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Der Wahlausgang straft den erhofften Wandel als Wunsch­denken ab

Eine erneute Amtszeit von Erdoğan ist gut möglich, das türkische Parlament rückt weiter nach rechts

Von Svenja Huck

Eine Person mit rotem T-Shirt, in der rechten Hand ein Megaphon, neben ihr andere Personen in roten Westen, die ein Banner tragen, im Hintergrund ein Wahlplakat mit einem Mann im Anzug
Überall gegen den Präsidenten zu moblisieren, das hat die Linke verpasst. Gewerkschaften am 1. Mai in Istanbul. Foto: Svenja Huck

Als »Schicksalswahl« wurde die Abstimmung über das Parlament und den Präsidenten in der Türkei am vergangenen Sonntag bezeichnet. Dabei war es kein Schicksal, sondern die bewusste Entscheidung von rund 64 Millionen Stimmberechtigten, wer in Zukunft über die Politik des Landes entscheiden wird. Nach 21 Jahren AKP-Herrschaft sah es zum ersten Mal danach aus, als hätte die bürgerliche Opposition eine realistische Chance auf die Übernahme der Regierung.

Am Sonntagabend waren folglich alle Augen auf die Präsidentschaftswahl gerichtet, die die Opposition und ihr Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu gerne in der ersten Runde gewonnen und beendet hätte. Stattdessen zog sich über Stunden ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu hin, bei dem, je nach Fernsehkanal und Nachrichtenagentur, einer von beiden in Führung lag. Doch die Ergebnisse, die am Montagmorgen feststanden, waren ernüchternd. Beide Kandidaten kamen auf unter 50 Prozent der Stimmen, und somit war klar: Am 28. Mai wird es zur Stichwahl kommen.

Bei der Parlamentswahl kam die Cumhur İttifakkı, das Bündnis aus AKP, MHP und anderen kleinen, extrem rechten Parteien, 49,69 Prozent – und lag damit ganze 14,4 Prozent vor der Millet İttifakkı, dem Sechsertisch angeführt von Kılıçdaroğlus CHP. Zwar hat die AKP fast sieben Prozent verloren im Vergleich zur letzten Wahl 2018, und auch ihr Partner, die ultranationalistische MHP, verlor an Stimmen. Doch der neue Bündnispartner, die islamisch-konservative Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei) von Fatih Erbakan, bescherte der Allianz 2,8 Prozent der Stimmen – für eine neue Partei keine geringe Zahl. Insgesamt hat die Cumhur İttifakkı zwar knapp die Mehrheit im Parlament verpasst – aber wer braucht schon ein Parlament, wenn er einen Präsidenten mit weitreichenden Befugnissen hat.

Rechter Präsident, rechtes Parlament

Die Hoffnung der Opposition, der Linken und Kurd*innen im Land, die Wahl im ersten Durchgang zu entscheiden, entsprang nicht nur dem Wunsch nach schneller Veränderung. In der Vergangenheit waren die Monate und Wochen zwischen wiederholten Wahlen geprägt von Bomben-Attacken und Inhaftierungen derjenigen, die sich gegen eine AKP-Regierung stellten. Zwar herrschte dieses Mal auch im Vorfeld Sorge davor, dass es bei einer Stichwahl zu ähnlichen Angriffen kommen könnte, doch soweit aktuell abschätzbar scheint dies eher unwahrscheinlich. Noch befindet sich die Opposition in einer Art Schockstarre, nachdem so gut wie alle Umfrageinstitute ihren Sieg vorausgesagt hatten. Dass Erdoğan doch fünf Prozent Vorsprung und gute Aussichten auf die Stimmen des nun ausgeschiedenen dritten Kandidaten Sinan Oğan hat, macht massive Angriffe auf die Opposition in den kommenden Tagen überflüssig. Die AKP wird außerdem auf die Unterstützung der nationalistischen IYI-Parti hoffen, die zwar Teil des Oppositionsbündnisses ist, jedoch dort immer wieder die Grenzen nach rechts verschoben hat.

