Frieden ist Revolution
Krieg ist mehr als eine von Armeen an Fronten ausgetragene Affäre – erst recht der »Dritte Weltkrieg«
Von Dilar Dirik
Palästina, Sudan, Kongo, Syrien, Kurdistan, Ukraine – vielerorts toben Krieg und Zerstörung. Dabei ist die Darstellung von Krieg als eine von Armeen an Fronten ausgetragene Affäre verzerrt, so wie die Behauptung, er sei eine Fortsetzung von Politik zwischen Staaten. Definitionen, die gewisse Akteur*innen zentrieren, halten die langfristigen tiefen gesellschaftlichen und ökologischen Folgen vom Krieg als System und Paradigma außerhalb unseres Bewusstseins.
Krieg betrifft zwar keineswegs alle Menschen und Orte gleichmäßig. Und dennoch sind heute überall auf der Welt ganze Gesellschaften mit all ihren Beziehungen Schlachtfelder. Ein Verständnis jener Bedingungen, die zusammengenommen immer mehr als »Dritter Weltkrieg« begriffen werden, ist lebenswichtig, ebenso wie eine revolutionäre Perspektive auf das Thema Frieden.
Jenseits von Blut und Eisen
Laut Shadow World Investigations betrifft circa 40 Prozent der Korruption im internationalen Handel den Waffenhandel. Viele Transaktionen obliegen hier geringer oder keiner Aufsicht. Betrug und Bestechung sind die Norm in diesem Multi-Sektor-Milieu. Doch Kriegswirtschaft ist mehr als Waffenhandel.
Krisen und Konflikte sind des Kapitalismus Lebenselixier. Krieg schafft Zugang zu Ressourcen, Märkten und Handelsrouten, territoriale Kontrolle sowie ideologische und kulturelle Vorherrschaft. Militärische Überlegenheit erhält asymmetrische Machtbeziehungen und globale Ungleichheiten aufrecht. Neokoloniale Wirtschaftsregime sichern Abhängigkeit und sogenannte Unterentwicklung im Globalen Süden und somit Kreisläufe von Armut, Vertreibung und Instabilität. Dies ermöglicht jegliche imperialistische Intervention. Unbezahlbare Schulden und Sanktionen sind »nichtmilitärische« Mittel zur Untergrabung nationaler Souveränität. Neue Formen des Extraktivismus vertiefen bestehende Umweltprobleme. Ressourcen der Dritten Welt werden für die Energiewende im Westen ausgebeutet. Konkurrenz um diese nährt wiederum den Boden für Konflikt.
»Dual-Use-Güter«, vor allem KI-, Robotik- und Überwachungstechnik, verwischen die Grenzen zwischen zivilem und militärischem Nutzen. Cloud- und Analysedienste von Unternehmen wie Google, Amazon oder Palantir stützen zum Beispiel Israels Genozid und Apartheid- und Besatzungssytem in Palästina. Abgesehen von Mauern und Waffen, nutzen Grenzregime Produkte und Dienstleistungen von Rüstungsunternehmen wie Drohnen oder Sicherheitssysteme in Haftanstalten. Oft profitieren dieselben Konzerne von Krieg und Flucht. Oft beliefern sie beide Seiten eines Konflikts.
Ideologisch scharen Kriege Menschen um den Staat. Nationalismus verherrlicht Mythen, die Gesellschaft und Kultur mit dem Staat gleichsetzen. Faschistisch-chauvinistische Geschichtsansätze, soziale Hierarchien, autoritäre Politik, konservative Werte und militaristische Maskulinität weben die Genetik.
Ist Krieg in allen Bereichen des Lebens organisiert, werden sie alle Orte des Kampfes.
Die Kosten der Militarisierung werden mit Kürzungen in existenziellen Bereichen des Lebens wie Erziehung, Bildung oder Gesundheit beglichen. Dies vertieft bestehende Ausbeutung, vor allem der Körper und Arbeit von Frauen aus der Dritten Welt. Auch deshalb sind sie oft in den vordersten Reihen von Gerechtigkeitskämpfen zu finden.
