analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 686 | International

Polen als Frontstaat

Die Abschottungspolitik der PiS-Regierung gegenüber Flüchtenden steht moralisch am Pranger – Schule machen soll sie dennoch   

Von Jos Stübner

Verstehen sich gut, auch in punkto Abschottungspolitik: der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, hier 2019 in Brüssel. Foto: Kancelaria Premiera/Flickr, Public Domain

Polen hat den Bau der Schutzbarriere an der Grenze zu Belarus beendet. Der illegale Übertritt nach Polen ist nun unmöglich. Die polnische Grenze ist heute die bestgeschützte in Europa.« Mit diesen Worten kommentierte der Staatssekretär der polnischen Regierung, Stanisław Żaryn, Anfang Oktober die Lage an der polnisch-belarusischen Grenze, die zugleich auch EU-Außengrenze ist. Bilder von Menschen, die den Grenzzaun nach wie vor auf alle erdenklichen Weisen überwinden, sowie die regelmäßigen Meldungen von Grenzschutz und Hilfsorganisationen sprechen allerdings eine andere Sprache.

Die nationalistisch-autoritäre Regierung unter der Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwości, PiS) ist derzeit bestrebt, eine prekäre Normalität zu inszenieren.  Mehr als ein Jahr lang hatte sie den Notstand an der Ostgrenze Polens und einen offenen Kampf gegen Flüchtende propagiert, die sie als »Waffe« einer »hybriden Kriegsführung« seitens Belarus bzw. Russlands bezeichnet.

Tatsächlich ist der rechtliche Ausnahmezustand im Sperrgebiet an der Grenze, in dem monatelang Grundrechte wie Presse-, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt waren, inzwischen beendet. Binnen eines halben Jahres wurde auf einer Länge von fast 200 km zum Preis von umgerechnet über 300 Millionen Euro eine solide Zaunkonstruktion aus Beton und Stahl errichtet.

Fluchtbewegungen trotz Grenzzaun

Unterbunden wurde die Fluchtbewegung damit aber keineswegs. Sie ist vor allem gefährlicher geworden. Hilfsorganisationen sind weiterhin im Dauereinsatz in den Wald- und Sumpfgebieten im Osten des Landes. Die Gruppe No-Borders-Team bezeichnet die Mauer als Illusion, allenthalben fänden sich Durchbrüche, würden Tunnel gegraben. Geflüchtete basteln kreative Kletterkonstruktionen oder suchen ihr Glück beim Durchqueren von Gewässern, die den Stahlzaun entlang des Grenzverlaufs unterbrechen. Die, die es mit waghalsigen Aktionen auf die polnische Seite geschafft haben, sind oft von schweren Verletzungen gezeichnet.

Allein für die erste Septemberwoche registrierten die Flüchtlingshelfer*innen der Grupa Granica 77 Hilfsgesuche aus dem Grenzgebiet. In den Wäldern stoßen Bewohner*innen des Grenzgebietes immer wieder auf Lagerplätze von Flüchtenden. Über 200 Personen gelten als vermisst.

Fortgesetzt finden auch illegale Pushbacks statt. In brutaler Manier werden Geflüchtete durch die dafür vorgesehenen Pforten im Grenzzaun oder durch Grenzflüsse zurück nach Belarus getrieben, ohne dass ihnen vorher die Möglichkeit eingeräumt wurde, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Die Grenzschutzbehörden zeigen sich unbeeindruckt davon, dass polnische Gerichte diese Praxis bereits wiederholt für rechtswidrig erklärt haben.

Mit größter Sorge blicken Flüchtlingshelfer*innen nun auf die sinkenden Temperaturen und die kommenden Wintermonate. Die Organisation Grupa Granica ruft zu Spenden auf. Wegen des inzwischen stark nachlassenden öffentlichen Interesses für die Situation an der Ostgrenze fehlt es an notwendigen Gütern wie Kleidung, Lebensmitteln oder Powerbanks für die Notfallversorgung in der Wildnis.

Für die PiS-Regierung ist der Umgang mit Geflüchteten keine Frage von Menschenleben, sondern Teil einer machtpolitischen Bedrohungs- und Kontrollsimulation. Routiniert werden innere und äußere Feinde bestimmt, werden flüchtende Menschen dämonisiert. Gegen diese »Gefahren« verspricht die Regierung Schutz und mobilisiert die Bevölkerung unter militaristischen Vorzeichen.

Intensive Feindbildpflege

Militarisierung und nationalistisch-autoritäre Formierung von Staat und Gesellschaft sind unter PiS eng miteinander verknüpft. Der Ukrainekrieg und die Aussicht auf die Parlamentswahlen im kommenden Jahr verstärken diese Tendenzen noch zusätzlich. Die Partei unter der Führung von Jarosław Kaczyński hat ihre Kampagne für den Machterhalt bereits begonnen. Dabei zeichnet sich eine zusätzlich intensivierte Feindbildpflege sowie ein Fokus auf nationale Sicherheit und Wehrhaftigkeit ab; nicht zuletzt, um von Inflation und steigenden Energiepreisen abzulenken.

