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Druck durch Hunger

Nicht erst im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine zeigt sich, dass Lebensmittellieferungen ein bewährtes Machtmittel sind

Von Eva Gelinsky

Die Ukraine, so konnte man zuletzt immer wieder lesen, produziere genug Getreide, um Hunderte von Millionen Menschen zu ernähren. Doch die vor allem Russland angelastete Blockade der Schwarzmeerhäfen machte es wochenlang unmöglich, das in der Ukraine lagernde Getreide zu exportieren. Diese Störung des Weltagrarmarktes rief die Apologet*innen des Freihandels auf den Plan: US-Außenminister Antony Blinken behauptete, Russland trage die Hauptverantwortung für die derzeitige Lebensmittelpreiskrise. Es gebe keinen anderen Grund für die steigenden Lebensmittelpreise weltweit als Russlands Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen sowie Beschränkungen eigener Ausfuhren. Die steigenden Preise für Weizen und andere Agrargüter sollen also vor allem das Resultat eines vorsätzlich behinderten Handels sein. Im Umkehrschluss heißt dies: Funktioniert dieser reibungslos, dann erreichen die dringend benötigten Güter auch die bedürftigen Menschen. 

Eine gewagte These, wenn man bedenkt, dass gerade dieser »Freihandel«, wie er unter dem Regime der großen Agrarexporteure praktiziert wird, einen wesentlichen Anteil an vergangenen und gegenwärtigen Hungerkrisen hat. Darüber hinaus, das zeigt gerade auch die aktuelle Krise, lassen sich mit Hunger nicht nur gute Geschäfte machen; er ist auch ein bewährtes Macht- und Druckmittel in Kriegszeiten.

Seit der Vereinbarung mit Russland über die Wiederaufnahme von Getreideexporten im Juli haben 86 Frachter mit rund zwei Millionen Tonnen Agrargütern an Bord die Schwarzmeerhäfen der Ukraine verlassen (Stand Anfang September). Auch über alternative Routen finden Exporte statt: Über Flüsse, Eisenbahnstrecken und Straßen wurden zuletzt monatlich etwa 2,5 bis 3 Millionen Tonnen ukrainische Agrarprodukte in die EU und auf den restlichen Weltmarkt transportiert. Damit nähern sich die Getreidelieferungen aus der Ukraine wieder den Mengen, die das Land vor dem russischen Angriff monatlich ausführen konnte. Auch Russland hat seine Exporte wieder aufgenommen.

Auch wenn die Lieferungen dabei helfen können, akute Versorgungsengpässe zu lindern – die Hungerkrise, die seit Monaten immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, lässt sich allein durch die zusätzlichen Mengen, die jetzt den Weltmarkt erreichen, nicht beenden. Viele Staaten haben nach wie vor mit hohen und zuletzt auch wieder stark schwankenden Weizenpreisen zu kämpfen. Die ersten Meldungen über erfolgreiche Schiffslieferungen aus der Ukraine brachten noch keine Entspannung; Ende August stieg der Weizenpreis erneut, ohne den Höchststand zu Beginn der Krise zu erreichen. Analyst*innen gaben an, dies hänge mit dem schwachen Euro zusammen, der europäische Agrargüter auf den Weltmärkten attraktiver werden lasse. Die Preisbildung auf den Weltagrarmärkten ist und bleibt also eine von Erwartungen und Spekulationen getriebene, stark schwankende Angelegenheit.

Ist Russland schuld am Hunger in der Welt?

Vor Abschluss des Abkommens überboten sich westliche Regierungsvertreter*innen in ihrer moralischen Verurteilung Russlands. So warf Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Russland vor, den Hunger in der Welt »ganz bewusst als Kriegswaffe« einzusetzen; Moskau sei es, das Häfen blockiere und Getreidespeicher beschieße. 

Wie sind diese Vorwürfe zu bewerten? Ende März hatte Russland seine Agrarexporte vorübergehend eingestellt. Die westlichen Sanktionen würden Ausfuhren verhindern, hieß es. Tatsächlich waren die Getreidelieferungen selbst von den Sanktionen der EU nicht betroffen. Allerdings fielen die Versicherungen für solche Transporte, das Einlaufen und Warten russischer Schiffe in ausländischen Häfen sowie die finanzielle Abwicklung unter die Sanktionen. Das heißt: Russland hätte liefern dürfen, konnte aber nicht mit Sicherheit Geld dafür erwarten und musste zudem befürchten, dass seine Schiffe beschlagnahmt würden. Im Rahmen eines separaten Abkommens hat Russland nun Sanktionserleichterungen für seine Agrarexporte erhalten.

