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Melonis Italien

Der starke Staat als Waffe im Klassenkampf von oben

Von Jens Renner

Ihrem Kabinett fällt es nicht schwer, sich als noch brutaler als die neuen EU-Pläne zur Geflüchtetenabwehr zu profilieren: Giorgia Meloni (hier im Oktober 2021). Foto: Wikipedia Commons, CC BY-ND 2.0

Schadenfreude bei der Opposition: Giorgia Melonis Italien sei in Europa isoliert, befand Ex-Premier Giuseppe Conte (Movimento Cinque Stelle/M5S). Die Regierenden dagegen waren sauer. Der Lega-Chef und Infrastrukturminister Matteo Salvini schimpfte, Frankreich und Deutschland sollten sich nicht einbilden, sie allein könnten Europa repräsentieren: Denn »ohne Italien geht es nicht«. Das fand auch Meloni, nachdem die Herren Macron, Scholz und Selenskyj bei ihrem Diner im Pariser Elysée-Palast lieber unter sich geblieben waren.

Tags darauf besserte sich die Laune der seit Ende Oktober amtierenden Ministerpräsidentin von der neofaschistischen Partei der Brüder Italiens (Fratelli d’Italia/FdI). Mit den am 10. Februar vom Europäischen Rat beschlossenen Verschärfungen der Migrationsabwehr sei sie »extrem zufrieden«. Mauern, Stacheldraht, Überwachungskameras, Kontrolltürme und noch mehr Schergen zur schnellen Abschiebung Geflüchteter – das ist ganz nach dem Geschmack der italienischen Regierung.

Zugleich fällt es Melonis Kabinett nicht schwer, sich als noch brutaler zu profilieren. So hat der parteilose Innenminister Matteo Piantedosi besonders perfide – und mutmaßlich illegale – Maßnahmen gegen private Rettungsschiffe eingeführt. Diese müssen mit den aus Seenot geretteten Menschen an Bord einen von den Behörden benannten Hafen ansteuern, dürfen aber auf dem Weg dorthin keine weiteren Schiffbrüchigen aufnehmen. Die angewiesenen Häfen liegen meist weit entfernt in Mittel- oder Norditalien, die Reise dauert länger, kostet mehr – und vor allem sind die Schiffe für weitere Einsätze erst einmal lahmgelegt. Verkauft wird das als Grenzsicherung und Verteidigung der »nationalen Souveränität« – letzteres ein gängiger Werbeslogan, der vor allem Unabhängigkeit in der Versorgung mit Lebensmitteln und Energie suggerieren soll. Autarkie, erklärtes Ziel des historischen Faschismus, dürfte aber in Zeiten des globalisierten Kapitalismus ein unhaltbares Versprechen und kaum geeignet sein, die Gemüter der rechten Klientel in Wallung zu bringen.

Ein »neues italienisches Selbstbild«

Zur Steigerung des nationalen Wir-Gefühls wird auch der Bildungssektor in die Pflicht genommen. So sollen die Schulen künftig Stolz auf die Leistungen nationaler Heroen vermitteln. Ziel ist laut FdI-Programm die Verankerung eines »neuen italienischen Selbstbildes«. Belastende Erinnerungen an die faschistischen Verbrechen stören da nur. Der 2004 auf Initiative von Berlusconis regierender Rechtskoalition eingeführte »Tag der Erinnerung« am 10. Februar dient exklusiv dem Gedenken an italienische Opfer: 1945, kurz vor Kriegsende und auch noch danach, starben zwischen 3.000 und 5.000 Italiener*innen bei Racheakten jugoslawischer Partisan*innen, Zehntausende wurden aus Istrien und Dalmatien vertrieben. Dass bei den Gedenkfeiern die Vorgeschichte – Italiens Angriffskrieg und Besatzungsterror – ausgeblendet wird, ist nicht neu. Jetzt droht diese höchst einseitige Geschichtspolitik Teil der italienischen Staatsdoktrin zu werden.

Zeichen setzt die Rechtskoalition auch mit demonstrativem Antifeminismus. Den Weg weist Meloni, die erste Frau an der Spitze einer italienischen Regierung. Auf ihre Klarstellung bei der Amtseinführung, sie sei »Präsident«, nicht Präsidentin des Ministerrats, folgte die Umbenennung des Familienministeriums, das jetzt auch für »Geburtenförderung« zuständig ist, letzteres im Rahmen der »natürlichen Ordnung«, der herkömmlichen Kleinfamilie. Zwar will die rechte Regierung bislang nicht, wie befürchtet, das Abtreibungsrecht verschärfen, aber schon unter der geltenden Gesetzeslage ist für viele Frauen, vor allem im Süden des Landes, eine Abtreibung nur unter größten Schwierigkeiten möglich. Der neuen Familienministerin Eugenia Roccella (FdI) reicht das nicht – in einem Fernsehinterview beklagte sie, dass Frauen »leider« ein Abtreibungsrecht hätten. Zumindest ideologisch gibt Melonis reaktionäres Bekenntnis zu »Gott, Vaterland, Familie« die Richtung vor.

