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|ak 690 | International

Schweigen, Flüstern, Aufsteigen

Ein Jahr nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine ist das Putinsche Herrschaftssystem stabil – zerbrechen könnte es höchstens an den eigenen Widersprüchen

Von Katja Woronina

Putin im Jahr 2010 mit Jewgenij Prigoschin, Unternehmer und Chef der u.a. in der Ukraine eingesetzten Söldnertruppe Wagner. Foto: Government of the Russian Federation, CC BY 3.0 / Wikimedia

Große historische Momente sind in Russland Chefsache: Nach einem Jahr Krieg will Wladimir Putin endlich wieder seine traditionelle Rede vor der Föderationsversammlung halten. 2022 musste sie kriegsbedingt ausfallen – zu dynamisch seien die Ereignisse gewesen, um Ergebnisse und konkrete Pläne für die nahe Zukunft festzuhalten, begründete der russische Präsident im vergangenen Dezember diesen Umstand. Seither sind die Chancen Russlands, einen militärischen Sieg gegen die Ukraine zu erringen, zwar nicht gestiegen, dafür aber die Aussichten auf eine erneute russische Offensive. Ob Putin mit einer richtungsweisenden Botschaft aufwartet, wird mit Spannung erwartet. Von Niederlagen, Versäumnissen und fatalen Fehlentscheidungen wird am 21. Februar jedenfalls nicht die Rede sein.

Am Tag darauf wird Putin vor großer Runde im Moskauer Stadion Luschniki auftreten. Kein Jahrestag läuft ohne Massenveranstaltung ab, nur scheinen sich die Konjunkturverhältnisse zumindest in finanzieller Hinsicht verändert zu haben. Wo im Herbst auf einschlägigen Jobportalen umgerechnet noch rund zwanzig Euro für die Teilnahme an einem ähnlichen Spektakel anlässlich des erzwungenen Beitritts von vier ukrainischen Regionen zur Russischen Föderation angeboten wurden, beträgt das in Aussicht gestellte Honorar jetzt nur noch ein Drittel dieser Summe. Wer im öffentlichen Dienst tätig ist, wird zur unbezahlten Teilnahme aufgefordert, am besten mit der Familie im Schlepptau.

Vom Zusammenbruch weit entfernt

An Geld für publikumsträchtige Maßnahmen mangelte es bislang nicht. Der mediale Propagandaapparat erhält üppige Zuschüsse, an der einen oder anderen Stelle wird hingegen der Sparstift angesetzt. Der Staatshaushalt wies zu Jahresbeginn ein historisches Minus von 23 Milliarden Euro auf. Zurückführen lässt sich dieses auf den ersten Blick horrende Defizit zu einem guten Teil auf schwindende Einkommen aus dem Rohstoffgeschäft durch Preisverfall am Markt und den deutlich rückläufigen Gasexport. Doch handelt es sich hier auch um die rechnerische Folge einer haushaltstechnischen Umverteilung der Ausgaben für staatlich erteilte Großaufträge. So wurden zahlreiche Vertragsabschlüsse in der kriegsbedingt prioritär behandelten Rüstungsproduktion auf den Januar vorgezogen, anstatt diesen Prozess auch auf die Folgemonate auszudehnen.

Trotz offensichtlich sanktionsbedingter Einbußen ist die russische Wirtschaft von einem Zusammenbruch weit entfernt (ak 689). Über das Jahr wurden neue Importwege erschlossen, beispielsweise für notwendige Produktionsgüter wie Mikrochips, und alternative Absatzmärkte für den Rohstoffexport ausgebaut. Russische Unternehmen profitierten zudem vom Weggang der ausländischen Konkurrenz, wie sich aus statistisch erhobenen erheblichen Einkommenszuwächsen ergibt. Selbst die Löhne sind in manchen Sparten gestiegen, während die Realeinkommen im Durchschnitt 6,5 Prozent unter den vor zehn Jahren, also vor der Krim-Annexion, gemessenen liegen. Auf die Einhaltung sozialer Verpflichtungen legt der Staat im Übrigen großen Wert – auch wenn Sozialleistungen insbesondere jenen zugutekommen sollen, die gegen die Ukraine kämpfen.