Es stellt sich heraus, dass unsere Agrargüter eine heimliche Waffe sind. Unauffällig, aber mächtig.

Dmitri Medwedew

Warum konnte die Ukraine nicht exportieren? Die Ukraine machte die Seeblockade russischer Schiffe verantwortlich. Russland wiederum nannte – neben den Sanktionen des Westens – die Verminung des Hafens von Odessa und ukrainische Minen im Schwarzen Meer, die den Schiffsverkehr gefährdeten. 

Beides trifft zu, denn beide Parteien operieren im Schwarzen Meer vor dem Hintergrund ihrer strategischen Interessen: Russland hat mit seiner Flotte Häfen blockiert, um den militärischen Nachschub der Ukraine über den Seeweg aufzuhalten. Umgekehrt hat die Ukraine den Hafen von Odessa vermint, damit Russland nicht vom Schwarzen Meer aus angreifen kann. Neben den militärstrategischen waren auch finanzielle Interessen im Spiel. Russland wollte verhindern, dass sich die Ukraine durch den Verkauf des Getreides Geld beschafft, um damit u.a. Waffen zu kaufen. Umgekehrt hatten die Ukraine und der Westen, der den ukrainischen Haushalt und die Waffenkäufe momentan finanziert, durchaus ein Interesse daran, dass diese Einnahmen erzielt werden – die Ukraine, weil sie dringend auf Devisen angewiesen ist, die westlichen Regierungen, um die Kosten ihrer Unterstützung für das Land zu senken.

Verminte Äcker

Seitdem wieder Agrargüter aus der Ukraine und Russland exportiert werden können, hat die mediale Aufmerksamkeit dem Thema gegenüber deutlich abgenommen. Dabei sind die Lieferungen, wie oben erwähnt, keine Lösung, um die globale Hungerkrise auch nur ansatzweise in den Griff zu bekommen. Unsicher ist auch, wie sich die ukrainische Landwirtschaft weiter entwickelt. Kam das Geld, das Landwirt*innen nun wieder für ihre Waren erhalten, früh genug, um deren Insolvenz abzuwenden? Nicht zu vergessen, dass in der Ukraine durch den russischen Angriffskrieg viele Getreidespeicher zerstört, Äcker vermint, Transportwege behindert und ganze Landstriche kontaminiert und verwüstet wurden und werden. Umweltaktivist*innen der Organisation Ecoaction weisen darauf hin, dass durch den Krieg bereits zehn Millionen Hektar landwirtschaftliche Flächen zerstört wurden.

Es ist wohl unbestritten, dass Russland mit seiner bisherigen Strategie sehr gezielt auch den landwirtschaftlichen Sektor der Ukraine treffen wollte, dem wirtschaftlich eine große Bedeutung zukommt. Doch seine Interessen hatten von Anfang an auch eine globale Dimension. So schrieb der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew im April auf Telegram, dass »viele Länder für ihre Ernährungssicherheit auf unsere Lieferungen angewiesen sind. Es stellt sich heraus, dass unsere Agrargüter unsere heimliche Waffe sind. Unauffällig, aber mächtig.«

Russland ist nicht das erste Land, das Lebensmittel auf diese Weise als »Waffe« einsetzt. Auch die von Saudi-Arabien angeführte Koalition, die hinter dem Krieg im Jemen steht, blockiert beispielsweise Häfen und verhindert dadurch, dass Lebensmittellieferungen die hungernden Jemenit*innen erreichen (obwohl die Blockade inzwischen gelockert wurde, besteht sie in Teilen des Nordens noch immer). Die äthiopische Regierung hat u.a. den Transport von Nahrungsmitteln in die Region Tigray eingeschränkt, um die Rebell*innen auszuhungern und zur Aufgabe zu zwingen. Syrien, Südsudan, Myanmar, Venezuela: Auch die Regierungen dieser Länder haben sich bereits dieser menschenverachtenden Strategie bedient.

Und wer profitiert von dieser Entwicklung? Es sind vor allem die transnational operierenden Unternehmen mit Sitz in Nordamerika oder Westeuropa, die im Rohstoffhandel und in der industriellen Lebensmittelverarbeitung aktiv sind.