Mit den Polizeiaufmärschen an Bahnhöfen könnte ein systematischer »Krieg gegen die Armen« begonnen haben.

Im Bereich der »inneren Sicherheit«, Herzensanliegen aller Verfechter*innen des starken Staates, geht die Regierung über Symbolpolitik hinaus. Am 16. Januar wurde an den Bahnhöfen von Rom, Mailand und Neapel die »Operation sichere Bahnhöfe« gestartet, in deren Rahmen in den folgenden drei Wochen 40.000 Personen von der Polizei kontrolliert wurden. Die Kampagne soll verstetigt und auf das ganze Land ausgedehnt werden, um den »Wert der Sicherheit sichtbar zu machen«, wie Meloni erklärte. Die linke Tageszeitung Il Manifesto befürchtet, dass mit den Polizeiaufmärschen an Bahnhöfen ein systematischer »Krieg gegen die Armen« begonnen hat.

Auch die Linke ist im Visier der Staatsmacht. Nachdem einige oppositionelle Parlamentarier*innen den hungerstreikenden Anarchisten Alfredo Cospito im Knast besucht hatten, war urplötzlich die »anarchistische Gefahr« wieder da – in der Version für politisch Verblödete: Anarchismus ist Terrorismus und Cospito der Anführer staatsfeindlicher Umtriebe. Das Ziel seines Hungerstreiks wird dabei zur Randnotiz: Aufhebung seiner Isolationshaft und Abschaffung des Paragrafen 41bis des Strafvollzugsgesetzes, der mit seinen unmenschlichen Strafen den Tatbestand der Folter erfüllt. Ursprünglich eingeführt wurde er, um einsitzenden Mafiabossen die Fortführung ihrer Geschäfte unmöglich zu machen. Nun werden Kritiker*innen des durch 41bis legitimierten Knastregimes in den regierungsnahen Medien als nützliche Idiot*innen der Mafia dargestellt.

Sezession der Reichen

Während sich die Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der rechten Regierung kaum von der ihrer Vorgängerinnen unterscheidet, soll es beim Umbau der Institutionen einen Bruch geben. Arbeitstitel hierfür sind die »differenzierte Autonomie« der Regionen und der »Presidenzialismo«, die Einführung eines Präsidialsystems zur Stärkung der Zentralregierung. Während letzteres ein langwieriger Prozess werden dürfte, sind die Pläne in Sachen Regionalismus schon konkret ausgearbeitet. Federführend ist Minister Roberto Calderoli von der Lega, die ganz offen die Förderung ihres Stammlandes im Norden betreibt. Kritiker*innen, darunter viele Bürgermeister*innen aus dem Süden, nennen das eine »Sezession der Reichen«. Diese widerspricht Artikel 3 der Verfassung von 1948, wo das genaue Gegenteil formuliert wird: »Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art abzuschaffen, welche tatsächlich die Freiheit und Gleichheit der Bürger einschränken …«

Gegen die Verfassung verstößt auch Italiens Militärpolitik; das tat sie allerdings schon unter Mario Draghi. Denn Artikel 11 beginnt mit dem Satz »Italien verwirft den Krieg als Mittel zur Verletzung der Freiheit der anderen Völker und als Mittel der Lösung internationaler Kontroversen …« Als Ziel definiert er »Frieden und Gerechtigkeit unter den Nationen« und endet ebenfalls mit einer Aufforderung zum Handeln: »Italien fördert und begünstigt internationale Organisationen, die diesem Zweck dienen …« Die Nato gehört offensichtlich nicht dazu. Sie ist aber – im Unterschied zur EU, mit der es, siehe oben, schon mal leichten Stress geben kann – Bezugspunkt dieser Regierung. Die Wertschätzung ist gegenseitig. Denn die größte Sorge der atlantischen Partnerstaaten war, dass Italien unter Meloni eine »russlandfreundliche« Politik betreiben könnte. Das hat sich erledigt, seit die Koalition für das laufende Jahr weitere Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen hat. Daran ändert sich auch nichts nach Berlusconis jüngstem Ausbruch gegen Selenskyj: Dieser sei eine »Marionette« der USA und massakriere in deren Interesse sein eigenes Volk. Meloni und Außenminister Antonio Tajani, Berlusconis Parteifreund, distanzierten sich umgehend.

Hoffnungen, die heterogene rechte Koalition werde an ihren internen Konflikten zerbrechen, scheinen derzeit gegenstandslos. Dafür sprechen auch die Ergebnisse der Wahlen in den wichtigen Regionen Lombardei (Mailand) und Lazio (Rom). Beim ersten Stimmungstest seit der Parlamentswahl im September erreichten die rechten Bündnislisten locker die absolute Mehrheit.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.