Lange Rede, kurzer Sinn: In ökonomischer Hinsicht kann sich, wer will, einreden, dass die allgemeine Lage nicht wirklich dramatisch sei. Angehörige älterer Generationen haben in ihrem Leben schon wesentlich herbere materielle Verluste hinnehmen müssen, während der Großteil der russischen Bevölkerungen ohnehin nie zu Wohlstand gekommen ist. Wer sich politischen Auseinandersetzungen lieber entziehen möchte, kann sich auf den Konsum staatlicher Medieninhalte beschränken oder auch darauf verzichten. Die große Mehrheit darf getrost so tun, als gehe sie die mit wechselnder Wortwahl vorgegebene Linie und selbst das Kriegsgeschehen persönlich nichts an. Wer schweigt, ist immer auf der sicheren Seite – sicher auch vor Denunziation. Denn natürlich gibt es Kriegsanhänger*innen, die zwar keinen messbaren Profit aus dem Angriffskrieg schlagen, dafür aber Menschen mit konträren Ansichten das Leben schwer machen.

Fragmentiert und vereinzelt

Die Teilmobilmachung war in gewisser Hinsicht eine Zäsur, rief sie doch immerhin passiven Widerstand hervor. Dass die lauten Stimmen kriegsbegeisterter Scharfmacher*innen allseits präsent sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einberufung zum Wehrdienst nur ein gewisser Teil aus Überzeugung oder Enthusiasmus folgt. Im Herbst war es schwer, Gesprächsfetzen im Vorbeigehen oder am Nebentisch in Cafés und sonstigen öffentlichen Orten zu ignorieren, die sich fast ausschließlich darum drehten, wie mit dem staatlichen Verlangen nach Soldaten zur Verstärkung an der Front umzugehen sei. Während an der Peripherie und in vielen ländlichen Gebieten Menschen unter Gewaltanwendung von zu Hause abgeholt wurden, boten und bieten sich auch jetzt noch in den Großstädten vielfache Optionen zum Untertauchen.

Während in vielen ländlichen Gebieten Menschen unter Gewaltanwendung von zu Hause abgeholt wurden, bieten sich in den Großstädten vielfache Optionen zum Untertauchen.

Dass in einer Metropole wie Moskau die Menschen aus ganz Russland und aus den südlichen ehemaligen Sowjetrepubliken mit ihren Verdienstmöglichkeiten lockt, nur ein geringer Prozentsatz bereit ist, den eigenen recht komfortablen Alltag gegen einen schlammigen Schützengraben einzutauschen, erkannten die lokalen Behörden schnell. Bürgermeister Sergej Sobjanin erklärte folgerichtig die Rekrutierung vorzeitig für beendet – noch bevor die Teilmobilmachung offiziell landesweit vorübergehend eingestellt wurde. Kriegssymbolik wie die Buchstaben Z und V erhielten im Internet inflationäre Verbreitung, in der russischen Hauptstadt waren sie von Beginn an nur eine visuelle Randerscheinung. In St. Petersburg prangt hingegen nach wie vor ein Z auf Reklameschildern in fast jeder Metrostation. Das Oppositionsnachrichtenportal Medusa fand im Übrigen heraus, dass Behördenvertreter*innen in den Regionen kaum in der Lage sind, deren Genese und exakte Bedeutung wiederzugeben. Daran scheint sich niemand zu stören.

Aus der aktiven Phase der Teilmobilmachung im Herbst hat das Verteidigungsministerium seine Lehren gezogen. Zu viel Unzufriedenheit drang an die Öffentlichkeit über die rigorose Art der Einberufung, die Zustände an der Front und den Umgang mit den frisch eingezogenen Soldaten. Ein Problem bestand darin, dass die Militärkommissariate über eine veraltete Datenbasis verfügten und allein schon deshalb längst nicht aller potenziell Wehrpflichtiger habhaft werden konnten. Dieses Defizit wird nun mit hohem personellen Aufwand im Schnellverfahren behoben, ohne öffentliches Aufsehen zu erregen. Unternehmen sind angehalten, genau zu begründen, weshalb sie für den einen oder anderen Angestellten eine Rückstellung beantragt haben. Kleinere Firmen versuchen, dem Meldegebot nicht nachzukommen, denn jeder an die Armee verlorene Mitarbeiter wirkt sich unmittelbar auf interne Arbeitsabläufe aus. Aus dieser Verweigerungshaltung entsteht allerdings keine Bewegung. Für ein koordiniertes Vorgehen ist die russische Gesellschaft viel zu sehr fragmentiert und von Vereinzelung geprägt.

