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Wer zahlt, der isst

Alle schauen auf das Getreideabkommen zwischen der Ukraine und Russland – dabei gibt es noch andere Ursachen für den zunehmenden Hunger

Von Eva Gelinsky

Zu sehen ist ein Firmensitz des saudi-arabischen Molkerie- und Lebensmittelkonzern Almarai mit drei Menschen, die auf den Eingang zulaufen.
Der saudi-arabische Lebensmittel- und Molkereikonzern Almarai lässt das Futter für seine Kühe in Kalifornien und Arizona anbauen. Foto: Almarai/Youtube Screenshot

Es ist ein stetiges Auf und Ab: Mitte Oktober sah es zunächst nach einer deutlichen Entspannung bei den Weizenpreisen aus; Analyst*innen befürchteten (!) einen weiteren Rückgang der Preise, sollte das Abkommen, das Getreidelieferungen aus Russland und der Ukraine über das Schwarze Meer regelt, über den November hinaus verlängert werden. Ob die Übereinkunft verlängert wird, ist derzeit noch offen. Ende Oktober hatte Russland seine Teilnahme kurzzeitig ausgesetzt. Als Grund wurden Drohnenangriffe auf Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte angegeben. Zwar sollen nun weitere Lieferungen aus der Ukraine stattfinden; die Talfahrt der Preise könnte dennoch vorerst gestoppt sein. (1)

Unabhängig von den kriegsbedingten Störungen des Getreidehandels, hat sich die Versorgungslage in vielen Ländern des Globalen Südens in den letzten Wochen noch einmal dramatisch verschärft. Grund sind die Zinserhöhungen in den USA, mit der die US-Notenbank Fed die Inflation dämpfen will. Da der US-Dollar die Leitwährung des Weltfinanzsystems ist, setzt die Notenbank mit ihrer Politik auch den Maßstab für alle anderen Länder: Die Rendite von US-amerikanischen Staatsanleihen dient Anleger*innen weltweit als Maßstab dafür, was die Anlage von Kapital derzeit einbringen sollte. Diese Latte wird nun höher gelegt.

Die steigenden Renditen locken Kapital in die Vereinigten Staaten; wer am globalen Kapitalmarkt Kredite aufnehmen will, muss mit dem US-Angebot mithalten können. Dazu macht der Zinsanstieg in den USA den Dollar im Vergleich zu anderen Währungen stärker. Vor allem jene Länder, die bereits hoch verschuldet sind und mit der Nahrungsmittel- und Energiepreiskrise zu kämpfen haben, geraten unter Druck. Da ein großer Teil ihrer Schulden auf Dollar lautet, macht der starke Dollar ihren Schuldendienst teurer. 

Neuauflage der Schuldenkrise?

Ayhan Kose, Chefökonom und Direktor der Prospects Group der Weltbank, warnte jüngst vor einer Wiederholung der Schuldenkrise der 1980er Jahre. Sri Lanka, Bangladesch und Ghana haben sich bereits an den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe gewandt. Pakistan kämpft darum, einen Zahlungsausfall auf seine Schulden zu vermeiden.

Hinzu kommt, dass viele Rohstoffe auf dem Weltmarkt in Dollar bezahlt werden. Da die Devisenreserven in vielen Ländern knapp und der Zugang zu Dollar eingeschränkt ist, sitzen viele Container mit Weizen und anderen Rohstoffen in den Häfen fest oder müssen umgeleitet werden. Von den derzeit 35 Staaten, die eine ernste Nahrungsmittelkrise erleben, bewegen sich laut dem Institute of International Finance (IIF) 16 an der Grenze zur Überschuldung, darunter Afghanistan, Kamerun, Äthiopien, Kenia und Sambia. 

Während Kriege, Konflikte und Währungsschwankungen zu Unsicherheiten und damit kurzfristigen Preissprüngen auf dem Weltagrarmarkt führen können (2), bedroht die Erderhitzung die Versorgungssicherheit durch Ernterückgänge, degradierte Böden und Totalausfälle dauerhaft. Auf einem sterbenden Planeten könne es keine Preisstabilität geben, so der Titel eines im Jacobin-Magazin (23.9.2022) erschienenen Artikels. Die Auswirkungen der Klimakrise auf die Lebensmittelpreise sind also ein langfristiger Trend, der sich noch verstärken wird, wenn keine drastischen Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden. 

