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|ak 679 | Rechte

Einschlafhilfe für die Nation

Die polnischen WOT-Einheiten jagen Geflüchtete, sie sollen so das kollektive Sicherheitsgefühl und den nationalen Zusammenhalt bestärken

Von Jos Stübner

Zentrale Feier zu Ehren der sogenannten Armee zur Territorialverteidigung, Wojska Obrony Terytorialnej, kurz WOT, 2018 in Warschau. Foto: Ministerstwo Spraw Wewnętrznych i Administracji/Flickr, Public Domain

Bewaffnete Reiter jagen im Galopp durch die Wildnis oder richten ihre Ferngläser über den Grenzfluss Bug gen Osten. Soldaten mit Nachtsichtgeräten patrouillieren vor der düsteren Kulisse einer stacheldrahtbewehrten Zaunanlage. Ein Priester segnet die aufgereihten Truppen während eines Feldgottesdienstes, und ein Lagerfeuer flackert zur weihnachtlichen Messe im Freien. Die Bilder, die in den vergangenen Monaten von der polnisch-belarussischen EU-Außengrenze in den polnischen sozialen Medien und darüber hinaus verbreitet wurden, waren martialisch, dystopisch, oft auch abenteuerlich-romantisierend. Zumeist handelte es sich um Aufnahmen von der sogenannten Armee zur Territorialverteidigung (Wojska Obrony Terytorialnej, kurz WOT).

30.000 Männer und Frauen

Diese paramilitärische Miliz ist neben dem Grenzschutz, der Polizei und dem regulären Militär an dem brutalen Kampf gegen Geflüchtete beteiligt, mit dem sich Polen seit dem vergangenen Sommer als östliches Bollwerk der Festung Europa präsentiert. Gegründet wurden die WOT-Einheiten 2016 von der rechtsautoritären Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Ihnen beitreten kann, wer die polnische Staatsbürgerschaft besitzt, über 18 ist und nicht vorbestraft. Mittlerweile gehören der Bürgermiliz über 30.000 Männer und Frauen an. Mit der Einführung der WOT kanalisierte die PiS-Regierung einen längerfristigen gesellschaftlichen Trend. Schießtraining und militärische Ertüchtigung sind in Polen ein beliebtes Freizeitvergnügen. Eine Entwicklung, die die Soziologin Weronika Grzebalska unter anderem auf den Verlust eines individuellen und kollektiven Sicherheitsgefühls unter den Bedingungen der postsozialistischen Transformation zurückführt. Nun können Zivilist*innen bei monatlichen Übungen und Einsätzen bei der WOT im Rahmen offizieller Strukturen ihre Leidenschaft für Uniformen und den Dienst an der Waffe ausleben. Im Gegensatz zu anderen Teilstreitkräften wie Heer oder Marine ist die Territorialwehr direkt dem Verteidigungsministerium unterstellt und nicht dem Generalstabskommando. Die PiS-Regierung hat sich damit eine kleine Hausarmee geschaffen.

Die militaristische Mobilisierung ist aufs Engste verknüpft mit der unter PiS forcierten nationalistisch-affirmativen Geschichtspolitik. Denn die der Territorialwehr zugrunde liegende Idee ist der Partisanenkampf, wie ihn die polnische Heimatarmee gegen die deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs führte oder verschiedene antikommunistische Untergrundeinheiten nach dem Ende des Kriegs gegen den sowjetischen Sicherheitsapparat und das pro-sowjetische polnische Regime. »Die Territorialwehrtruppen setzen die Mission und das Erbe der Heimatarmee fort. Die beiden Formationen trennt die Zeit, verbindet aber die Sorge um das Wohl des Vaterlandes«, heißt es in einer Erklärung. Wappen und Uniformabzeichen der WOT enthalten das historische Symbol des polnischen Untergrundkampfes, des sogenannten Kämpfenden Polen (PW). Und antikommunistische Partisanen dienen als Namenspatrone der verschiedenen WOT-Brigaden, darunter auch Protagonisten mit Verbindungen zu Organisationen, in denen extrem rechte, antisemitische Positionen stark verbreitet waren.

Bewaffnete Freizeitarme

»Immer bereit, immer nah!« lautet das Motto der WOT.  Einsatzbereitschaft und Bürgernähe stellte die Miliz zunächst vor allem bei zivilen Aufgaben unter Beweis, etwa im Rahmen der Katastrophenhilfe bei Überschwemmungen oder Sturmschäden. Als Instrument der Staatsgewalt mit exekutiven Befugnissen traten die WOT dann während der Corona-Pandemie in Erscheinung. Die polnische Regierung begegnete der Krise im Frühjahr 2020 zumindest anfänglich mit besonders rigiden, autoritären und zugleich plakativen Maßnahmen. WOT-Patrouillen durften Ausgangsbeschränkungen und Aufenthaltsverbote im öffentlichen Raum überwachen. Bei der Kontrolle der vorübergehend geschlossenen Grenzübergänge zeigte sich die Bürgermiliz nun auch erstmals mit der Waffe in der Hand im Einsatz.

