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Wenn die Truppen bleiben

Deutschland lässt seine Soldat*innen in Afghanistan und schiebt weiter in das Land ab

Von Jürgen Wagner

Militärfahrzeug der Bundeswehr in Afghanistan
Sie bleibt noch etwas: die Bundeswehr in Afghanistan. Foto: ISAF Headquarters Public Affairs Office / Wikimedia , CC BY 2.0

Am 24. Februar beschloss das Bundeskabinett, die deutsche Beteiligung am Nato-Einsatz Resolute Support in Afghanistan mindestens bis Januar 2022 zu verlängern. Das ist allein schon aus dem Grund bemerkenswert, dass alle westlichen Truppen gemäß der Vereinbarung zwischen den USA und den Taliban vom 29. Februar vergangenen Jahres bis April 2021 aus Afghanistan hätten abziehen sollen. Der Abzug wurde aber an diverse Bedingung geknüpft, insbesondere an eine spürbare Reduzierung der Gewalt im Lande. Die USA und in deren Gefolge die deutsche Regierung argumentierten nun, da dies nicht der Fall sei, müssten die Soldat*innen weiter im Land stationiert bleiben. Auf der Seite der Bundesregierung hieß es dazu: »Bis zu 1.300 bewaffnete Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sollen sich weiterhin an der Nato-geführten Mission Resolute Support in Afghanistan beteiligen. Sie sind für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung afghanischer Verteidigungs- und Sicherheitskräfte im Land zuständig.« Aus Sicht der Bundesregierung seien die Voraussetzungen für einen vollständigen, verantwortungsvollen Abzug zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gegeben.

In der Tat ist die Situation in Afghanistan katastrophal, wie unter anderem aus einer Pressemitteilung von Pro Asyl hervorgeht: »Laut dem stellvertretenden UN-Chef für humanitäre Hilfe hat sich die Zahl der Menschen in Not in Afghanistan von 9,4 Millionen Anfang 2020 auf 18,4 Millionen im Jahr 2021 verdoppelt – bei einer Bevölkerung von 40,4 Millionen. Vier von zehn Menschen hungern aktuell.« Auch gibt es kein Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen. Afghanistan ist laut dem Global Peace Index von 2020 zum zweiten Mal in Folge das unsicherste Land der Welt.

Im Jahr 2019 seien mindestens 700 Zivilist*innen bei Luftangriffen gestorben – die höchste Zahl von getöteten Zivilist*innen innerhalb eines Jahres seit Beginn des Krieges vor rund 20 Jahren.

Konkret starben im Jahr 2020 3.378 Sicherheitskräfte und 1.468 Zivilist*innen bei Kriegshandlungen in Afghanistan. Ein erheblicher Teil der getöteten Zivilist*innen geht dabei auf das Konto der geänderten US-Kriegsführung, wie aus einer Untersuchung des Costs-of-War-Projektes der Brown-University in Providence (Rhode Island) hervorgeht. Dazu heißt es in einer Analyse der Informationsstelle Militarisierung: »Aus der im Dezember 2020 veröffentlichten Studie ›Afghanistan’s Rising Civilian Death Toll Due to Airstrikes, 2017-2020‹ von Prof. Neta Crawford geht hervor, dass das Pentagon seine Einsatzregeln für Luftangriffe im Jahr 2017 lockerte und in Folge dessen die Anzahl der Luftangriffe um ganze 330% stieg und damit auch die Zahl der zivilen Todesopfer.« Einen Grund dafür sehe Crawford in der Reduzierung der US-amerikanischen Bodentruppen vor Ort und einen zweiten in der jahrzehntelangen Annahme in den USA, somit eine bessere Ausgangsposition am Verhandlungstisch einnehmen zu können. Im Jahr 2019 seien mindestens 700 Zivilist*innen bei Luftangriffen gestorben – die höchste Zahl von getöteten Zivilist*innen innerhalb eines Jahres seit Beginn des Krieges vor rund 20 Jahren.

Nach zwei Jahrzehnten westlicher Kriegsführung gilt Afghanistan also weiter als ein unsicheres, wenn nicht das unsicherste Land der Welt. Noch länger dort Truppen stationiert zu lassen, wird daran nichts ändern, im Gegenteil. Unmittelbar nach der US-Ankündigung, den Einsatz fortsetzen zu wollen, konnte man auf der Website der Tagesschau.de lesen: »Während die neue US-Regierung das Friedensabkommen mit den Taliban vom Februar vergangenen Jahres und die damit verbundenen Pläne zum Abzug der US-Truppen aus Afghanistan neu bewertet, haben die Taliban mit einem ›großen Krieg‹ gedroht.« Taliban-Sprecher Suhail Shaheen sagte bei einer Pressekonferenz in Teheran: »Die USA haben eine Vereinbarung mit uns geschlossen. Vier Jahre haben wir darüber verhandelt. Und jetzt wollen sie das Ergebnis neu bewerten? Sie müssen sich aber trotzdem an ihre Zusagen halten. Wenn die USA ihre Truppen nicht – wie in Doha zugesagt – innerhalb von 14 Monaten abziehen, dann werden wir das Abkommen auch neu bewerten.«

Leider ist natürlich nicht davon auszugehen, dass sich die Verhältnisse in Afghanistan nach einem Truppenabzug von heute auf morgen wesentlich verbessern werden. Zwei Dinge scheinen in jedem Fall dennoch recht eindeutig: Erstens, dass die westlichen Truppen nun 20 Jahre hinlänglich Zeit hatten, unter Beweis zu stellen, dass sie ein Teil des Problems und nicht der Lösung für die katastrophale Lage im Land sind. Und zweitens wird die Situation in Afghanistan nicht zuletzt durch die Schuld des Westens noch lange extrem schwierig bleiben, sodass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, Menschen aus Afghanistan Asyl zu gewähren. Stattdessen wird seit 2016 fleißig nach Afghanistan abgeschoben. Zuletzt berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland am 10. Februar von der 36. Sammelabschiebung seit dem ersten derartigen Flug im Dezember 2016. Damit hätten Bund und Länder bisher 989 Männer abgeschoben.

Unmittelbar nach Beginn der deutschen Sammelabschiebungen fasste die FAZ (18.12.2016) das dahinterstehende menschenverachtende Kalkül »treffend« zusammen: »Wenn wir keine Flüchtlinge nach Afghanistan zurückschicken könnten, dann wäre der inzwischen schon anderthalb Jahrzehnte währende und gerade erst verlängerte Bundeswehreinsatz dort vergeblich gewesen – mit all seinen menschlichen und finanziellen Opfern. Es wäre das Eingeständnis eines Scheiterns, das die Bundesregierung unbedingt vermeiden will.« Und die FAZ nannte noch einen weiteren Grund, der sich bei einem Blick in die Statistiken erschließe, die zumindest eine ungefähre Auskunft über Bildungsstand und Integrationschancen der Flüchtlinge geben. »Sie zeigen, dass viele Afghanen deutlich schlechtere Voraussetzungen mitbringen als die Mehrzahl der Syrer oder Iraker.«

Heute ist man einen gehörigen Schritt weiter: Faktisch wird das Scheitern durch den Verweis auf die Sicherheitslage eingestanden, aber Deutschland schiebt einfach dennoch weiter ab.

Jürgen Wagner

ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.