Polen investiert bereits seit längerem massiv in Aufrüstung. Drei Prozent des Bruttoinlandprodukts fließen im kommenden Jahr in den Verteidigungshaushalt. Ein Kernstück des Truppenausbaus ist die 2016 aus Zivilist*innen gebildete Armee zur Territorialverteidigung (WOT). Waren die WOT-Milizen schon bislang wesentlich an der Flüchtlingsbekämpfung beteiligt, so gibt es seit September zusätzlich eine eigene Grenzschutzformation im Rahmen der WOT.

Wie auch bei vielen anderen Maßnahmen der PiS-Regierung wird das Projekt von historischer Traditionsbildung und nationalistischer Geschichtspolitik flankiert. Der Name der neuen Formation ist an eine militärische Einheit der Zwischenkriegszeit, das Grenzschutzkorps (KOP) zur Sicherung der Ostgrenze gegen die Sowjetunion, angelehnt. Heute soll die Formation insbesondere zur Abwehr eines erneuten »Sturms auf die Grenze« dienen, wie das polnische Staatsfernsehen unter Bezugnahme auf die Fluchtbewegungen aus Belarus verkündete.

Auch andere gesellschaftliche Gruppen werden in den (Ab-)Wehrmodus versetzt. Dazu zählt etwa die Ausstattung der Forstbeamt*innen der grenznahen Woiwodschaft Podlasie mit Sturmgewehren. Zur Büffeljagd mögen die vollautomatischen Waffen wohl nur bedingt taugen. Der Forstdirektor von Białystok bezeichnet seine Förster*innentruppe offen als »paramilitärische Formation«, wiederum unter Berufung auf die historische Tradition der polnischen Militärförster aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Fall der Fälle werde man nun Grenzschutz, Militär oder Polizei unterstützen können. Gemeinsame Patrouillen gibt es bereits jetzt.

Die Idee der nationalen Wehrhaftigkeit hat im Angesicht des Ukraine-Kriegs noch an Zuspruch gewonnen.

Die Idee der nationalen Wehrhaftigkeit hat im Angesicht des Ukraine-Kriegs und der Bedrohungswahrnehmung durch die russische Aggression noch an Zuspruch gewonnen. Maßnahmen wie das ab diesem Schuljahr obligatorische  Schießtraining für Schüler*innen ab der achten Klasse oder die in diesem Herbst allen Bürger*innen kostenlos zugängliche Schnellausbildung an der Waffe stoßen gegenwärtig kaum auf breiteren Widerspruch.

Bei westlichen Beobachter*innen rufen die Militarisierungsbestrebungen des «Rüstungsaufsteigers« Polen (»Welt«) vielfach Bewunderung hervor – in Deutschland vor allem bei jenen, denen die aktuelle Rüstungsoffensive der Bundesregierung offenkundig noch nicht weit genug geht. »Die klugen Polen beugen vor«, kommentierte die konservative Publizistin Liane Bednarz die militärische Ausbildung von Zivilist*innen durch die WOT-Milizen auf Twitter. Polen versuche, in der Nato Deutschlands Rolle einzunehmen und Deutschland als bedeutendste nicht-nukleare, konventionelle Macht zu verdrängen, urteilt Carlo Masala, Professor an der Universität der Bundeswehr in München.

Passt ins europäische Konzept

Zwar erfährt die Politik der PiS-Regierung mit Blick auf die Demontage des Rechtsstaats, das Abtreibungsverbot oder die offen artikulierte Queerfeindlichkeit in Deutschland auch von bürgerlicher Seite viel Kritik. Als Frontstaat kommt das autoritär-nationalistisch geführte Land vielen aber wohl durchaus gelegen, und das sowohl im Rahmen der Nato als auch innerhalb der EU.

Die polnische Abschottungspolitik fügt sich gut ins gesamteuropäische Konzept ein. Eine derzeit geplante EU-Verordnung zur »Instrumentalisierung von Migration« würde eine weitere Beschneidung der Rechte von Flüchtenden bedeuten. Das Zurückdrängen von Menschen an der Grenze ohne eine Möglichkeit, Asyl zu beantragen, wie es Polen bereits praktiziert, könnte dann eine entsprechende rechtliche Grundlage erhalten. Denn das berühmte Diskurskonstrukt von der Migration als »Waffe« des belarusischen Autokraten Lukaschenko dürfte unter diese Regelung fallen. In zweiter Abschottungslinie führt aber auch Deutschland selbst immer wieder Pushbacks durch – in diesem Fall wiederum nach Polen. Das belegt die Regierungsantwort auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Clara Bünger von der Linkspartei. Verschärft wurden zuletzt auch rassistische Kontrollen an den EU-Binnengrenzen, wie etwa im Falle der aus Tschechien nach Deutschland Einreisenden. Diese Maßnahmen ergänzen im Inneren den Ausbau der Festung Europa, für die Kaczyńskis Polen ein willkommenes Bollwerk nach außen darstellt.

Jos Stübner

ist Historiker und lebt in Warschau.