Nicht erklärte Kriege
Viele Kriege heute sind nicht erklärte Kriege. »Aufstandsbekämpfung« und Bürger- und Stellvertreterkriege sind Beispiele dafür. Offizielle Begriffe schaffen wenig Klarheit angesichts moderner »bevölkerungszentrischer« Kriegskonzepte, vor allem, da unter der Oberfläche, jenseits von gewählten Ämtern, offiziellen Bürokratien und täglichen politischen Entwicklungen, Prozesse und Mechanismen liegen, die das kapitalistische System erhalten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden faschistische Methoden der Nazis umfunktioniert und weltweit eingesetzt, etwa im Rahmen der von den USA angeführten antikommunistischen »Aufstandsbekämpfung« – von Guatemala bis Indonesien –, mit Methoden wie Genozid, Folter, politischen Morden, Masseninhaftierungen, Entvölkerung, sexueller Gewalt, Dorfzerstörungen und Ökozid, für die es bis heute keine Gerechtigkeit gibt. Begriffe wie Sonderkriegsführung klingen wie Verschwörungstheorien, werden aber seit Jahrzehnten offiziell in Militärdoktrinen festgehalten und in der Praxis angewandt. Die Methoden reichen auch zurück in die lange europäische Machtgeschichte der Sklaverei, des Kolonialismus, der sogenannten Hexenjagden und der Zerschlagung von Bauern- und Arbeiter*innenbewegungen. Polizeiarbeit und Aufstandsbekämpfung sind historisch mit Ideologien weißer Vorherrschaft und Klassenhass verbunden. Rebellionen werden zerschlagen, Bewegungen befriedet, Gemeinden zerstreut, um Ideen wie Gesellschaft und Freiheit zu zerstören.
Bewegungen wie die Freiheitsbewegung Kurdistans haben diese Begriffe in ihren Perspektiven auf Staat, Kapitalismus und Patriarchat durch eigene Erfahrungen vertieft. Demnach ist z.B. patriarchale Gewalt kein Nebenprodukt, sondern zentrale Methode im Krieg. Ob sexuelle Gewalt als Kriegswaffe oder gezielte politische Drohnenfeminizide: die Auslöschung von indigenen Frauen und Vorreiterinnen politischer Kämpfe ist eine Methode zur Terrorisierung der Gesellschaft. Patriarchat als antike und intime Form der Normalisierung von Hierarchie und Macht ist selbst Krieg gegen die Gesellschaft.
Innen und Außen
Der sogenannte War on Terror hat die lange Geschichte der Zusammenarbeit zwischen westlichem Imperialismus und gewalttätigen islamistischen Gruppen weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein radiert. Gleichzeitig hat die Markierung ganzer Bevölkerungen als potenzielle Terrorist*innen viele Regionen in Afrika und Asien zu Zonen westlicher Straflosigkeit gemacht.
Auch innerhalb ihrer Grenzen greifen liberale Staaten zu kriegsähnlichen Methoden, um Bewegungen, widerständige und anderweitig unerwünschte Gruppen sowie ärmere Teile der Gesellschaft zu unterdrücken. »Anti-Terror«-Maßnahmen, Überwachung, Gefängnisse und Polizeiarbeit werden dafür militarisiert – Methoden, Ziele, Befugnisse überschneiden sich immer mehr.
Vor allem Diasporagemeinschaften um antikoloniale, revolutionäre oder nationale Befreiungsbewegungen kämpfen auch außerhalb ihrer Heimat mit Gewalt und staatlicher Schikane durch Verbote, Infiltration, Polizeigewalt, Verhaftungen, Razzien und Überwachung, zusätzlich zu rechter und rassistischer Hetze. Kriminalisierung deckt die Rolle westlicher Staaten in Kriegen und bei Menschenrechtsverletzungen, von denen sie betroffen sind.