Bereits jetzt steht fest, dass die Wahl statt des erhofften demokratischen Wandels eine weitere Konsolidierung des rechten Lagers zur Folge haben wird. Das Parlament ist nun ein Sammelbecken für Rechte aller Couleur.

Bereits jetzt steht fest, dass diese Wahl anstelle des von vielen erhofften demokratischen Wandels, eine weitere Konsolidierung des rechten Lagers in der Türkei zur Folge haben wird. Der Einzug von Parteien wie HÜDA-PAR, politischer Arm der verbotenen islamistischen Hizbullah, oder auch der Einzug von Abgeordneten der DEVA und Gelecek-Partei, Abspaltungen der AKP, über die Liste der CHP machen das Parlament zu einem Sammelbecken der Rechten unterschiedlicher Couleur. Das dominierende Bündnis aus AKP und MHP wird zwar immer wieder um Mehrheiten werben müssen, doch gleichzeitig ist ihnen Erdoğan als Präsident so gut wie sicher.

Die Niederlage der Opposition wird die Millet İttifakkı in den nächsten Monaten beschäftigen, zumal sich alle großen und kleinen Bündnispartner im Wahlkampf als äußerst siegessicher gezeigt hatten. Zu wünschen wäre, dass in der CHP das Zusammenrücken mit islamistischen und nationalistischen Parteien kritisch betrachtet und das Bündnis mit den Konservativen aufgekündigt wird. Die Strategie, einen kitschigen, aber inhaltsleeren Wahlkampf mit abstrakten Versprechen nach mehr Demokratie zu führen, während die Regierung konkrete finanzielle Entlastungen ankündigte, ging nicht auf.

Wie schneidet die Linke ab?

Ein historisch schlechtes Ergebnis fuhr landesweit die Yesil Sol Parti (YSP) mit 8,8 Prozent ein, unter deren Namen die HDP und andere linke Parteien antraten. Sie wurde auf ihre Stammwähler*innenschaft zurückgeworfen. Das Bündnis, dem sie angehört, die Emek ve Özgürlük İttifakkı, hatte bereits früh entschieden, keinen eigenen Kandidaten im Präsidentschaftswahlkampf aufzustellen, sondern Kılıçdaroğlu zu unterstützen. Somit wurde die Chance vertan, eigene Forderungen deutlicher zu machen und sich vom führenden Oppositionsbündnis abzugrenzen. Überraschend erfolgreich und weit über ihren eigenen Erwartungen lag hingegen die TİP, Arbeiter*innenpartei der Türkei, die ihre bisherige Anzahl von vier Abgeordneten im Parlament wieder erreichen konnte. Neben den drei bisherigen Abgeordneten Ahmet Şık, Sera Kadıgil und dem Parteivorsitzenden Erkan Baş erlangte auch Can Atalay ausreichend Stimmen in der vom Erdbeben am schlimmsten getroffenen Provinz Hatay, dafür zog der vorige TIP-Abgeorndete Baris Atay nicht ins Parlament. Atalay wurde vergangenes Jahr während des Gezi-Prozesses verurteilt und ist seitdem inhaftiert. Nun wird erwartet, dass das gewonnene Mandat zu seiner Haftentlassung führt.

