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|Thema in ak 694: Klimabewegung, wie weiter?

Weniger und mehr

Die Schnittmengen zwischen Ökosozialismus und Degrowth werden größer – das zeigt sich auch in der Klimabewegung 

Von Matthias Schmelzer

Ein kleines Haus an einem Knal zwischen mehreren großen Speichern
Schrumpfen bis zum Kommunismus, kann das funktionieren? In der Klimadebatte finden derzeit jedenfalls vormals getrennte Ansätze zusammen. Foto: Jan Ole Arps

Es ist schon seltsam, wenn eine Konferenz im EU-Parlament von Teilnehmenden als »Woodstock for system-changers« bezeichnet wird. Aber so empfanden es viele, die im Mai an der Beyond-Growth-Konferenz in Brüssel teilnahmen. Neben EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und anderen hochrangigen EU-Vertreter*innen sprachen dort vor allem einige der bekanntesten internationalen Postwachstumsökonom*innen. Und sie wurden vom jungen Publikum oft begeistert gefeiert. Das britische Wirtschaftsmagazin Economist polemisierte, Degrowth sei wohl eine neue Version des ökologischen Sozialismus: »De-growers of the world, unite!« Und schlägt damit in die gleiche Kerbe wie die lauter werdende liberale Kritik, die Degrowth als trojanisches Pferd des Ökosozialismus kritisiert.

Beobachter*innen der deutschen Postwachstumsdebatte mag das verwundern. Denn diese wird oft als angepasster, konsumfixierter und wenig kapitalismuskritischer Aufruf zum individuellen Verzicht kritisiert. Erfährt die Degrowth-Debatte also derzeit tatsächlich eine ökosozialistische Wende? Oder gibt es umgekehrt Annäherungen an Degrowth-Positionen von ökosozialistischer Seite aus?

In der Tat hat die kapitalismuskritische Strömung im Degrowth-Spektrum in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen und ist vor allem in der internationalen akademischen Diskussion aktuell die stärkste. Dies zeigt sich an den meist diskutierten Büchern und Artikeln oder auch an den Diskussionen auf der Beyond-Growth-Konferenz. Gleichzeitig gibt es eine deutliche Annäherung an Degrowth vonseiten des Ökosozialismus, was sich in Büchern bekannter Ökosozialist*innen, in Zeitschriften wie Monthly Review, Emanzipation oder, weniger ausgeprägt, in Jacobin oder in Verlagen wie Verso ausdrückt. 

Erfährt die Degrowth-Debatte eine ökosozialistische Wende?

Kohei Saitos Bestseller »Marx im Anthropozän«, der trotz – oder wegen – des Untertitels »Zur Idee des Degrowth-Kommunismus« zum Bestseller in Japan wurde, ist wohl das beste Beispiel für diese Annäherung. Das Buch des ökomarxistischen Autors, das in deutscher Übersetzung im August mit dem Titel »Systemsturz« erscheint, stellt einige zentrale Grundsätze der produktivistischen Linken infrage – vor allem: Die Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus – die Verbesserung von Technologien, Maschinen, die Entwicklung der Arbeitsteilung – schaffe nicht automatisch die materielle Grundlage für eine neue postkapitalistische Gesellschaft, sondern verschärfe den Raubbau der Natur eher noch. Reiche Gesellschaften benötigten daher einen Übergang zum Degrowth.

Die kohärenteste Annäherung zwischen Degrowth und Ökosozialismus findet sich in einem kurzen Manifest, das letztes Jahr in der marxistischen Zeitschrift Monthly Review veröffentlicht wurde. Autor*innen aus beiden Feldern – Michael Löwy, Bengi Akbulut, Sabrina Fernandes und Giorgos Kallis – skizzieren gemeinsam die Grundpfeiler für ein »ökosozialistisches Degrowth«. Nach der Feststellung, dass es eine »wachsende Tendenz des gegenseitigen Respekts und der Konvergenz« gibt, legen sie die zentralen Argumente dar, die beide Strömungen verbinden: Analyse der Wachstumsabhängigkeit des Kapitalismus; die Notwendigkeit radikaler Alternativen, die eine Reduktion von Produktion und Konsum einschließen; die Ablehnung jedes produktivistischen »Sozialismus«, wie er in der UdSSR praktiziert wurde; die historische Verantwortung des globalen Nordens; schnelle Emissionsreduktionen; Änderung von Konsum- und Lebensweise; Erweiterung des Subjekts der Veränderung über die Arbeiterklasse hinaus auf alle, die an der sozialen und ökologischen Reproduktion beteiligt sind, und Verortung in breiteren radikalen, antisystemischen ökologischen Bewegungen – vom Ökofeminismus über die anti-extraktivistische Bewegung Blockadia bis hin zu kritischen Varianten des Green New Deals.

Wachstum kann nicht nachhaltig sein

Die Gründe für diese Konvergenz sind vielfältig. Entscheidend ist zum einen die zunehmende wissenschaftliche Evidenz, dass Wirtschaftswachstum in den reichen Ländern nicht nachhaltig gestaltet werden kann – selbst wenn es unter ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen geplant würde. Die Produktivkräfte, die sich im Kapitalismus entwickeln, sind eben nicht, wie in der Linken oft fortschrittsoptimistisch angenommen, progressiv, sondern werden vor allem angesichts der ökologischen Krisen zu Destruktivkräften. Ein großer Teil der Effizienzsteigerungen führt über Rebound-Effekte zu einem Anstieg des Gesamtverbrauchs. Zwar gibt es eine relative Entkopplung von Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Emissionen. Das heißt, die Emissionen sinken, während das BIP steigt. In Europa beispielsweise sanken die Emissionen zwischen 1990 und 2020 um 34 Prozent, während die Wirtschaft zwar relativ langsam, aber deutlich expandierte. 

