Ist das schon eine Bewegung?
Die Blockaden von »Bloquons tout« erreichten nicht den Stillstand Frankreichs, aber gaben Hoffnung auf Veränderung
Von John Malamatinas und Jan Theurich

Es kommt selten vor, dass eine Bewegung ihren größten Erfolg schon vor dem Start verbucht. Genau dies geschah am 8. September, als die Regierung von Premierminister François Bayrou nach einer verlorenen Vertrauensfrage stürzte. Präsident Emmanuel Macron hatte auf die Abstimmung hingearbeitet, um die für den 10. September geplanten Proteste im Keim zu ersticken.
Seit den letzten Parlamentswahlen regiert Macrons Partei Renaissance nur noch als Minderheitsregierung. Bayrou, erst im Dezember 2024 ins Amt gekommen, sollte ein Sparpaket von 44 Milliarden Euro durchsetzen, um die ausufernden Staatsschulden in den Griff zu kriegen: Eingefrorene Renten, Kürzungen bei Sozialausgaben, Verwaltungsreformen, keine neuen Stellen im öffentlichen Dienst und sogar die Streichung von Feiertagen sind geplant. Am 9. September ernannte Macron Verteidigungsminister Sébastien Lecornu bereits zum siebten Premier seiner Amtszeit.
Die Idee der Bewegung »Bloquons Tout« (Alles Blockieren) geht zurück auf eine Initiative der Gruppe »Les Essentielles« (Die Essentiellen), die vom rechten Verschwörungstheoretiker und Souveränist Julien Marissiaux gegründet wurde. Es entstand eine virtuelle Bewegung mit dem erklärten Ziel, das ganze Land am 10. September lahmzulegen. Die Aktionsformen dafür sollten vielfältig sein: den kommerziellen Konsum verweigern, massenhaft Geld abheben, den Transport blockieren und auf die Straße gehen. Relativ schnell wurden diese Aufrufe in selbstorganisierten Telegram- und Whatsapp-Gruppen diskutiert, die nach und nach im ganzen Land entstanden.
Auch in Frankreich gibt es eine große Politikverdrossenheit – auch gegenüber der traditionellen Linken.
Die Stimmen, von links in diese Gruppen zu intervenieren, wurden immer lauter. In der Linken wuchs die Hoffnung auf einen neuen heißen Herbst in Frankreich. Nicht nur Jean-Luc Melenchon von der Linkspartei La France Insoumise (LFI) solidarisierte sich mit der entstehenden Bewegung, auch die Grünen und sämtliche Gewerkschaften äußerten ihre Sympathien und signalisierten den Willen, sich am 10. September zu beteiligen, während sich der rechtsextreme Rassemblement National distanzierte.
Vom Chat zur Blockade
Bereits am frühen Morgen standen vor dem Pariser Busdepot rund 100 meist junge Menschen und einige Gewerkschafter*innen der CGT. Sie blockierten die ersten Busse, wurden jedoch rasch von der Bereitschaftspolizei, CRS, abgedrängt. Kurz darauf sammelten sich in der Nähe von Port de La Chapelle etwa 200 Personen, die sich über eine Telegramgruppe namens »Paris und Umgebung« verabredet hatten. Zeitgleich gingen an mehreren strategischen Punkten in Paris ähnliche Gruppen auf die Straße. Kurz nach 6 Uhr ertönte ein Signal. Es ging über kleinere Straßen direkt in Richtung Autobahn. Auf dem Weg wurden Absperrgitter und Mülltonnen eingesammelt. Ungestört erreichte die gut organisierte Menge über eine kleine Auffahrt den Autobahnring. Mit Hilfe von Leuchtfackeln signalisierten sie den Autofahrer*innen, anzuhalten. Kurz darauf wurde die Fahrbahn mit den Materialien blockiert und ein Banner entfaltet, welches auf den Blockadetag hinwies. Sehr zum Unmut einiger Autofahrer*innen. Mehrere Motoradfahrende versuchten sogar, die Barrikade zu durchbrechen, jedoch ohne Erfolg. Lediglich einen Krankenwagen ließen die Blockierer*innen passieren. Es dauerte nur wenige Minuten, bis mehrere CRS-Einheiten über die nun leere Autobahn anrückten und sofort mit der Räumung begannen. Die Barrikadenbauer*innen machten sich schnell aus dem Staub – wohl wissend, dass sie mit 200 Menschen keine dauerhafte Blockade halten konnten. So entwickelte sich an mehreren Stellen in Paris ein Katz-und-Maus-Spiel, welches die Kapazitäten der Polizei band und immer wieder für Staus sorgte.
