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|Thema in ak 691: Weltmacht China

Jein zu China

Wie deutsche Wirtschaftsvertreter* innen es mit dem Konkurrenten in Ostasien halten, wird immer mehr zur Gretchenfrage

Von Lene Kempe

Illustration von zwei lachenden Personen in Anzügen, die einander zugewandt sind, aber die Beine rennen in die entgegeng4esetzte Richtung.
Illustration: Donata Kindesperk

Win-Win Schröder« titelte der Spiegel vor knapp 20 Jahren über die China-Reise des damaligen SPD-Kanzlers. Zum sechsten Mal in sechs Jahren war Gerhard Schröder im Dezember 2004 in die größte Volkswirtschaft Asiens gereist, begleitet stets von einer Wirtschaftsdelegation. DaimlerChrysler, Siemens, Airbus, die Hochtief AG, aber auch die Unternehmensberatung Roland Berger, die Allianz-Versicherung und der Axel-Springer-Konzern, der eine chinesische Ausgabe der Autobild in Vorbereitung hatte sowie etliche deutsche Mittelständler*innen schickten hochrangige Repräsentant*innen mit dem Kanzler gen Osten.

Die Erfolgsbilanz: Ein symbolischer Spatenstich für den Baubeginn eines Mercedes-Werks in Peking und unternehmerische Absichtserklärungen im Gesamtwert von 1,4 Milliarden Euro, darunter ein Mega-Deal über die Lieferung von 23 Airbus-Flugzeugen an Air China. Im Gegenzug versprach Schröder Unterstützung für die von China forcierte Aufhebung eines Waffenembargos, das die EU 1989 – nach der blutigen Niederschlagung der Protestbewegung auf dem Tiananmen-Platz – verhängt hatte. Die chinesische Regierung signalisierte ihrerseits Zustimmung für den deutschen Wunsch nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Win Win Win.

Noch nicht liberal genug

Anfang der 2000er Jahre war allerorts vom neuen, spezifisch chinesischen »Turbokapitalismus« die Rede, von einem gigantischen und stetig wachsenden Markt, der allerdings – trotz der fortschreitenden Öffnung für ausländische Unternehmen – weitgehend unter staatlicher Kontrolle blieb. Der Marktzugang für ausländische Unternehmen war in der Regel nur als Joint Venture, also in Form eines Zusammenschlusses mit einem chinesischen Unternehmen, möglich. Zudem dominierten Staatsbetriebe die chinesische Wirtschaft. Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 sollte das ändern und liberalen marktwirtschaftlichen Prinzipien endgültig zum Durchbruch verhelfen.

Gut 20 Jahre später fällt die Bilanz durchwachsen aus. Zwar hat China die Joint-Venture-Auflagen in vielen Bereichen mittlerweile aufgehoben – insbesondere in der für Deutschland wichtigen Automobilindustrie –, und es gibt einen wachsenden privatwirtschaftlichen Sektor. Dieser ist allerdings immer noch stark reguliert und – so die Kritik – im Wettbewerb benachteiligt. Staatsbetriebe, häufig börsennotierte Unternehmen, in denen die Regierung aber eine kontrollierende Mehrheit hält, dominieren nach wie vor die Wirtschaft. 2019 zählte die EU-Handelskammer in China (außerhalb des Finanzsektors) 167.000 solcher Betriebe, deren Marktmacht sich – obwohl mitunter hoch verschuldet – aufgrund von Zusammenschlüssen zudem deutlich erhöht habe.

Die »weitverbreitete Erwartung, dass sich das Land tatsächlich in eine offene und hauptsächlich marktbasierte Volkswirtschaft entwickelt«, habe sich zwei Jahrzehnte nach dem WTO-Beitritt nicht erfüllt, resümierte der Bund der Deutschen Industrie (BDI) anlässlich des Beitrittsjubiläums 2021.

Ein »Decoupling« ist vor allem ein politisches Projekt, das die Bundesregierung auch gegen die Interessen von VW, BASF und Co. vorantreibt.

