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Macht statt Mitbestimmung

Was steckt hinter den unvermittelt und kurzfristig ausgerufenen Wahlen in Syrien?

Von Charlotte Tinawi

Menschenmenge in der Dämmerung auf einem zentralen Platz in Damaskus, Syrien
Neun Monate nach Assads Sturz soll gewählt werden. Menschenmenge in Damaskus am 9. Dezember 2024, dem Tag nach dem Ende des Regimes. Foto: Ahmed akacha / Pexels

Die syrische Realität der vergangenen acht Monate ist geprägt von komplexen Dynamiken, plötzlichen Wendungen und vielschichtigen, teils widersprüchlichen Prozessen. Eskalationen wechseln sich mit Momenten fragiler Stabilität ab, während diverse Akteur*innen ihre Interessen verfolgen. Ende Juli setzte die Übergangsregierung in Damaskus für den Zeitraum zwischen dem 15. und 20. September Parlamentswahlen an, was international gemischte Reaktionen hervorrief. Die Wahlen sollen zu einem Zeitpunkt stattfinden, da die Gräben zwischen den Regierungskräften mit ihren größtenteils sunnitischen Unterstützer*innen und den alawitisch, kurdisch und drusisch dominierten Kräften massiv eskaliert und diejenigen Teile aller Gruppen, die für einen echten politischen Wandel eintreten und die sektiererischen und gewaltvollen Dynamiken ablehnen, zunehmend marginalisiert sind.

Offiziell wurden die Wahlen als ein wichtiger und pragmatischer Schritt in Richtung politische Stabilität, Erneuerung und nationale Versöhnung vermarktet. Die breitere syrische Bevölkerung scheint die Nachricht kaum ernst zu nehmen, ähnlich wie frühere Wahlen unter dem Assad-Regime. Ob sie zu diesem Zeitpunkt wirklich die Kräfteverhältnisse in Syrien abbilden sollen und förderlich sind für die sehr fragile Entwicklung hin zu einem inklusiven und pluralen System, ist fraglich. 

Formelle Rahmenbedingungen

Die mit legislativen Rechten ausgestattete Nationalversammlung sieht 210 Parlamentssitze vor, von denen 140 indirekt gewählt und 70 vom Präsidenten Ahmed al-Sharaa direkt ernannt werden. Als Wahlsystem wurde ein zweistufiges Modell eingeführt. Zunächst werden auf Provinzebene Unterausschüsse gebildet, bestehend aus Vertreter*innen lokaler Eliten. Diese wählen dann sogenannte Wahlausschüsse mit je 30 bis 50 Mitgliedern pro Sitz, die wiederum intern über die zukünftigen Abgeordneten abstimmen. Die Wahlausschüsse sollen mit Fachleuten und lokalen Eliten besetzt werden, wobei mindestens 20 Prozent Frauen sein sollen. 

Am 23. August wurde zudem die Entscheidung verkündet, die von den kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) kontrollierten Provinzen Hasakeh und Raqqa sowie das von drusischen Selbstverwaltungsbestrebungen geprägte Suweida aufgrund von vermeintlichen Sicherheitsbedenken vorerst auszunehmen.

Der Vorsitzende der Obersten Kommission für die Parlamentswahlen ist Mohammed Taha al‑Ahmed. Al-Ahmed war als Agraringenieur beteiligt in der vom islamistischen Bündnis HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham) kontrollierten Region Idlib und übernahm nach dem Sturz Assads ab Dezember 2024 die Funktion des Ministers für Landwirtschaft und Agrarreform in der Übergangsregierung. Im Mai 2025 wurde er zum stellvertretenden Außenminister für arabische Angelegenheiten ernannt. Als Vorsitzendem der Obersten Kommission für die Parlamentswahlen kommt al-Ahmed nun eine machtvolle Stellung im Prozess zu: Er ist verantwortlich für die Ausarbeitung und Umsetzung des provisorischen Wahlsystems – darunter die Erweiterung der Parlamentssitze von ursprünglichen 150 auf 210, die Festlegung indirekter Wahlmechanismen über Unterausschüsse und Wahlausschüsse sowie die Einhaltung eines zeitlichen Ablaufs.

Gescheiterter Dialog und politische Spaltung

Die Wahlen sollen einen Schritt im Übergangsprozess und der politischen Transformation darstellen, eingebettet in den sogenannten Nationalen Dialog. Erwartungen an diesen Prozess, der zu Beginn des Jahres eingeleitet wurde, hat al-Sharaa von Anfang an nicht erfüllt. Vor allem Akteure der demokratischen Oppositionsbewegung unter Assad warfen ihm vor, die Beteiligten auf gegenüber der Übergangsregierung loyale Akteur*innen zu beschränken und oppositionelle, kurdische Vertreter*innen, unabhängige Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Gruppen und ihre Anliegen kaum zu berücksichtigen. Ergebnisse wurden vorweggenommen, die Dokumentation von Berichten und Schlussfolgerungen blieb intransparent. Dieser Mangel an wirklicher Einbeziehung und das Fehlen eines ergebnisoffenen demokratischen Dialogs deuteten zu dem Zeitpunkt bereits auf politischen Unwillen hin, die Diversität des Landes zu repräsentieren und einen integrativen und pluralen Prozess zuzulassen.