Von den 35 Staaten, die eine ernste Nahrungsmittelkrise erleben, bewegen sich 16 an der Grenze zur Überschuldung.

Zum Beispiel in den USA. In vielen Regionen sollte der Weizenanbau – in den USA wird überwiegend Winterweizen angebaut – 2023 aufgrund der hohen Weltmarktpreise ausgeweitet werden. Die außergewöhnliche Trockenheit in weiten Teilen des Landes (besonders betroffen ist der Südwesten), dürfte diese Pläne zunichte machen. Gemäß dem Dürremonitor des US-Landwirtschaftsministeriums sind inzwischen 74 Prozent der Winterweizenanbaufläche von schwerer Dürre betroffen.

In wichtigen Anbaugebieten in der Mitte des Landes (Kansas, Oklahoma) keimt der ausgesäte Winterweizen schlecht oder gar nicht. Ein spärlich von Pflanzen bedeckter Boden ist kaum geschützt; sollte es zu heftigen Winterstürmen kommen, könnte die oberste Bodenschicht einfach weggeweht werden. Die Umweltorganisation Environmental Defense Fund unterstreicht in einem aktuellen Bericht, dass zunehmende Hitze, Trockenheit und andere Extremwetterereignisse die Produktion der wichtigsten Kulturarten in den USA (Weizen, Soja, Mais) bereits ab 2030 beeinträchtigen werden. Vor allem die Hauptanbaugebiete müssten sich auf sinkende Erträge einstellen. 

Düstere Aussichten für die Welternährung, vor allem weil sich an der Art und Weise, wie die Zuteilung der Güter auf dem Weltagrarmarkt organisiert ist, nichts ändern soll: Zugang erhalten nur jene, die über die entsprechende Zahlungsfähigkeit verfügen. Dabei sind die hohen Preise für die Verteidiger des liberalisierten Handels nicht das Ergebnis einer ungerechtfertigten »Spekulation mit dem Hunger«, sondern wichtiges Indiz einer sich abzeichnenden realen Knappheit. Wenn man dieser Logik folgt, dann verschärfen die Geschäfte an den Terminmärkten nicht die Krise; sie entschärfen eine sich abzeichnende Hungerkrise.

Denn die Hungernden können sich – theoretisch – frühzeitig darauf einstellen zu hungern oder, sofern möglich, teuren Weizen durch heimische Hirse substituieren. Der hohe Preis, der zukünftige Knappheit anzeigen soll, führt auf dem Markt also »vernünftigerweise« dazu, dass Nachfrager sich rechtzeitig eindecken. Begünstigt werden dabei aber natürlich diejenigen, die entsprechend zahlungsfähig sind. 

Staaten sichern sich Agrarflächen

Um die Versorgungssicherheit der eigenen Bevölkerung auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, sichern sich Staaten, die es sich leisten können, bereits seit einigen Jahren landwirtschaftliche Flächen vor allem in Afrika, Osteuropa, Nordamerika, Australien oder Asien. Die großflächigen Investitionen werden sowohl von privaten als auch staatlichen Finanzinstitutionen und Agrarunternehmen getätigt. Sie kaufen oder pachten die Agrarflächen, um sie in eigener Regie zur Herstellung von Agrarrohstoffen zu nutzen. Wie der Golf-Kooperationsrat (GKR) – die reichen Golfstaaten gehören zur Gruppe der großen Landkäufer – betont, funktionieren solche Offshore-Projekte allerdings nur, wenn das globale System insgesamt gut funktioniert.

In Zeiten von Nahrungsmittelpreiskrisen können Lieferketten rasch zusammenbrechen; vor allem dann, wenn Länder Exportverbote verhängen, um zunächst die eigene Bevölkerung versorgen zu können. Einige Länder, so der GKR, seien daher bereits einen Schritt weiter gegangen, und hätten sich direkt Anteile an großen Agrarunternehmen gesichert. So ist der riesige saudi-arabische Lebensmittel- und Molkereikonzern Almarai, Hauptaktionär von Fondomonte, Kalifornien. 

