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|Thema in ak 668: Erinnerungspolitik

»Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst«

In Hanau zeigt sich erneut, dass selbstorganisiertes Gedenken an die Opfer rechter Gewalt auch eine widerständige Praxis gegen den deutschen Normalzustand ist

Von Ayesha Khan

»Die Opfer von Hanau dürfen nie vergessen werden«, schrieb Serpil Temiz, die Mutter von Ferhat Unvar, Ende Februar 2020 in ihrem Brief an Angela Merkel. Collage: KD

Die Opfer von Hanau dürfen nie vergessen werden. Die Namen müssen in der Schule gelernt werden und auf den Straßen lesbar sein.« Mit diesen Worten schließt der Brief von Serpil Temiz, den sie am 4. März 2020, während der offiziellen Trauerfeier und Mahnwache in Hanau, Bundeskanzlerin Merkel überreichte. In ihm hat die Mutter des in Hanau ermordeten Ferhat Unvar klare Forderungen formuliert: lückenlose Aufklärung und Unterstützung der Hinterbliebenen. Wieso fällt es der deutschen Gesellschaft so schwer, solidarisch mit den Betroffenen von rechter und rassistischer Gewalt zu sein? Wieso können einige Menschen einfach zum Alltag zurückkehren, während die Familien und Hinterbliebenen von Hanau auch ein Jahr nach dem Anschlag noch immer kämpfen müssen?

»Gedenken und Erinnern bedeutet Auseinandersetzung mit der Tat und Verarbeitung. Wenn sich die Dominanzgesellschaft nicht mit ihren rassistischen Strukturen auseinandersetzen will, wird Gedenken zu einem Kampf von Betroffenen und Hinterbliebenen«, sagt Draupadi Fitz von der Beratungsstelle response in Hessen. Sie betreut seit dem Anschlag mit ihren Kolleg*innen Betroffene, Angehörige und ihre Familien in Hanau. »In der Frage nach dem Warum? und Wie hätte das verhindert werden können? steckt die ständige Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus oder Antisemitismus.«

Immer wieder tauchen im Zusammenhang mit rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt diese Formulierungen auf: Kämpfen um das Gedenken, Kämpfen um Erinnerung, Kämpfen um Gerechtigkeit, Kämpfen um Veränderung – das alles hängt miteinander zusammen. Verwoben mit dem Gedenken an die Opfer dieser Gewalt ist auch immer die kritische Beschäftigung mit gesellschaftlichen Strukturen, Behördenversagen und Kontinuitäten. Und das nicht erst seit den Morden des NSU. Eine Aufarbeitung ist bis heute nicht gelungen. »Und oft treffen die Betroffenen dann auch noch auf ein Hilfesystem, das institutionell rassistisch ist. Oft werden aus Opfern dann auch Täter gemacht«, so Fitz weiter.

140 m2 gegen das Vergessen

Besonders deutlich wurde dies erneut, als im Dezember bekannt wurde, dass der Vater des Mörders von Hanau die Waffen seines Sohnes zurückgefordert und zahlreiche Anzeigen mit rassistischem Inhalt erstattet hatte. Die ersten Anzeigen sollen schon im April eingegangen sein. Ein Grund, die Hinterbliebenen und Überlebenden zu informieren und sie zu schützen, sah die Polizei dabei nicht. Es waren die Initiative 19. Februar und die Familien selbst, die zu einer Mahnwache in der Nähe des Wohnhauses des Vaters aufriefen und Kritik an den Behörden übten. Wochen vorher hatte es Anrufe seitens der Polizei gegeben: Sie sollten keine Rache an dem Vater nehmen, hieß es damals. Als seien sie Gefährder.

»Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.« Das sind Worte, die Ferhat Unvar 2015 auf seiner Facebookseite gepostet hatte. Heute stehen sie auf Karten, Aufklebern, Plakaten und Schildern. So auch auf den Aufstellern vor der ehemaligen Midnight Bar am Hanauer Heumarkt. Hier begann am 19. Februar 2020 der rechtsterroristische Anschlag von Hanau. Noch immer hängen hier die Bilder der Ermordeten. Schilder, Kerzen und Blumen sind niedergelegt. Seit kurzem wissen wir, dass die Polizei Notausgang und Fluchtwege der Bar hatte verriegeln lassen.

Direkt um die Ecke befindet sich »der Laden«, so nennen viele hier den Raum der Initiative 19. Februar. 140 m2 gegen das Vergessen. Angehörige, Freund*innen und Unterstützer*innen gründeten wenige Wochen nach dem Anschlag von Hanau die Initiative. Die Forderungen der Initiative: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Das Ziel: Die Namen der Opfer sollen nicht in Vergessenheit geraten. Auch hier hängen ihre Bilder im Schaufenster, stehen ihre Namen. Der Hashtag #saytheirnames steht in leuchtenden Buchstaben an der Fassade. Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu.

Nach dem Anschlag in Hanau haben sich in Bremen, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen, aber auch in Stuttgart, Leipzig, Konstanz und Wien viele junge Menschen, überwiegend mit Rassismuserfahrungen, unter dem Namen Migrantifa zusammengefunden, um an Hanau zu erinnern, aber auch um migrantischen Selbstschutz zu organisieren und auf den rassistischen und antisemitischen Status quo in Deutschland aufmerksam zu machen.