Und dennoch: Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen haben sich immer weiter vertieft. Als erster europäischer Autokonzern hatte sich Volkswagen bereits 1984 mit dem staatlichen Autohersteller Shanghai Automotive Industry Corporation (SAIC) zusammengeschlossen, etliche solcher deutsch-chinesischer Konstrukte folgten in den 2000er Jahren: Daimler, BMW, Infineon, Airbus, Adidas, BASF, Siemens und Co., aber auch viele deutsche Mittelständler*innen kauften sich in den chinesischen Markt ein, etwa im Bereich Maschinenbau, Medizintechnik oder in der Elektroindustrie. Chinesische Unternehmen wiederum belieferten Deutschland und den Weltmarkt mit extrem günstigen Konsumprodukten wie Kleidung oder Spielzeug und mit lebenswichtigen Medizinprodukten oder mit günstigen Vorprodukten für die hiesige Produktion.

Für die »Exportnation« Deutschland, die wie wenig andere Länder von der neoliberalen Globalisierung hatte profitieren können, wurde das ostasiatische Land damit zunehmend auch zum Konkurrenten. Einst »Werkbank der Welt«, hat China sein Produktionsmodell in den letzten zwei Jahrzehnten immer weiter in Richtung hochwertiger Produkte und Technologien umgestellt: Produziert werden statt Plastikspielzeug und T-Shirt zunehmend Smartphones, Elektroautos oder Maschinen. 2015 gab die chinesische Regierung das Ziel aus, bis Mitte des Jahrhunderts durch Innovation und technologische Führerschaft in zehn Schlüsselbranchen, darunter Maschinenbau, Elektromobilität oder Biomedizin, zur führenden Industrienation zu werden und den heimischen wie den Weltmarkt mit chinesischen Qualitätsprodukten zu beliefern. Aus Perspektive des stark exportorientierten »Standort Deutschland« ist der Aufstieg Chinas deshalb schon lange auch ein Bedrohungsszenario. Schon 2009 verlor Deutschland seinen »Exportweltmeister«-Titel, 2020 überholte China auch beim Verkauf der für das hiesige Produktionsmodell so wichtigen Maschinen auf dem Weltmarkt.

Aus Perspektive der großen transnational operierenden deutschen Großkonzerne ist die asiatische Volkswirtschaft dagegen vor allem ein gigantischer Absatzmarkt, mit einer stetig wachsenden, kaufkräftigen Mittelschicht. Ein »Decoupling«, eine Abkopplung von China, ist deshalb vor allem ein politisches Projekt, das die Bundesregierung auch gegen die Interessen von VW, BASF und Co. vorantreibt. Zwar haben die Lieferkettenunterbrechungen während der Corona-Pandemie, die anhaltenden Lockdowns und die Gefahr einer militärischen Eskalation rund um den Taiwan-Konflikt die Debatten darüber auch unter Konzernvertreter*innen angeheizt. Würde der Konflikt um Taiwan und zwischen China und den USA eskalieren, wären deutsche Unternehmen – ähnlich wie in Russland – zu einem weitgehenden Rückzug gezwungen, dieses Szenario ist unumstritten. Zugleich machten die Vorstandsetagen der in China tätigen Großunternehmen zuletzt recht einhellig deutlich: Ohne China geht es nicht. Hildegard Müller, Chefin des Verbands der Automobilindustrie VDA gab zu Protokoll, sie halte eine Abkopplung für fatal. Airbus-Chef Guillaume Faury nannte es schlicht »undenkbar«, dass sich die mit China eng verwobene deutsche Wirtschaft vollständig unabhängig mache, und kündigte an, den Marktanteil seines Unternehmens dort weiter auszubauen. VW-China-Chef Ralf Brandstätter erneuerte jüngst das Konzernbekenntnis zum umstrittenen Werk in Xinjiang. Er habe dort keine Menschenrechtsverletzungen in Verbindung mit uigurischen Arbeiter*innen gesehen.

Neuordnung der Lieferbeziehungen

VW erwirtschaftet aktuell fast 40 Prozent seines Umsatzes auf dem ostasiatischen Markt, bei den Konkurrenten BMW und Mercedes sind es rund ein Drittel. Auch BASF will sein China-Geschäft weiter ausbauen und im Gegenzug die Hälfte der Stellen am Standort Ludwigshafen streichen – um die hierzulande stark gestiegenen Energie- und Rohstoffkosten zu reduzieren und vom wachsenden Chemiemarkt in China zu profitieren.