Dass die Yesil Sol Parti vergleichsweise schlecht abschnitt, während die TİP in einigen, traditionell linken Bezirken sogar zweitstärkste Kraft wurde, verhärtet die Fronten innerhalb der Emek ve Özgürlük İttifakkı. Bereits vor der Wahl wurde kritisiert, dass die TİP mit einer eigenen Kandidat*innenliste antreten würde. Doch anstatt der Yeşil Sol Parti Stimmen zu klauen, wie nun von einigen behauptet wird, hat die TİP die Unterstützung derjenigen gewonnen, die bis dato keiner politischen Partei angehörten oder eher die CHP gewählt hätten. Dass die HDP-Wähler*innenschaft abgenommen hat, liegt auch an internen Problemen, beispielsweise der Auswahl von Kandidat*innen ohne lokale Verankerung in ihren Wahlkreisen. Allein mit dem Erfolg der TİP ist das Phänomen jedenfalls nicht zu erklären. Besonders stark konnte die YSP jedoch ihre Wähler*innenschaft für den Präsidentschaftskandidaten der Opposition mobilisieren. In mehrheitlich kurdischen Provinzen wie Şırnak, Diyarbakır und Dersim erhielt Kılıçdaroğlu bis zu 70 Prozent der Stimmen – mehr als beispielsweise in der für ihre kemalistische Tradition bekannte Stadt Izmir.

Wahlen im Erdbebengebiet

Nach den schweren Erdbeben, bei denen Anfang Februar in elf Provinzen der Türkei Zehntausende ihr Leben und Millionen Menschen ihre Unterkunft verloren hatten, wurde öffentlich das Versagen der Regierung vor Ort und anschließend auch die Baupolitik der AKP kritisiert. Dass dies automatisch zu einer Veränderung im Wähler*innenverhalten in AKP-Hochburgen wie Adiyaman oder Maras führen würde, war jedoch zu bezweifeln. Genau dies spiegelte sich nun auch in den Wahlen wieder. In den Städten, die bisher für die AKP und Erdoğan gestimmt haben, lag auch dieses Mal die amtierende Regierung vorne. Auch in Hatay, einer Provinz, die sich durch ihre kulturelle und religiöse Diversität auszeichnet und die von den Erdbeben am schwersten betroffen ist, siegte die AKP. Nur in einzelnen Bezirken wie Defne und Samandağ, in denen mehrheitlich arabische Alevit*innen leben, gewann die Opposition haushoch.

Auch in Hatay, einer Provinz, die sich durch kulturelle und religiöse Diversität auszeichnet und von den Erdbeben am schwersten betroffen ist, siegte die AKP.

Dass sich bis zum 28. Mai das Blatt noch einmal entscheidend wenden wird und mehr als sechs Prozent der Wähler*innen sich für den Kandidaten der Opposition entscheiden, scheint aktuell kaum realistisch. Vielmehr sollte man sich auf eine weitere Legislaturperiode der AKP und Erdoğans einstellen sowie auf ein Parlament, das noch mehr von rechts dominiert ist als bisher schon.

Doch die Krise, sowohl die ökonomische als auch die politische, wird durch diese Wahl keineswegs gelöst – im Gegenteil. Umso wichtiger ist es, sich in Erinnerung zu rufen, was viele Linke bereits vor den Wahlen immer wieder betonten: Der Fokus auf einen einzigen Abstimmungstag reicht nicht aus, um breite gesellschaftliche Veränderung zu erwirken. Dass linke Parteien wie die TİP den Wahlkampf nutzen konnten, um Menschen erstmals politisch zu organisieren, ist zumindest ein Hoffnungsschimmer.

Ende des Monats jähren sich außerdem die Gezi-Proteste, die vor zehn Jahren das ganze Land in Euphorie versetzt und gezeigt hatten: Die Regierung wird durch Mobilisierung auf der Straße zum Erzittern gebracht, nicht im Parlament. Statt die Bevölkerung in der Türkei nun für dumm oder gar unmenschlich zu erklären, weil eine Mehrheit wieder für die AKP gestimmt hat, ist es die Aufgabe der Linken, eine kampfstarke Bewegung zu mobilisieren, die den Menschen nicht nur ihre Hände in Herzchenform entgegenstreckt, sondern ihren Unmut bündelt und zurückschlägt.

Svenja Huck

promoviert an der FU Berlin zu Istanbuler Arbeiter*innengeschichte und arbeitet als freie Journalistin hauptsächlich zur Türkei. Sie lebt in Berlin und Istanbul.

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