Im Lichte der verheerenden Geschehnisse in Suweida führten die SDF im August 2025 eine Konferenz in Hasakeh durch, mit Beteiligung jener Kräfte, die sich nicht im System al-Sharaa wiederfinden, unter ihnen der Drusenführer Hikmat al-Hijri. Die Konferenz übte deutliche Kritik an der zentralistischen politischen Ausrichtung und Praxis der Regierung und schuf Räume für oppositionelle Bewegung – woraufhin die Zentralregierung sie sogleich als massive Bedrohung und Untergrabung der nationalen Einheit wertete.

Ahmed al-Sharaa nahm unter anderem die Teilnahme al-Hijris zum Anlass, in Paris angesetzte Gespräche mit den SDF abzusagen. Diese waren als Teil der im März geschlossenen Vereinbarung zwischen SDF und Übergangsregierung ausgemacht worden, die unter anderem die institutionelle Eingliederung aller zivilen und militärischen Einrichtungen im Nordosten in den syrischen Staat sowie die gleichberechtigte politische Teilhabe und offizielle Anerkennung von syrischen Kurd*innen vorsah. Die Einigung schien von Beginn an auf wackligen Füßen zu stehen und war angesichts der gleichzeitigen und bis dahin engen Kooperation al-Sharaas mit der Türkei mit Vorsicht zu genießen, gab aber nichtsdestotrotz Anlass für vorsichtigen Optimismus und Hoffnung auf eine echte Öffnung von Damaskus für kurdische Interessen.

Die drastische Reaktion al-Sharaas in Form der Absage der Folgegespräche in Paris zog nun wiederum weitreichende Konsequenzen für die Ziele des ursprünglichen März‑Abkommens nach sich und sorgte für erneute Spannungen zwischen SDF und Zentralregierung. 

Die Rolle der Diaspora

Neben einer breiten Unterstützer*innenszene für al-Sharaa gibt es in Deutschland auch relevanter werdende syrische, darunter kurdische, Stimmen, die entweder von Beginn an kritisch und ablehnend waren oder sich zunehmend von den zentralistischen Motiven und fragwürdigen Praktiken der Übergangsregierung und ihrer Unterstützer*innen distanzieren. Sie wünschen sich einen pluralen demokratischen Prozess und versuchen, zu einer progressiven Transformation Syriens beizutragen. Ihre Perspektiven und alternativen Forderungen zu stärken und einzubinden, wäre für die derzeitige Dynamik elementar. Viele riskierten einst ihr Leben für eine freie syrische Gesellschaft – die scheinbare Instrumentalisierung demokratischer Prozesse durch eine Regierung, die nicht bereit ist, die Prinzipien von Inklusion und Pluralismus zu garantieren, stellt eine bittere Enttäuschung für sie dar.

Viele riskierten einst ihr Leben für eine freie syrische Gesellschaft – die Instrumentalisierung demokratischer Prozesse durch die Übergangsregierung stellt eine bittere Enttäuschung für sie dar.

Gleichzeitig trifft die Nachricht der anberaumten Parlamentswahlen bei vielen Syrer*innen in Deutschland auf eine Gemengelage, die bestimmt ist durch diverse Herausforderungen. Nach einem rassistischen Wahlkampf, den Wahlerfolgen von AfD und CDU bei den Bundestagswahlen und einer Aussetzung des Familiennachzugs (um nur einige Faktoren zu nennen) stehen sie einer zu großen Teilen feindseligen bis bedrohlichen deutschen Gesellschaft und einer Bundesregierung gegenüber, die ihnen permanent Unsicherheit vermittelt und kaum Handlungsspielräume für Selbstbestimmung und politische Teilhabe gewähren will.

Trotz einer hohen Zahl an Einbürgerungen hat die große Mehrheit der Syrer*innen in Deutschland bisher keine deutsche Staatsbürgerschaft erlangt und lebt in einer Zwangslage, die ihre gleichberechtigte Teilnahme an politischen Prozessen sowohl in Deutschland als auch in Syrien nahezu unmöglich macht. Immer noch werden ihnen Erkundungsreisen nach Syrien – etwa um Angehörige nach Jahren des Kriegs wiedersehen zu können, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen oder Dokumente zu erneuern – von deutscher Seite verwehrt, zumindest dann, wenn sie nicht ihren Aufenthalt in Deutschland riskieren wollen.

Gleichzeitig war bisher auch seitens des syrischen Präsidenten zumindest öffentlich nicht zu vernehmen, dass er sich bei den mehrfachen Treffen mit Vertreter*innen der Bundesregierung für die Interessen der syrischen Community stark gemacht hätte.