Die Unternehmen hoffen, vom unaufhaltsamen Aufstieg Chinas profitieren zu können und setzen auf weitere Marktliberalisierungen, wie sie etwa das noch nicht ratifizierte Investitionsabkommen zwischen der EU und China, das Comprehensive Agreement on Investment (CAI), erwirken sollte. Wenn China weiter in den Weltmarkt integriert und Marktreformen konsequent umsetzen würde, so rechnete 2021 die Weltbank vor, würde das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2050 über sechzig Prozent höher liegen.   

Die deutschen Großkonzerne rechnen damit, weiterhin erhebliche Teile ihrer zukünftigen Gewinne auf dem chinesischen Markt zu realisieren und sind vor diesem Hintergrund vor allem an einer guten Beziehung zu dem Land interessiert. Weder die Ankündigung der Bundesregierung, im Rahmen der noch nicht veröffentlichten »China-Strategie« künftig die staatlichen Absicherungen für deutsche Investitionen in der Volksrepublik deutlich zu verringern, noch die öffentlichkeitswirksame Debatte um eine übermäßige Abhängigkeit vom großen Konkurrenten stoßen deshalb in diesen Kreisen auf große Gegenliebe.

Der Prozess einer Neuordnung deutsch-chinesischer Lieferbeziehungen ist dennoch bereits in vollem Gange. Was das konkret heißt, zeigte sich etwa bei der letzten Reise von Olaf Scholz durch Lateinamerika. Dort warb er massiv um den Ausbau von Produktions- und Lieferbeziehungen, denn das weltweit größte Vorkommen an Lithium liegt beispielsweise im Dreiländereck von Argentinien, Bolivien und Chile. Damit ließe sich die enorme Abhängigkeit von seltenen Erden und Rohstoffen aus China reduzieren. Mit dem linken Gabriel Boric aus Chile konnte Scholz den erfolgreichen Abschluss einer Rohstoffpartnerschaft verkünden.

Und: Schon länger ziehen sich Unternehmen auch aus anderen Gründen aus China zurück. Im Zuge der Modernisierung des chinesischen Produktionsmodells haben sich auch die Lohn- und Produktionskosten deutlich erhöht, allein zwischen 2007 und 2017 um rund 60 Prozent. Zudem wurden strengere Umweltauflagen eingeführt. Deshalb verlagern Unternehmen die lohnkostenintensiven und umweltschädlichen Bereiche ihrer Produktion in andere Länder wie Indien, Thailand oder Vietnam. Höherwertige Produkte werden weiter in China gefertigt. China + 1 nannte sich diese Strategie schon vor zehn Jahren. Vor allem Kleine und Mittelständische Unternehmen, die nicht mehr in selbem Maße Gewinne in China realisieren können und angesichts der Corona-Politik und der geopolitischen Spannungen verunsichert sind, planen Umfragen zufolge aktuell den Rückzug aus China, überdenken Investitionen oder haben Produktionsstätten bereits verlagert, etwa nach Osteuropa.

Gute Geschäfte, unsichere Zeiten

Die Frage, in welche Richtung sich das Verhältnis der deutschen Wirtschaft zum »Handelspartner« und großen Konkurrenten China weiterentwickelt, liegt also schon lange auf dem Tisch und die Interessenlagen innerhalb der Wirtschaft und Politik sind divers. Viele Unternehmen wollen ihr China-Geschäft nicht aufgeben; mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs und der Zunahme geopolitischer Spannungen wächst allerdings auch unter ihnen die Unsicherheit. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, dass gerade die in China so engagierte deutsche Automobilindustrie die Rohstoffoffensive von Scholz in Lateinamerika gutheißt und eine aktive Rohstoff-Außenpolitik fordert.

Beruhigen sich die Konflikte auf der weltpolitischen Bühne, wird China auf absehbare Zeit sicherlich Ziel von deutschen Investorenträumen bleiben. Und dennoch: Die Zeit der großen Wirtschaftsdelegationen scheint vorerst vorbei.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.