil der Teilnehmer*innen der Veranstaltung.

Indigenen-Gesetz findet kaum Anwendung

Beobachter*innen sehen in den letzten Jahren eine Zuspitzung gewalttätiger Konflikte in indigenen Territorien in Costa Rica. In der Regel geht es dabei um Land, das von Farmern besetzt gehalten wird. 1977 verabschiedete das costa-ricanische Parlament das Indigenen-Gesetz, das insgesamt 24 Territorien der acht anerkannten indigenen Völker mit prinzipieller Autonomie anerkennt.

Das costa-ricanische Verfassungsgericht hat wiederholt die Gültigkeit des Indigenen-Gesetzes bestätigt: Durch Nicht-Indigene vor 1977 erworbenes Land in den Territorien müsse mit einer Entschädigung zurückgegeben werden, nach 1977 erworbenes Land sei illegal erworben worden und müsse ohne Entschädigung enteignet werden. Doch dieses Gesetz hat praktisch keine Anwendung gefunden.

In Térraba sollen um die 90 Prozent des Bodens von Nicht-Indigenen besetzt sein.

Auch UN-Berichterstatter Calí Tzay bestätigte dies in seinem Bericht. Digna Rivera berichtet der ak, dass in Térraba um die 90 Prozent des Bodens von Nicht-Indigenen besetzt sei. Gegen die Landbesetzer*innen legal vorzugehen, sei jedoch fast unmöglich. Die Landbesetzer*innen seien nicht selten persönlich oder familiär mit der Polizei und anderen Behörden verbunden, so Digna Rivera. Angesichts dieser Situation hatte sogar die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) am 30. April 2015 Costa Rica aufgefordert, »angemessene Mittel zu ergreifen, um Leben und Integrität« der Aktivist*innen in Térraba zu garantieren.

Kritiker*innen sprechen angesichts dieser Verhältnisse davon, dass der Staat die Landnahme indigener Territorien offen toleriere. Der Soziologieprofessor Osvaldo Durán Castro bezeichnet die für die indigenen Territorien entwickelten Gesetze und institutionellen Modelle gar als »Mechanismen der Rekolonialisierung«. Die Gesetze hätten »Netzwerke des politischen Klientelismus, Parteizugehörigkeiten, Allianzen und Untergebene geschaffen«. Das Ziel: die indigene Selbstorganisation zu untergraben und durch staatlich gelenkte Strukturen zu ersetzen. Denn wie praktisch überall in Lateinamerika stehen auch in Costa Rica Indigene im Zentrum von Konflikten, die unmittelbar mit der Ausweitung des Extraktivismus zusammenhängen. Die Staaten forcieren ein Entwicklungsmodell, das auf wachsenden Export von Rohstoffen und Agrarprodukten zielt. Bislang nicht ökonomisch erschlossene Gebiete sind deshalb von besonderem Interesse für Staat und Privatwirtschaft. Costa Rica ist einer der weltweit größten Produzenten von Ananas und Bananen und ein traditioneller Exporteur von Kaffee. Die ausgedehnten indigenen Territorien im Süden des Landes sind für Kleinbauern, Großgrundbesitzer und Agrarunternehmen von besonderem Interesse.

Viele indigene Aktivist*innen verorten ihren Kampf um die Rückeroberung indigenen Territoriums in diesem Kontext. Digna Rivera erklärt im Gespräch mit ak: »Auch meinem Sohn ging es nicht nur um die Rückeroberung unseres Bodens, sondern darum, wie wir weltweit mit den Wäldern, Flüssen und den sie belebenden Lebewesen umgehen.« Die vergangene Regierung unter dem linksliberalen Präsidenten Carlos Alvarado (2018-2022) hatte zumindest diskursiv die Bedeutung indigener Lebensformen betont. Doch indigene Organisationen charakterisierten auch seine Regierungspraxis: Sie führe das »koloniale, kapitalistische und patriarchale Erbe der früheren Regierungen« fort.

Seit Mai 2022 regiert der Rechtspopulist Rodrigo Chaves in Costa Rica. Am 9. August 2022 hat er den »Runden Tisch für indigene Belange« ins Leben gerufen. Indigene haben diese Initiative als »Scherz« kritisiert. »Dieser Tisch ist ein weiterer, der vom Staat geschaffen wurde, um uns zu hintergehen, so wie es die vergangenen Regierungen getan haben«, kritisiert der indigene Aktivist Jason Ríos Ríos in einer Erklärung der Coordinadora Sur Sur, in der sich indigene und andere soziale Organisationen aus dem Süden Costa Ricas zusammengeschlossen habe.

Einige erhoffen sich, dass die Verurteilung des Mörders Jerhy Riveras ein neues Kapitel aufschlagen könnte. Die Coordinadora Sur Sur kommentierte das Urteil: »Dies ist ein wichtiger Schritt gegen die Straflosigkeit, die angesichts der Aggressionen und Menschenrechtsverletzungen der indigenen Völker geherrscht hat.« Zugleich wies die Coordinadora auf die Inkonsistenz des Urteils hin. Der Mörder Riveras ist zu 22 Jahren Haft verurteilt worden, der möglichen Mindeststrafe. Selbst die Staatsanwaltschaft hatte jedoch eine Strafe von 39 Jahren Haft gefordert.

Und die Hoffnung, dass das indigene Territorium von Terrába durch das Urteil zur Ruhe kommen möge, hat sich schon jetzt als trügerisch erwiesen. Am 7. Februar wurde das Haus der Kronzeugin, die den Mörder Jerhy Riveras identifiziert hat, mit Steinen beworfen. Und am 8. Februar gab die Coordinadora Sur Sur bekannt, dass in den vergangenen Tagen in etwa 2 Hektar indigenen Territoriums von Farmern besetzt wurden.

René Thannhäuser

ist Soziologe und schreibt als freier Journalist über Mexiko und Mittelamerika.