Als die PiS-Regierung ab dem Sommer 2021 auf verstärkte Fluchtbewegungen von Belarus nach Polen mit großer Härte und einer erbarmungslosen Abschottungspolitik reagierte, wurde bald auch die Territorialwehr in Alarmzustand versetzt. Inzwischen ist die Miliz fester Bestandteil der Jagd auf Geflüchtete im Grenzgebiet und für ihre Skrupellosigkeit gefürchtet. Geflüchtete berichten von der besonderen Brutalität der WOT-Einheiten. Auch Aktivist*innen und Journalist*innen wurden von den bewaffneten Freizeitsoldat*innen ohne rechtliche Grundlage aufgegriffen und eingeschüchtert.

Über das Problem der WOT-Miliz informierten zuletzt Politiker*innen der deutschen Linkspartei, die Mitte Januar nach Polen reisten, um sich mit Aktivist*innen vor Ort auszutauschen. »Geh in eine Nachbarschaft, wo viele Nazis leben, gib ihnen Uniformen und eine Waffe, und sag ihnen, ihr seid jetzt eine Armee«, gibt die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel sinngemäß die Einschätzung von Flüchtlingshelfenden aus der Grenzregion wieder. Wenngleich politische Gruppierungen oder rechtsextreme Kaderorganisationen nicht als solche der WOT beitreten können, so gibt es doch kaum Zweifel daran, dass die paramilitärische Formation für ein an Waffen, Gewalt und patriotischer Hingabe interessiertes Klientel besonders attraktiv ist. Hinzu kommt, dass die an der Grenze zu Belarus gelegene Podlasie-Region als Hochburg der extremen Rechten in Polen gilt. »Immer bereit, immer nah!« klingt vor diesem Hintergrund wie eine Drohung.

»Wir sind auf der Wacht«

Die Stilisierung der Geflüchtetenabwehr zum Kriegseinsatz für Vater- und Abendland nimmt nicht selten bizarre Formen an. Eine Postkartenkampagne ermöglicht es der Bevölkerung, den Soldat*innen im Osten zu danken. Eine martialisch-rassistische Bilderserie ist das verstörende Ergebnis eines Malwettbewerbs für Kinder zu Ehren der Truppen. Anfang Dezember organisierte das staatliche Fernsehen für die polnischen Streitkräfte eine Galashow mit internationalen Altstars. Lou Bega hatte für seinen Auftritt den Spruch «Ich danke für die Verteidigung unserer Grenze« auf Polnisch auswendig gelernt. Das Spektakel war Teil der Aktion »Ich stehe hinter den polnischen Uniformierten«, einer Losung, die auf nationale Loyalität im simulierten Kriegszustand abzielt und Widerspruch als antinationales Abweichlertum markiert. Im Rahmen dieser Inszenierung kommt den WOT-Milizen eine besondere Funktion zu. Lanciert wird eine Erzählung des aufopferungsvollen Bürgers in Uniform, gleichermaßen Ausdruck der patriotischen Selbstwehr aus der Mitte der Nation wie auch patriarchal die schützende Hand über diese haltend. »Ihr könnt beruhigt schlafen – wir sind auf der Wacht!«, lautet eine abendliche Botschaft auf den Social-Media-Kanälen der WOT.

Am tatsächlichen militärstrategischen Nutzen einer Formation wie den Territorialwehreinheiten gibt es in sicherheitspolitischen Kreisen im Übrigen durchaus Zweifel. Die eigentliche Bedeutung der Miliz ergibt sich aus ihrer Wirkung nach innen: als Teil der nationalistisch-militärischen Formierung der Gesellschaft und als Repressionsinstrument. Dennoch sind jene Stimmen aus der Opposition, die eine Auflösung der WOT fordern, im Gegensatz zur Anfangszeit seltener geworden. Die Strukturen der WOT sind etabliert. Der zivile Einsatz und die Präsenz im Grenzgebiet haben zur Profilierung beigetragen. Letztlich ist das Schicksal der Miliz aber vor allem mit der gegenwärtigen Regierung verknüpft. Sollte die PiS-Partei bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr ihre Regierungsmehrheit verlieren, worauf derzeit manches hindeutet, würde sich auch die Frage nach dem Umgang mit den WOT-Milizen und der allgemeinen gesellschaftlichen Militarisierung neu stellen.

Jos Stübner

ist Historiker und lebt in Warschau.