Ab 10 Uhr verlagerte sich das Geschehen zum Gare du Nord, dem verkehrsreichsten Bahnhof Europas. Dort hatten die Gewerkschaften CGT und Sud Rail eine Vollversammlung angekündigt. Rund 1.000 Menschen sammelten sich vor dem Gebäude, während im Inneren verstreute Gruppen immer wieder von der Polizei kontrolliert wurden. Journalist*innen wurden des Platzes verwiesen, denn das Filmen oder Fotografieren sei laut Polizei im Bahnhof nicht gestattet. Nur, wer seine Kamera gut genug versteckte, gelangte auf das Gleis, an dem sich die Bahnarbeiter*innen sammelten.
Die Menschenmenge außerhalb des Bahnhofs unternahm unterdessen mehrere Versuche, in den Bahnhof einzudringen. Vergeblich, denn CRS-Einheiten versperrten den Weg und verschlossen die Eingangstüren. »Es kann nicht sein, dass wir hier eine Vollversammlung abhalten, während tausende Schüler*innen, Studierende und Arbeiter*innen außen durch die Polizei gekesselt werden«, kritisierte die Bahnarbeiterin und Sud-Rail-Gewerkschafterin Laura Varlet in ihrer Rede. Prompt beschloss die Vollversammlung, sich den Menschen vor dem Gare du Nord anzuschließen. Fast schon symbolträchtig für die neue Bewegung wirkte ein Bild vor dem riesigen Gebäude: Ein Bahnarbeiter übergab eine für Frankreichs Gewerkschaftsproteste typische, überdimensionierte Leuchtfackel an eine junge Demonstrierende. Parallel stellte Macron nur einige Straßen weiter, in Matignon, dem Sitz der Regierung, seinen neuen Premier vor.
War der Vormittag durch einen recht jungen Protest geprägt, ging es am Nachmittag generationsübergreifend weiter. Am Place de Châtelet versammelten sich zehntausende Gewerkschafter*innen, Schüler*innen und Studierende. Immer wieder entstanden große, spontane Demonstrationen, die durch die Stadt zogen. Immer wieder wurden die Demonstrierenden durch die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken auseinander getrieben. Die Protestierenden zogen Gegenstände auf die Straße, sie setzten einige kleinere Barrikaden in Brand, doch die Lage schien für die CRS-Einheiten relativ kontrollierbar. Der Protesttag endete am Abend, trotz strömenden Regens, mit einer großen Vollversammlung am Place de Fétes.
Kommt der Generalstreik?
Seit dem Tag, an dem alles blockiert werden sollte, wird über den Erfolg oder Misserfolg der Bewegung gestritten. Bayrou hatte noch zu seiner Amtszeit landesweit lediglich 100.000 Demonstrierende prognostiziert. Trotz dieser, für Frankreich recht normalen Protestgröße, entschied sich das Innenministerium unter Bruno Retailleau für die Mobilmachung von 80.000 Polizist*innen – manche sagen eine »Eins-zu-Eins-Betreuung«.
Laut dem Innenministerium sollen 197.000 Menschen zu hunderten Aktionen in ganz Frankreich zusammengekommen sein. Laut der Gewerkschaft CGT waren es 250.000 Teilnehmende. Glaubt man Manuel Bompard (LFI) sollen es sogar bis zu 500.000 Protestierende gewesen sein. Worin sich alle Seiten einig sind: Viel mehr Menschen als erwartet, schlossen sich den dezentralen Protesten an.