Nicht zu vergessen die USA, die auf den Weltagrarmärkten bis heute die dominierende Rolle spielen. Ein Beispiel aus den 1970er Jahren illustriert dies. (1) Es zeigt nicht nur, dass Nahrungsmittellieferungen regelmäßig als strategische »Waffe« eingesetzt werden; mit der gezielten Platzierung ihrer Agrarüberschüsse, verbunden mit dem Druck, dass andere Staaten ihre Märkte für US-Agrarprodukte öffnen, haben die USA ab den 1950er Jahren auch jene strukturellen Abhängigkeiten geschaffen, unter denen viele Länder des Globalen Südens auch in der aktuellen Nahrungsmittelpreiskrise zu leiden haben.

Nahrungsmittel als Maßstab für Macht

Auf der ersten Welternährungskonferenz in Rom 1974 verkündete der damalige US-Agrarminister Earl Butz, dass »Nahrungsmittel ein Werkzeug sind. Sie sind eine Waffe im Verhandlungsgepäck der USA.« Senator Hubert Humphrey wurde noch deutlicher: »Nahrungsmittel verleihen Macht. In einem sehr realen Sinne sind sie unser besonderer Maßstab für Macht.« Als wichtigstes Instrument erwies sich in diesem Zusammenhang das bereits 1954 verabschiedete Food-for-Peace-Program (Public Law 480). Es ermächtigte die US-Regierung zur Entwicklungshilfe an bedürftige Länder, wurde aber – insbesondere unter US-Außenminister Henry Kissinger – vor allem für politisch-strategische Interessen eingesetzt. 

Zum Beispiel in Chile. Kurz vor dem Sturz der sozialistischen Allende-Regierung verweigerten die USA nicht nur Kredite für die dringend benötigte Nahrungsmittelhilfe; sie lehnten auch eine Anfrage Allendes, US-Weizen gegen Barzahlung zu kaufen, unter Hinweis auf »eine politische Entscheidung des Weißen Hauses« ab. Nach dem Militärputsch durch General Pinochet nutzte die US-Regierung – trotz gegenteiliger Beschlüsse des Kongresses – das Gesetz 480, um großzügige Finanzmittel und Lebensmittelspenden für Chile abzuzweigen. 

In ähnlicher Weise waren die USA auch in aus ihrer Sicht militärstrategisch wichtigen Ländern wie Südvietnam, Kambodscha und im Nahen Osten aktiv. Mit dem Food-for-Peace-Program erschlossen sich die USA mit Unterstützung der heimischen Agrarlobby darüber hinaus Absatzmärkte für ihre staatssubventionierten Agrarüberschüsse – vor allem für Weizen, aber auch für Baumwolle, Ölfrüchte oder Milchprodukte. Dies erzeugte in vielen Ländern des Globalen Südens »neokoloniale« Abhängigkeiten: Einerseits forcierten die Nahrungshilfen zu billigen Preisen den Wandel der bäuerlichen Landwirtschaft von der Subsistenz- und Binnenmarktproduktion von sogenannten Food Crops zur Weltmarktproduktion von Cash Crops. Andererseits trieben sie den Wandel von regional angepassten zu »westlich« standardisierten Ernährungsstilen voran. Erst im Zuge dieser Politik gerieten Länder im Nahen Osten und Nordafrika in jene »Weizenabhängigkeit«, die ihnen in diesen Tagen (erneut) zum Verhängnis wird. 

Und wer profitiert von dieser Entwicklung? Es sind vor allem die transnational operierenden Unternehmen mit Sitz in Nordamerika oder Westeuropa, die im Rohstoffhandel und in der industriellen Lebensmittelverarbeitung aktiv sind. (2)Darunter Dreyfus aus den Niederlanden oder das US-Unternehmen Cargill; beide sind in den letzten Monaten durch gezielte Nutzung der »Spekulation mit dem Hunger« in den öffentlichen Fokus geraten.

Eva Gelinsky

ist Geografin, Agraraktivistin und Redaktionsmitglied bei emanzipation. Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.

Anmerkungen:

1) North American Congress on Latin America (NACLA): Weizen als Waffe. Die neue Getreidestrategie der amerikanischen Außenpolitik. Reinbek b. Hamburg 1976.

2) Vier Konzerne dominieren den Im- und Export von Agrarrohstoffen: Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill und die Louis Dreyfus Company. Gemeinsam sind sie als »ABCD-Gruppe« oder »ABCD« bekannt.