Aus der Teilmobilmachung im Herbst hat das Verteidigungsministerium seine Lehren gezogen.

Im Übrigen steht es um die Zustände in den russischen Eliten ähnlich desolat. Nach Kriegsbeginn wurde viel über die Perspektiven einer Palastrevolution spekuliert, doch passiert ist nichts. Nur wenige russische Superreiche, wie der im Ausland lebende Milliardär Michail Fridman, Haupteigentümer der Holding Alfa-Group, warteten mit im Ansatz kriegskritischen Tönen auf, ohne allerdings mit dem russischen Herrschaftssystem zu brechen. Grob lässt sich die russische Elite in Patriot*innen, Abwartende und sich Anpassende aufteilen. Ihr fehlt offensichtlich sowohl der Wille als auch der notwendige Organisationsgrad, um jenseits des vorgegebenen politischen Rahmens Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Nur die erste Kategorie – einen harten Kurs forcierende Kräfte in der Duma und anderen Institutionen des Machtapparats – befindet sich konjunkturbedingt im Aufwind. Ohne ihre Stütze ließe sich der langwierige Krieg in der Ukraine gar nicht umsetzen. Die russische Führung dankt es ihnen: Ab dem 1. März sind Abgeordnete aller Ebenen – von der Staatsduma bis hin zu Regionalvertretungen – offiziell von der Pflicht entbunden, ihre Einkommensverhältnisse offenzulegen mit der Begründung, auf diese Weise den Personendatenschutz sicherzustellen.

Bestenfalls Wunschvorstellungen

Nach dem aktuellen Trend ist kein noch so absurd klingendes Verbot Tabu, dabei wird längst nicht jeder durch Abgeordnete artikulierte Vorschlag am Ende umgesetzt. So sprach sich das Finanzministerium beispielsweise jüngst gegen eine höhere Besteuerung von russischen Staatsangehörigen aus, die sich nach Kriegsbeginn ins Ausland abgesetzt haben. Dabei führen sie heftige Debatten, die sogar mit Forderungen nach Beschlagnahmung ihres Eigentums und der Todesstrafe für besonders aktive Staatskritiker*innen einhergehen. Jewgenij Prigoschin mit seiner äußerst brutal vorgehenden Wagner-Gruppe ist wiederum der Inbegriff eines kriegsbedingten Aufsteigers, dabei bleibt ihm bis heute die formale staatliche Anerkennung verwehrt: Nach wie vor agiert seine Söldnertruppe im rechtsfreien Raum.

Ob Prigoschin als politischer Akteur oder Mann fürs Grobe in Zukunft Verwendung finden wird, ist nicht absehbar. Genauso wenig, wie aktuell eine Niederlage definiert werden müsste, die Russland zur Beendigung der Kriegshandlungen zwingen könnte. Solange Putin an der Macht ist, scheint es jedenfalls keine realistischen Optionen dafür zu geben. Über das »Danach« wird in Russland prinzipiell nicht laut nachgedacht, in der vom Ausland aus agierenden russischen Opposition finden sich dazu wiederum bestenfalls vage Wunschvorstellungen: Die einen sähen Putin gerne auf der Anklagebank vor dem internationalen Kriegsgerichtshof, andere träumen von freien Wahlen in Russland als Ergebnis einer harten Verhandlungslinie der USA und der Europäischen Union nach einer russischen Kriegsniederlage. Dem möchte man entgegnen, dass das auf einer eigenartigen Mischung aus kontrollierter Trägheit und dynamischem Hang zur Improvisation aufbauende Putinsche Herrschaftssystem im optimalen Fall an seinen inneren Widersprüchen zerbricht. Wer sich jetzt an ernsthaften Prognosen versucht, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, nur so viel: Russland war schon oft für Überraschungen gut.

Katja Woronina

ist Journalistin und lebt in Moskau.

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