Laut der Zeitung Le Monde kam es landesweit zu 675 Festnahmen und 549 Ingewahrsamnahmen, davon 183 in Paris. Bereits im Vorfeld des Blockadetages warnte Innenminister Retailleau die Bürger*innen davor, an den von »der Ultralinken vereinnahmten« Protesten teilzunehmen. In dieses Bild passt auch gut, dass der Brand eines koreanischen Restaurants samt darüber befindlichen Wohnungen zuerst den Protestierenden in die Schuhe geschoben wurde. Schnell bestätigte sich aber, dass der Auslöser eine Tränengasgranate der Polizei war.
Trotz der großen Beteiligung an den Demonstrationen geben Stimmen aus der Bewegung in den Chats zu, dass das Ziel, das Land zu einem Stillstand zu bringen, nicht erreicht wurde. Im Vorfeld beschrieb der Soziologe Antoine Bristielle vom Meinungsforschungsinstitut der Stiftung Jean Jaurès, auf Basis von Umfragen, die Teilnehmer*innen in den Chatgruppen und Versammlungen als junge Leute und Menschen mit höherem Bildungsabschluss.
Mobilisiert wurden andere Menschen als bei den Gelbwesten 2018 – wo vor allem die prekäre meist weiße Arbeiter*innen- und untere Mittelschicht aus den Vororten und der Peripherie den Herrschenden das Fürchten lehrte. Entsprechend schwang in den Protesten 2018 viel mehr Verzweiflung mit und daraus resultierend eine größere Wut, Entschlossenheit und Militanz auf der Straße. Allerdings war die Gelbwestenbewegung weniger homogen als die gegenwärtige Bewegung und nicht klar links ausgerichtet. In vielen Orten kam es zu Auseinandersetzungen mit Faschist*innen, die den Protest vereinnahmen wollten. Die »Bloquons tout« Bewegung war durch die Intervention von links, bereits im Vorfeld politisch viel klarer aufgestellt, für einige Autonome gar zu »Parteilinks«. Denn auch in Frankreich gibt es eine große Politikverdrossenheit – auch gegenüber der traditionellen Linken.
Die nächste große Probe wird der 18. September sein: Viele Gewerkschaften rufen zu landesweiten Streiks auf. Manche erhoffen sich einen flächendeckenden Generalstreik. Wird es die in sozialen Medien entstandene Bewegung, ohne klare Führungsfiguren und ohne klares Programm, mit ihrer horizontalen Form der Organisierung schaffen, Einfluss auf die Gewerkschaften auszuüben? Klar ist in jedem Fall, dass die geplanten Kürzungen nicht wie in Deutschland, ohne Kampf hingenommen werden. Anders als hierzulande sieht ein immer noch großer Teil der Bevölkerung nicht die Erwerbslosen oder Migrant*innen als Schuldige. So könnten auch gemeinsame Kämpfe entstehen, bei denen die Schwachen nicht auf die Schwächsten treten, sondern sich gegen die soziale Kälte organisieren.
Die Antwort der französischen Regierung auf die Proteste ist der Versuch, ein »Austeritätspaket light« durchzusetzen. Dafür spricht die Ernennung Lecornus zum Premierminister, den die Rechtsextremistin Marine Le Pen durchaus treffend als »die letzte Patrone des Macronicmus« bezeichnete: Er ist als guter Verhandler bekannt, der sich mit Rechten und Linken zum Mittagessen trifft. Macrons Hoffnung ist nun, die Sozialistische Partei aus der Opposition zu einem Kompromiss zu bewegen. Gelingt ihm diese Spaltung des progressiven Blocks und baut sich keine politische Kraft auf der Straße auf, könnte Macron politisch überleben. Neuwahlen würden nach aktuellen Umfragen nichts an der Pattsituation ändern. Aber die Zeit rennt: Die Ratingagentur Fitch hat am 13. September die Kreditwürdigkeit des Landes herabgestuft. Für die Blockadebewegung »Bloquons tout« gilt es nun ihre soziale Basis zu erweitern, also den progressiven Teil der Unzufriedenen von 2018 zu erreichen und gleichzeitig aus den ritualisierten Gewerkschaftsprotesten sowie dem Riotspektakel auszubrechen.