Doch während dieser Prozess oft als Beleg für die Möglichkeit grünen Wachstums gefeiert wird, zeigen genauere Analysen das Gegenteil: Die Reduktionen waren zu großen Teilen verursacht durch den Zusammenbruch der Industrie im Ostblock nach 1990 sowie durch Produktionsverlagerungen nach China. Und trotz dessen waren sie mit im Durchschnitt weniger als ein Prozent pro Jahr viel zu langsam und konzentrierten sich auf Phasen, in denen die Wirtschaft stagnierte oder nur sehr langsam expandierte. Nötig wären aber globale Emissionsminderungen von elf Prozent jährlich, um das verbleibende Budget für die 1,5-Grad-Grenze nicht zu sprengen. Und aus Gerechtigkeitsgründen müssten die Emissionen der Industrieländer schon zwischen 2030 und 2035 auf null sinken. Beim Ressourcenverbrauch, einem der wichtigsten Indikatoren für den Biodiversitätsverlust, gibt es bisher gar keine Entkopplung.

Wenn eine absolute Entkopplung, also der Rückgang des Energie- und Ressourcenverbrauchs bei steigendem BIP, in ausreichendem Maße und in der verbleibenden kurzen Zeit unmöglich ist, dann bleibt nur ein Ende des Wachstums im Globalen Norden und eine Verringerung der biophysikalischen »Größe« der Wirtschaft. Eine wachsende Ökonomie zu dekarbonisieren, so ein viel genutztes Bild, ist wie der Versuch, eine Rolltreppe runterzugehen, die permanent nach oben fährt. 

Daneben gibt es eine Reihe weiterer Positionen, die für diese Konvergenz zentral sind – vor allem die Einsicht, dass Kapitalismus ohne Wachstum nicht dauerhaft existieren kann, ohne mit refeudalisierenden Tedenzen, monopolkapitalistischen Konzentrationsprozessen und explodierender sozialer Ungleichheit einherzugehen. Wenn der Zwang zur Expansion von Produktion und Konsum und zur Profitsteigerung in unsere Gesellschaftsstrukturen eingeschrieben ist und Wachstum nicht nachhaltig gestaltet werden kann, dann muss eine ökologische Gesellschaft an den Ursachen kapitalistischer Akkumulation ansetzen – angefangen bei den Eigentumsstrukturen über die Konkurrenz bis hin zur Erwerbsarbeitsgesellschaft. Degrowth wird daher zunehmend als ein postkapitalistisches Projekt verstanden. 

Klassencharakter der ökologischen Krise

Das heißt auch: Die ökologische Krise ist eine Klassenkrise, die intersektional mit anderen Ungleichheitsdimensionen, vor allem Wohnort, Nationalität, Rassismus und Sexismus, verschränkt ist. Um nur zwei Zahlen aus aktuellen Studien zu nennen: Über den Zeitraum 1990-2019 haben die Reichsten ein Prozent 1,5-mal mehr Treibhausgase emittiert als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Und wenn sich die aktuellen Trends fortsetzen, werden allein die Emissionen der weltweiten Millionär*innen – vor allem ältere, weiße Männer – mehr als 70 Prozent des gesamten Emissionsbudgets aufbrauchen, das verbleibt, um das 1,5-Grad-Limit nicht zu reißen.

Degrowth-Politiken zielen daher darauf ab, die imperiale Lebensweise abzuwickeln. Und darauf, die Kaufkraft der Reichen durch Steuern, Abgaben und Einkommensobergrenzen zu begrenzen. Gleichzeitig soll durch radikale Umverteilung und die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens der Zugang aller zu zentralen gesellschaftlichen Infrastrukturen – von Wohnen über Mobilität bis hin zu Kommunikation – gesichert werden.

Vor allem aber wird zunehmend die Notwendigkeit ökologischer Planung diskutiert. Die Vergesellschaftung zentraler Infrastrukturen und Sektoren ermöglicht eine aktive Industriepolitik, Konversion, Rationierung und selektives Wachstum bestimmter Sektoren bei gleichzeitigem Rückbau jener Wirtschaftsbereiche, die nicht rechtzeitig nachhaltig umgestaltet werden können, dem Statuskonsum der Eliten dienen oder aus irrationaler Tauschwertproduktion resultieren (geplante Obsoleszenz). Die grundlegende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen stellt die Basis dar für die egalitäre Entwicklung einer solidarischen Lebensweise jenseits von Produktivismus und Konsumismus, die auf mehr freier Zeit, radikaler Fülle, und alternativem Hedonismus basiert.

In den letzten Jahren scheinen insbesondere viele der Argumente und Forderungen der radikaleren Degrowth-Diskussion in der Klimabewegung vorherrschend geworden zu sein – auch wenn das Wort teils nicht explizit verwendet wird. Das zeigt sich auf Plakaten, in Presse-Statements oder Social-Media-Posts von Ende Gelände, Extinction und Scientist Rebellion oder den Kämpfen um Lützerath und in Ansätzen auch bei der Letzten Generation oder Fridays for Future. Die Konvergenz zwischen Degrowth und Ökosozialismus spiegelt sich in ihr bisher jedoch nur teilweise wider. Es bleibt abzuwarten, wie die ökosozialistische Zuspitzung – mit ihrem Fokus auf kapitalistische Wachstumszwänge, Klassenanalyse oder ökologische Planung – in der Klimabewegung Verbreitung finden wird. 

Matthias Schmelzer

ist Wirtschaftshistoriker, Transformationsforscher und in der Klimabewegung aktiv, aktuell vor allem bei Scientist Rebellion.

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