Treten liberale Demokratien rechtliche Grundlagen auf internationaler Ebene mit Füßen, mobilisieren sie Recht und Ordnung innenpolitisch. Das Verbot von Palestine Action durch die Labour-Regierung betont diese gefährliche Dualität. Das Vereinigte Königreich spielt nicht nur eine aktive Rolle beim Genozid in Gaza (u.a. durch Militärbasen in Zypern, eine koloniale Kontinuität), sondern auch bei der Legitimierung des al-Qaeda-Regimes in Syrien – soviel zum Terrorismusbegriff. Die tieferliegende Problematik bei politischen Verboten ist indes der höhere Anspruch des Staates, zu bestimmen, was gut oder schlecht, richtig oder falsch ist – welche Welt möglich ist.
Ziel: Bewusstsein
Im Dritten Weltkrieg dient Wissen explizit der Macht, nicht der Wahrheit. Omnipräsente Diffusion verschleiert offensichtliche Propaganda. Universitäten sollen sich nationalen Sicherheitskonzepten anpassen. »Fake News«-Bekämpfung ist ein staatlich-gestützter Sektor. Einflussreiche Thinktanks sind, als wissenschaftliche Institute getarnt, mit Geheimdiensten und Großkonzernen verflochten. Studiert man die Profile ihrer Mitglieder und Partner, werden Drehtüren zwischen Kriegsindustrie und Informations-, Vermögensverwaltungs- und Energieunternehmen deutlich. Hinsichtlich der Dritten Welt sind westliche Stiftungen darin investiert, eine oberflächlich liberale, tatsächlich imperialistische Weltordnung aufrechtzuerhalten.
Durch strategische Informationsverwaltung wird unser Realitätsverständnis auch im Alltag manipuliert. Laut Nato geht es bei kognitiver Kriegsführung (ein relativ neuer Begriff, basierend auf Methoden aus dem Kalten Krieg) um »Aktivitäten, die in Abstimmung mit anderen Machtinstrumenten durchgeführt werden, um Einstellungen und Verhaltensweisen zu beeinflussen« und »Rationalität anzugreifen und abzubauen«. Propaganda wird heute gezielter auf Identitäten und Lebensstile zugeschnitten, um Aufmerksamkeit, Verständnis und Handeln permanent zu lenken. Forschung in Neurowissenschaft, Psychologie, Marketing und Anthropologie sowie personenbezogene Daten sind dabei zentral. Demografische und biometrische Daten, zwischenmenschliche Interaktionen, Konsumverhalten und öffentliche Beiträge geben Aufschluss über Gedanken, Gefühle, Wünsche und Ängste. Social-Media-Apps gewähren Geheimdiensten Zugang zu riesigen Datenmengen, deren Analyse mit KI nun unermesslich beschleunigt wird. Diese für Staaten und Unternehmen wertvollen Einsichten sind für präventive gesellschaftliche Befriedung nützlich. In einer digitalen Welt sind psychologische Operationen leichter verdeckt und wirken transnational. Globale Polarisierung, Depression, Realitätsverlust und Gewaltbereitschaft sind logische Resultate.
Freiheit für alle
Ist Krieg in allen Bereichen des Lebens organisiert, werden sie alle Orte des Kampfes. Vielerorts hört man: keine Gerechtigkeit unter imperialistischer Vorherrschaft, keine grünen Lösungen im Kapitalismus, keine Freiheit ohne ein Ende des Patriarchats. Solange Herrschaftssysteme von Zerstörung, Ausbeutung und Unterdrückung profitieren, bleibt Krieg die Norm.
Das radikale Bestehen auf Weltfrieden ist kein Utopiedenken, sondern ein Kampf. Doch das kapitalistische Kriegsparadigma lässt sich nicht allein mit Bewusstsein und Widerstand brechen. Ein freies Leben muss aktiv im Hier und Jetzt aufgebaut werden. Frieden heißt mehr als das Schweigen der Waffen – er verlangt radikale Veränderung, eine Welt auf Grundlage anderer Werte sowie Wandel in alltäglichen Beziehungen. Frieden ist Revolution.
Das erfordert internationalistische Perspektiven, strategische politische Vernetzung, in der Gesellschaft verankerte, militante Organisierung und gemeinsamen Kampf. Es liegt an uns allen, Erwartungshaltungen zu verlassen und Initiative zu ergreifen. Für das Leben.