Da Saudi-Arabien größtenteils aus Wüste besteht und die Futterpflanze Luzerne viel Wasser benötigt, war der Anbau dort schon immer teuer und belastete die knappen Wasserressourcen. Die saudi-arabische Regierung verbot daher 2016 den Anbau dieser Pflanze. Nach dem Verbot hat Almarai nun nicht nur mit Offshore-Landkäufen begonnen; 2011 übernahm der Konzern das US-amerikanische Agrarunternehmen Fondomonte. Auf Tausende Hektar Ackerland in Arizona und Kalifornien wird nun Luzerne als Futter für die mehr als 93.000 Kühe in Saudi-Arabien produziert. Durch den Anbau verschärft sich die Wasserversorgung im dürregeplagten Südwesten der USA. In Arizona kann Fondomonte bislang kostenlos Grundwasser nach Bedarf pumpen. Eine Praxis, gegen die sich zunehmend Widerstand regt.

Im November 2020 sind 45 Prozent des global siebtgrößten Rohstoffhändlers, der Louis Dreyfus Company aus den Niederlanden, an den Staatsfond der Vereinigten Arabischen Emirate verkauft worden. Im Rahmen der Vereinbarung hat Louis Dreyfus einen langfristigen Vertrag über die Lieferung von landwirtschaftlichen Gütern an die Emirate abgeschlossen. Der Deal markiert eine neue Eskalationsstufe in der Geopolitik des globalen Agrarrohstoffhandels in Zeiten von Krieg und Klimakrise. 

Die gegenwärtige Hungerkrise ist also gesellschaftlich hergestellt: Die Dinge des Bedarfs sind da, aber den Bedürftigen entzogen. Von dieser Knappheit lebt das heutige Wirtschaftssystem, und wo sie nicht besteht, wird sie produziert. (3) Güter müssen knapp sein oder knapp gemacht werden. Denn nur dann gibt es ökonomisch überhaupt etwas zu entscheiden. Alles ist eine Frage des Preises. 

Der einzig vernünftige Schluss, der daraus zu ziehen ist, besteht darin, die Befriedigung von Grundbedürfnissen außerhalb eines Marktes zu organisieren, der über Preise funktioniert. Die durch die Klimakrise drohenden Ernterückgänge machen dies umso dringlicher, da die Unternehmen diese »Störungen des Marktes« (z. B. Lieferengpässe) nutzen werden, um die Preise zu erhöhen. (4) Eine solidarische Grundversorgung sollte also nicht nur die derzeit bereits diskutierten Bereiche Energie, Verkehr und Gesundheit umfassen, sondern auch Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion und -verteilung. Höchste Zeit also, sich auch über die Vergesellschaftung der großen Agrarkonzerne Gedanken zu machen.

Eva Gelinsky

ist Geografin, Agraraktivistin und Redaktionsmitglied bei emanzipation. Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.

Anmerkungen:

1) In ihrem vierteljährlich erscheinenden Briefing zur globalen Nahrungsmittelproduktion hält die FAO fest, dass die Welt-Weizenproduktion 2020-2022 fast unverändert geblieben ist und dass sich die Lagerbestände kaum verringert haben. Auch das Verhältnis von Lagerbeständen zu Nachfrage hat sich nicht verschlechtert, eher leicht verbessert gegenüber 2018/19. Allerdings sind die Lagerbestände der Hauptexportländer von 84 Millionen Tonnen (2018) auf 61 Millionen Tonnen (2021) gesunken (ein Grund ist u. a. die anhaltende Dürre in den USA). Dagegen sind die Lagerbestände in anderen weizenproduzierenden Ländern angestiegen.

2) Noch lange vor der realen Ernte, geben Händler*innen, Analyst*innen, Banken und Hedgefonds, ausgehend von ihren Erwartungen bezüglich der Preisentwicklung, dessen weitere Richtung vor. 

3) Jedes Jahr werden Tausende Tonnen Nahrungsmittel vernichtet, weil das Angebot sonst zu groß und die Preise zu niedrig wären.

4) Nicht eine »höhere Nachfrage« oder ein »geringeres Angebot« lassen Preise steigen, sondern die Unternehmen nutzen derartige Entwicklungen aus – sie sind für Preissteigerungen verantwortlich. Der Preis einer Ware ist für die Unternehmen also ein Mittel, um die zahlungskräftigen Bedürfnisse der Nachfrager auszunutzen. Der Zweck der Produktion besteht einzig darin, Profit zu machen.