Eine hypothetische Teilnahme am ohnehin sehr selektiven syrischen Wahlprozess wäre für Individuen in der deutschen Diaspora also sehr voraussetzungsvoll und bliebe zu diesem Zeitpunkt jenen vorbehalten, denen die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft gelungen ist und die damit reisefähig sind und zudem über gültige syrische Papiere verfügen.

Autoritäres Manöver statt Verständigung

Die kurzfristige und unvermittelte Ankündigung der Wahlen nach den brutalen Auseinandersetzungen in Suweida, in deren Kontext auch Regierungsgruppen für massive Menschenrechtsverbrechen verantwortlich gemacht werden, wirft die Frage auf, was die Übergangsregierung mit diesem abrupten Schritt intendiert. Al-Sharaa versucht zwar sowohl international als auch innerhalb des Landes, sich als Vermittler darzustellen, ist aber mit massiven internen Spannungen und dem Verlust von staatlicher Kontrolle konfrontiert, während er jenseits der eigenen Klientel immer mehr an Glaubwürdigkeit einbüßt. Es entsteht der Eindruck, dass das Ausrufen von Wahlen in dieser Situation ein impulsiver, strategieloser Versuch ist, Kontrolle zu sichern, politische Interessen in einem zunehmend fragilen Kontext zu bündeln und den schwindenden Einfluss des Zentralstaats zu festigen.

Die unterschiedlichen Interessen und tiefen Konfliktlinien zwischen den verschiedenen syrischen Gruppen (Alawit*innen, Sunnit*innen, Kurd*innen, Drus*innen und andere) sollen durch symbolische Wahlen überdeckt werden, die weder einen echten demokratischen Prozess ermöglichen noch die nötigen Bedingungen für eine tatsächliche nationale Einigung schaffen. Im Licht der Gesamtsituation lässt sich die Ankündigung der Wahlen als ein autoritäres taktisches Manöver verstehen, das nationale Einheit erzwingen und Fakten für den weiteren Übergangsprozess schaffen soll und damit die verheerende und gewaltvolle sektiererische Dynamik zementiert.

Für Syrer*innen im Inland und außerhalb, die große Hoffnungen auf Veränderung hatten, sind die letzten Monate geprägt von massiver Gewalt und Angst vor der Zukunft. Fassungslos müssen sie mit ansehen, wie Syrer*innen einander umbringen und der Albtraum von Sektierertum und Blutrache Wirklichkeit wird.

Das Gebot der Stunde für al-Sharaa wäre es, Maßnahmen zu ergreifen, die die Sicherheit für alle in Syrien lebenden Gruppen und Menschen herstellen und sie vor brutaler Selbstjustiz und Menschenrechtsverbrechen schützen. Danach sieht es derzeit nicht aus, im Gegenteil. Die Demonstration von Seriosität, der nahezu als Drohgebärde dienende Anspruch nationaler Einheit und selbst die Strafverfolgung von Täter*innen und Gedenken an die Verbrechen des Assad-Regimes wirken im Gesamtbild performativ und zielen darauf ab, westliche Regierungen von der politischen Erneuerung Syriens zu überzeugen, durchaus mit Erfolg. Mit Blick auf die Wahlen wird sich bemüht, Legitimität aufzubauen, etwa durch die Einladung internationaler Beobachter*innen. Zentrale Forderungen wie Transparenz, inklusive Partizipation und Einbeziehung der Diaspora bleiben dennoch weitgehend unberücksichtigt.

Vor diesem Hintergrund macht der beschleunigte und kaum vorbereitete Ablauf der Wahlen unter Ausschluss von drei Regionen den Eindruck einer gezielten Machtdemonstration, die eine plurale und diverse politische parlamentarische Repräsentation untergraben soll. Sie sind ein halbherziger Versuch der Legitimation des Übergangsszenarios, das weiterhin undemokratische Strukturen reproduziert. Regionen mit selbstverwalteten Strukturen oder Autonomiebestrebungen bleiben politisch marginalisiert, das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Regierung wird so verstärkt. Das Agieren der Zentralregierung gleicht einem autoritären Neustart und verhöhnt die einstigen Ziele der syrischen Revolution, die für Würde, Freiheit und Gerechtigkeit eintrat.

Der politische Übergang in Syrien braucht als Rahmen- und Erfolgsbedingung für demokratischen Wahlen eine tiefgreifende Transformation, die auf der Anerkennung und Beteiligung aller politischen, ethnischen und religiösen Gruppen basiert. Ein inklusiver, transparenter und deeskalativer Beteiligungsprozess mit allen betroffenen Parteien und Akteur*innen wäre ein erster wichtiger Schritt. Ohne eine echte politische Öffnung, die die Souveränität des Staates mit den Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten vereinbart, werden die Parlamentswahlen einen Schritt in Richtung autoritärer Herrschaft markieren, der weitere sektiererische Gewalt und politische Fragmentierung nach sich zieht.

Charlotte Tinawi

war bis 2025 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dort unter anderem Referentin für die Länder Libanon, Syrien und Irak.