Für die Aktivist*innen von Migrantifa Hessen steht fest: »Betroffene rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt und ihre Kämpfe um Gerechtigkeit lehren uns, dass Gedenken wichtig für politische Veränderung ist. Gedenken stört den rassistischen und antisemitischen Normalzustand, der die Ermordeten und ihre Geschichten vergessen machen will. Gedenken bedeutet Kämpfen. Für migrantisierte Menschen, Jüd*innen und BIPOC bedeutet Gedenken aber auch die Verarbeitung kollektiver Trauer und (Re-)Traumatisierung.« Sie haben, soweit es die Hygieneregeln erlaubten, am 19. jeden Monats zu Mahnwachen und Gedenkveranstaltungen in Frankfurt aufgerufen. Meistens an der Hauptwache, einem sehr belebten und geschäftigen Ort in der Innenstadt Frankfurts.

Migrantifa-Aktivist*innen mobilisierten auch mit, als sechs Monate nach den Anschlägen die Initiative 19. Februar zusammen mit den Familien der Ermordeten zur Kundgebung und Demonstration nach Hanau einlud. Zusammen mit der Stadt hatten die Organisator*innen ein Hygienekonzept für den ganzen Tag ausgearbeitet. Trotzdem entschied sich die Stadt am Abend zuvor, die Demonstration kurzfristig zu verbieten. Während nur 249 Personen bei der Kundgebung in Hanau dabei sein durften, verfolgen Tausende Menschen, über ganz Deutschland verteilt, die Reden der Hinterbliebenen und Freund*innen per Live-Stream auf YouTube mit. Entweder von zu Hause aus, oder bei den vielen lokalen Kundgebungen, die innerhalb weniger Stunden von antifaschistischen und antirassistischen Gruppen organisiert wurden.

Niemals ohne die Angehörigen und Überlebenden

Immer wieder musste und muss betont werden, dass jede Form von Solidarität und Gedenken ohne Einbeziehung von Überlebenden, Betroffenen, deren Nachkommen und Angehörigen, reine Selbstdarstellung und Profilierung ist. Einbezogen zu werden ist für sie ein andauernder Kampf, ähnlich dem gegen Ausschlüsse in Gesellschaft und Institutionen. Ein Kampf, auch wenn viele sich Ruhe wünschen.

Nur wenige Gehminuten vom Hanauer Heumarkt entfernt befindet sich der Neustädter Markt, der Hanauer Marktplatz mit dem Brüder-Grimm-Denkmal. Auch hier hängen noch Bilder, liegen Blumen und Kerzen, obwohl bald nach dem Anschlag bis in die Politik hinein Stimmen laut wurden, denen es offensichtlich unangenehm war, dass an einem zentralen Ort an die Opfer des Terrorattentats erinnert wird. Der Wunsch, zur »Normalität« zurückzukehren und somit das Geschehene zu vergessen, relativiert nicht nur den tief verankerten Rassismus in der Gesellschaft und den Institutionen, er ist auch eine Abwehr- und Verweigerungshaltung gegenüber der eigenen Verantwortung.

Hier, am Marktplatz, hatten sich direkt am Tag nach dem Anschlag tausende Menschen zu einer Mahnwache versammelt. Neben Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und dem Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky war auch Bundespräsident Steinmeier vor Ort. »Zeigen Sie Rücksichtnahme, zeigen Sie Solidarität.« Die Worte der Politiker*innen in den Tagen nach dem Anschlag – sie klingen leer und bedeutungslos. Zu oft haben sie Menschen in Deutschland, die von Rassismus und Antisemitismus betroffen sind, schon gehört. Wenige Wochen nach den Hanauer Ereignissen kommt heraus, dass zeitgleich zur Mahnwache Hanau im Berliner Regierungsviertel eine »Ersatzkarnevalsparty« gefeiert wurde. So viel zum Thema Solidarität.

2011 hieß es, die NSU-Morde müssten eine Zäsur sein. Kein Vergessen. Kein Schlussstrich. Dann passierte der Mord an Walter Lübcke. Danach sollte der Anschlag von Halle eine Zäsur sein. Jetzt Hanau. Und dazwischen weitere rechte Anschläge, wie das OEZ-Attentat in München, etliche Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte und tägliche Nachrichten über rechte Netzwerke bei der Polizei oder in der Bundeswehr.

All diese Ereignisse verbindet die Tatsache, dass wir die Erinnerung, das Gedenken und die Aufforderung nach Aufklärung und Konsequenzen nur der Initiative und den Kämpfen der Überlebenden, Hinterbliebenen und ihren Unterstützer*innen zu verdanken haben. Immer wieder kam es in der Vergangenheit vor, dass Städte und Kommunen sich schwer taten, angemessen und in enger Zusammenarbeit mit Überlebenden und den Angehörigen, Gedenkveranstaltungen zu planen und durchzuführen. Gedenken und Erinnern werden so zur notwendigerweise widerständigen Praxis. Auch Hanau zeigt uns wieder einmal, dass diese widerständige Praxis und unsere Kämpfe alles sind, was uns bleibt. Denn im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus, gegen rechte Gewalt und Terror können wir uns weder auf Politik, noch die (Mehrheits-)Gesellschaft verlassen.

Ayesha Khan

ist Social-Media-Redakteurin, Journalistin und freie Autorin.