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Über kurz oder lang

In den Zusammenfassungen zum Weltklimaratbericht fiel Wachstumskritik unter den Tisch

Von Guido Speckmann

Im September 2021 leakten die Scientists for Future einen Teil des neuen Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPPC). Sie hatten Sorge, dass die Politik den »systemkritischen« Gehalt des Berichts verwässern wird. So könnte die Aussage kassiert werden, dass das Wirtschaftswachstum unseren Planeten zerstöre. Ihre Befürchtungen waren nicht unbegründet. Denn die Praxis bei der Erstellung der IPPC-Berichte ist komplex. Über Jahre werten Hunderte Wissenschaftler*innen Tausende Studien zum Klimawandel aus und fassen diese auf Tausenden von Seiten zusammen. Und zum Schluss beraten Politiker*innen aller 195 Mitgliedsregierungen über Zusammenfassungen für die Entscheidungsträger*innen. Vorteil: Die Politik muss sich intensiv mit dem Gesamtbericht auseinandersetzen. Nachteil: Sie kann entscheiden, was in der Zusammenfassung unter den Tisch fällt. 

Ende Februar wurde der zweite Teil des sechsten IPPC-Berichts veröffentlicht. Zentrale Aussage: Die Folgen des Klimawandels sind noch katastrophaler als angenommen. Anfang April erschien dann der dritte und vorab geleakte letzte Teil. Er befasst sich mit der voraussichtlichen Entwicklung der globalen Erwärmung bis zum Jahr 2100 und damit, wie Emissionen verringert werden können. 

In der Kurzfassung ist von Systemkritik tatsächlich keine Rede mehr. Im Gegenteil, alle Szenarien gehen davon aus, dass die Minderung der Emissionen bei Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) möglich ist. Insofern haben die Scientists for Future einerseits Recht behalten. Andererseits hat die Wachstumskritik in der exakt 2.913 Seiten starken Langfassung des dritten Teils tatsächlich Einzug gehalten. (Auch im zweiten Teil war sie bereits enthalten.) Der englische Begriff »Degrowth« taucht knapp 30 Mal auf. An einer Stelle heißt es: »Auch die Degrowth-Bewegung mit ihrem Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit statt Rentabilität hat das Potenzial, den Wandel durch alternative Praktiken wie die Förderung des Austauschs nichtmonetärer Güter und Dienstleistungen zu beschleunigen.« Zudem werden Studien angeführt, die zeigen, dass nur mit einem geringeren BIP das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen ist.

Nur: Leider spielte die komplette Fassung in der Medienberichterstattung kaum eine Rolle, fast alle bezogen sich auf die Zusammenfassung. Zwar kommt auch in dieser zur Sprache, dass Emissionsreduktionen nur gelingen, wenn Finanzmärkte und Ökonomien umgestaltet werden und alle verfügbaren Instrumente angewendet werden. Aber im Wesentlichen wird der Common Sense in der Klimapolitik wiedergegeben: Die Lage ist verdammt ernst, aber nicht hoffnungslos. Die Instrumente zum effektiven Klimaschutz seien da, müssten nur rascher angewendet werden. Mit neuen Technologien, Energieeffizienz sowie dem Ausbau erneuerbarer Energien können bis 2050 die Treibhausgas-Emissionen um 40 bis 70 Prozent reduziert werden. Die einzelnen Szenarien setzen dabei alle darauf, dass der Atmosphäre wieder Emissionen entzogen werden. Die Nachteile dieses Ansatzes liegen aber auf der Hand: Sie setzen nicht an der Ursache – der Entstehung der Treibhausgase in der Industrie oder im Verkehr – an. CO2 soll nach der Emission unter hohem Energieaufwand herausgefiltert und in der Erde verpresst werden. Methoden, die im großen Maßstab ihre Funktionalität noch nicht bewiesen haben. 

Es fällt auf, was in der Zusammenfassung nicht thematisiert wird: Deutliche Emissionsreduktionen gab es bis dato nur, als das BIP wie 2009 und 2020 zurückging. Denn das Setzen auf Energieeffizienz und neue Technologien in kapitalistischen Ökonomien führt nur sehr bedingt zu Einsparungen von Ressourcen, sondern zu sogenannten Rebound-Effekten. Unternehmen nutzen Effizienzgewinne nicht, um ihren Ausstoß bei geringerem Input zu verringern, sondern sie vergrößern ihn angesichts des Renditezwangs. An dieser Stelle offenbart sich auch eine Schwäche des kompletten Berichts. Zwar mag die Wachstumskritik erstmals in ihm Einzug gehalten haben, aber nicht die Kapitalismuskritik. Das Wort »capitalism« findet sich lediglich in den Fußnoten. Das ist auch ein Problem der Degrowth-Bewegung, die oft vor Kapitalismuskritik zurückscheut.

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.